CLAIRE
Als sie sich zu dritt dem Spielplatz von Joshuas neuer Schule nähern, tastet Claire mit den Fingerspitzen nach der empfindlichen Stelle an ihrem Kopf, mit der sie auf dem Boden aufgeschlagen ist, nachdem sie von der Leiter gefallen war. Seit dem Raubüberfall ist eine Woche vergangen, und Joshua ist jede Nacht aufgewacht und hat nach ihr gerufen. Obwohl Jonathan jedes Mal versucht, ihn zu trösten, reicht das nicht. Er muss seine Mutter sehen und bringt seinen Vater dazu, mit ihm zum Schlafzimmer zu gehen, in dem seine Mutter liegt. Er muss in ihr Bett klettern und sein Gesicht ganz nah an ihres bringen. „Du bist hier“, sagt er und beruhigt sich langsam. Er klingt, als wäre er überrascht, dass die beiden Diebe aus dem Buchladen seine Mutter im Laufe der Nacht nicht gestohlen haben. Während des Tages hat er Angst, seine Mutter aus den Augen zu lassen, und bleibt immer in ihrer Nähe, ein Schatten, der ihr überallhin folgt.
„Mach dir keine Sorgen“, versucht Claire ihren Sohn zu beruhigen, ist jedoch selbst verunsichert. Seit dem Überfall hat sie es noch nicht über sich gebracht, in den Buchladen zurückzukehren, und verlässt sich ganz darauf, dass Virginia ihn tagsüber für ein paar Stunden öffnet.
Jonathan zieht die Tür des alten roten Backsteingebäudes auf, und eine stickige Hitze schlägt ihnen entgegen, die Claire an ihre eigene Schulzeit in einem beinahe identischen Gebäude nur ein paar Meilen von hier entfernt erinnert.
„Wer wird dich beschützen?“, fragt Joshua und schaut ängstlich zu seiner Mutter auf. Seine Augen sind müde und rot von einer weiteren schlaflosen Nacht. Claire und Jonathan schauen einander besorgt an. Sie haben darüber gesprochen, mit Joshua zu einem Arzt, einem Therapeuten, zu gehen. Zu jemandem, der ihn von seinen Ängsten befreien kann.
„Ich stelle noch eine weitere Kraft für den Buchladen ein, Joshua“, erklärt Claire ihm. Sie versucht, unbesorgt zu klingen. „Auf die Weise bin ich bei der Arbeit nie allein.“
„Du bist trotzdem verletzt worden, obwohl ich da war“, erinnert er sie.
„Wir bauen eine Alarmanlage ein, Josh“, versichert ihm Jonathan. „Wenn böse Männer kommen, wird der Alarm sie zu Tode erschrecken und die Polizei wird kommen.“
Joshua nickt ernst. Er muss darüber eine Weile nachdenken. „Wie heißt das hier?“, fragt er zum dritten Mal an diesem Morgen, als sie durch die leeren, stillen Flure der Woodrow Wilson Elementary School gehen.
„Das ist die Wilson School“, sagt Jonathan und versucht, ihn an die Hand zu nehmen. Joshua zieht sie weg und schiebt seine Finger in Claires schweißnasse Hand.
„Die ist ganz schön groß.“ Verunsichert blickt Joshua sich um.
„Sei nicht traurig“, versucht Jonathan, ihn aufzumuntern. „Es wird dir hier gefallen.“
„Ich gehe nicht zur Schule“, sagt er mit einer Endgültigkeit, die Claire inzwischen nur zu gut kennt.
Die Kelbys haben den offiziellen Registrierungstag der Schule verpasst, der vor drei Tagen stattgefunden hat. Sie hatten vorgehabt, hinzugehen, waren ins Auto gestiegen, die fünf Straßenblocks gefahren, auf den Schulparkplatz eingebogen. Aber das war für Joshua alles viel zu überwältigend gewesen. Massen an aufgeregten, ungestümen Kindern aller Altersklassen, und ihre Familien strömten in das Gebäude hinein und aus ihm heraus. Verängstigt hat Joshua sich an seinen Kindersitz geklammert und sich geweigert, das Auto zu verlassen. Also sind sie direkt wieder nach Hause gefahren. Nachdem sie im Haus waren, überprüfte Joshua, ob auch alle Türen abgeschlossen waren.
Ein kleiner Junge sollte sich keine Sorgen darüber machen, ob die Türen verriegelt sind, denkt Claire, als sie vor einem Klassenzimmer haltmachen. Ein Kind sollte sich nicht darum sorgen, dass seine Mutter in Sicherheit ist.
