ALLISON
Ich fange mit dem Telefonbuch an und suche den Namen Tullia. Es gibt nur einen Eintrag, eine Reanne Tullia, die drüben auf der Higgins Street wohnt. Keinen Christopher.
Ich denke an Charm Tullia, Christophers kleine Schwester. Charm, ihr Stiefvater und Christopher sind neben Brynn und mir die einzigen Menschen, die von Joshua wissen. Wie hieß der Stiefvater noch mal mit Nachnamen? Ich erinnere mich, wo sie fünf Jahre zuvor gewohnt haben, aber ich habe keine Möglichkeit, dahin zu kommen, sollten sie immer noch dort leben. Ich muss mit ihnen sprechen. Traue ich mich, diese Reanne Tullia anzurufen? Ich schätze, es kann nicht schaden. Ich könnte einfach nach Christopher oder Charm fragen und mehr nicht. Oder? Ich atme tief durch und fange an, mit zitternden Händen Reanne Tullias Nummer zu wählen. Dann lege ich auf.
Ich versuche, ein paar Informationen zusammenzutragen, und dann gehe ich zu Devin, verspreche ich mir selbst. Tief im Inneren weiß ich, dass das gefährlich ist, sogar dumm. Aber trotzdem nehme ich den Hörer wieder in die Hand und wähle die Nummer, die ich inzwischen auswendig kenne. Es klingelt und klingelt und klingelt, und gerade als ich auflegen will, hört das Klingeln auf.
Hier im Gertrude House lerne ich, geduldig zu sein. Die Frauen hier lassen mich endlich in Ruhe. Ich schätze, nachdem ich nicht total ausgeflippt bin, als ich die ganzen Puppen gefunden habe, die sie in jedem Eimer und jeder Toilette versenkt hatten, haben sie die Lust daran verloren, mich zu terrorisieren. Trotzdem ignorieren die meisten von ihnen mich noch, außer Olene und Bea und manchmal auch Tabatha.
Bea kann toll erzählen, aber auch gut zuhören. Manchmal spricht sie stundenlang über ihre vier Kinder, die zwischen zwölf Jahren und neun Monaten alt sind. Sie wohnen bei ihrer Schwester in einer Stadt, die mit dem Auto ungefähr eine halbe Stunde von hier entfernt ist. Sie erzählt mir, dass ihr Ältester, ein Junge, ein so guter Schüler ist, dass er schon mehrere Auszeichnungen erhalten hat, und außerdem ist er der Starpitcher des Baseballteams. Und ihre drei Mädchen sind sowieso die Klügsten und Süßesten.
„Hast du sie in letzter Zeit mal gesehen?“, frage ich, während wir das Abendessen vorbereiten. „Können sie dich hier besuchen kommen?“
Bea schüttelt den Kopf und gibt eine Handvoll Nudeln ins kochende Wasser. „Nein. Ich will noch nicht, dass sie mich sehen. Ich bin dazu noch nicht bereit.“
„Wofür musst du bereit sein?“, will ich wissen. „Du bist aus dem Gefängnis raus, sie sind in der Nähe. Ich bin sicher, sie sehnen sich danach, dich zu sehen.“
„Vielleicht“, erwidert Bea. „Aber ich will erst sichergehen, dass ich