„Du musst Joshua sein“, sagt eine Frau, die an die Tür kommt, laut, aber freundlich. Claire spürt, wie Joshua neben ihr zusammenzuckt. „Ich bin Mrs Lovelace.“ Sie streckt Joshua die Hand hin, vor der er jedoch zurückscheut, sodass Jonathan sie für ihn ergreift.
„Schön, Sie kennenzulernen“, sagen Jonathan und Claire. Mrs Lovelace scheint Mitte fünfzig zu sein, was Claire zu der Vermutung veranlasst, dass sie eine erfahrene Lehrerin ist. Sie hat kurze, drahtige graue Haare und scharfe blaue Augen, denen wenig zu entgehen scheint. Claire sucht in Mrs Lovelaces Gesicht nach irgendeinem Anzeichen dafür, dass sie ein Herz für schüchterne, verängstigte Kinder wie Joshua hat, die ein wenig mehr Hilfe brauchen, um sich in der völlig neuen Welt der Vorschule zurechtzufinden.
„Joshua ist wegen des Schulanfangs ein wenig nervös“, erklärt Claire und legt ihrem Sohn eine Hand auf die Schulter.
„Zusammen kriegen wir das schon hin, nicht wahr, Joshua?“ Mrs Lovelace beugt sich zu ihm hinunter, und Joshua versteckt sich hinter Claire und drückt sein Gesicht in ihren unteren Rücken.
„Joshua.“ Claire versucht, sanft und geduldig zu klingen. „Mrs Lovelace spricht mit dir.“ Er löst sich von ihr und schlendert langsam in die Klasse und auf einen Stapel Pappblocks zu, die aussehen wie Backsteine.
„Geh nur und bau etwas daraus“, ermuntert Mrs Lovelace ihn. „Ich spreche noch einen Augenblick mit deiner Mom und deinem Dad.“ Joshua sieht zögerlich aus, aber nach einem ermutigenden Nicken von Mrs Lovelace fängt er an, die Steine im Kreis nebeneinanderzulegen, sie aufeinanderzustapeln und so eine rostrote Mauer um sich herum zu errichten.
„Oh Joshua, hast du ein Babyfoto von dir mitgebracht, das wir an die Pinnwand hängen können?“, ruft Mrs Lovelace zu ihm hinüber.
Joshua ist so damit beschäftigt, seine Mauer zu bauen, dass er Mrs Lovelace nicht zu hören scheint. Claire kaut nervös auf ihrer Unterlippe herum. „Hier, bitte schön“, sagt sie und reicht der Lehrerin eine Kopie des ersten Fotos, das sie gemacht hat, nachdem sie Joshua aus dem Krankenhaus mit nach Hause genommen haben. Darauf hält Jonathan breit grinsend seinen kleinen Sohn, dessen aufgerissene Augen verraten, dass er kurz davor ist, loszubrüllen. Seine Unterlippe hat er zu einer ganz bezaubernden Schippe verzogen.
„Oh, was für ein schönes Foto, Joshua“, ruft Mrs Lovelace und geht zu Joshuas Mauer hinüber. „Wem siehst du ähnlich? Deiner Mutter oder deinem Vater?“
„Ich bin budoptiert“, sagt Joshua und linst hinter den Pappsteinen hervor.
Mrs Lovelace nimmt den Faden sofort auf. „Und deine Mom und dein Dad haben dich ausgesucht! Was für ein Glück sie hatten!“ Sie tritt näher an die Kartonburg heran und fragt freundlich: „Darf ich dir Gesellschaft leisten, Joshua?“
Joshua überlegt einen Moment lang. „Nein, danke“, erwidert er dann höflich und legt einen weiteren Stein auf seine Mauer, womit er das Gesicht der Lehrerin vollkommen aus seinem Sichtfeld verbannt.
Mrs Lovelace versucht es noch einmal. „Ich sehe, dass du gern Sachen baust, Joshua. Ich würde dir wirklich gern helfen.“ Sie nimmt den obersten Stein weg, damit sie sein Gesicht wieder sehen kann.
Joshua erschrickt sich und stößt aus Versehen einige Steine um, was dazu führt, dass das ganze Gebilde um ihn herum zusammenstürzt. „Oh nein!“ Er stöhnt verzweifelt auf, als er den Steinhaufen zu seinen Füßen sieht.
„Ach Joshua“, versucht Mrs Lovelace ihn zu beruhigen. „Das ist schon okay. Wir können es wieder aufbauen. Siehst du?“ Sie fängt an, die Steine wieder aufeinanderzulegen. Joshua schnieft ein wenig, macht dann aber mit, die Mauer neu aufzubauen. Innerhalb weniger Minuten ist er wieder sicher hinter den Pappsteinen versteckt.
Mrs Lovelace führt Jonathan und Claire zu einem Tisch, der von außergewöhnlich kleinen Stühlen umgeben ist, und bittet sie, Platz zu nehmen. „Erzählen Sie mir von Joshua“, sagt sie.
„Joshua ist ein sehr süßer, fürsorglicher kleiner Junge, aber er kann manchmal sehr ängstlich sein. Vor allem wenn er gebeten wird, etwas Neues auszuprobieren“, gibt Claire zu. „Manchmal scheint es, als wäre er in seine eigene kleine Welt abgetaucht, und es ist dann manchmal schwer, ihn da wieder rauszuholen.“
„Das ist bei einem Kind im Vorschulalter nicht ungewöhnlich, Mrs Kelby“, versichert Mrs Lovelace. „Ich verspreche, ein Auge auf ihn zu haben und Sie sofort zu informieren, wenn irgendwelche Probleme auftreten.“
„Joshua hatte außerdem kürzlich ein sehr traumatisches Erlebnis.“ Claire versucht, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken. Jonathan hält ihr die Hand. „Letzte Woche wurde ich in meinem Buchladen überfallen, und Joshua war dabei und hat alles gesehen. Es hat ihm – und auch mir – fürchterliche Angst gemacht.“ Claire schüttelt den Kopf bei der Erinnerung an die Diebe und das Glitzern des Messers in der Hand des großen Jungen.
„Die Polizei hat sie noch nicht gefasst“, fährt Jonathan fort. „Und Joshua macht sich Sorgen, wenn er nicht ständig bei Claire ist. Er hat das Gefühl, sie beschützen zu müssen.“
Mrs Lovelace runzelt besorgt die Stirn. „Danke, dass Sie mir das erzählt haben. Lassen Sie uns abwarten, wie Joshua die ersten Tage in der Schule übersteht, und uns dann noch einmal zusammensetzen. Wir können jederzeit den Schulpsychologen einschalten, wenn das nötig sein sollte. Alle Vorschüler brauchen eine gewisse Zeit, sich hier einzugewöhnen, und manche ein wenig länger als andere.“ Sie steht auf und geht zu Joshua hinüber, der in seiner Festung sitzt. „Es war schön, dich kennenzulernen, Joshua“, sagt sie.
„Auch schön, Sie kennenzulernen“, erwidert er kaum hörbar.
Mrs Lovelace richtet ihre Aufmerksamkeit wieder auf Claire und Jonathan. „Es war auch schön, Sie kennenzulernen, Mr und Mrs Kelby. Wenn Sie Lust haben, als Begleitperson an einem unserer unglaublichen Vorschulausflüge teilzunehmen, lassen Sie es mich wissen.“ Deutlich lauter sagt sie dann: „Diesen Herbst werden wir die Feuerwache, die Apfelplantage und das Kürbisfeld besuchen. Im Winter gehen wir auf dem Hügel hinter der Schule Schlitten fahren und machen Lebkuchenhäuschen. Und im Frühling kommt der beste Ausflug von allen!“
„Oh, was denn für einer?“, will Claire wissen.
„Das verraten wir am ersten Schultag. Dieser Ausflug ist einfach zu besonders.“ Die drei schauen verstohlen zu Joshua hinüber. Er sitzt immer noch hinter der Mauer, aber seine Zehen in den Sandalen schauen hervor und schieben sich langsam vorwärts.
„Hm, ich schätze, dann müssen wir wohl bis dahin warten, um es zu erfahren. Komm, Josh“, sagt Jonathan. „Was sagst du zu Mrs Lovelace dafür, dass sie dich mit diesen tollen Steinen hat spielen lassen?“
„Danke“, kommt Joshuas schüchterne Antwort.
„Gern geschehen, Joshua“, sagt Mrs Lovelace warmherzig. „Die Steine warten an deinem ersten Schultag hier auf dich.“
Jonathan streckt Joshua die Hand hin, um ihm vom Boden aufzuhelfen, aber Joshua ignoriert sie und steht allein auf. Dann geht er seinen Eltern voraus aus dem Klassenzimmer. Seine Schritte hallen von dem frisch gebohnerten Fußboden wider. Er geht langsam, den Kopf gesenkt, seine Schultern streifen die bunt gestrichene Betonwand.
„Oh Josh“, flüstert Claire, wohl wissend, dass er sie nicht hören kann. „Alles wird gut.“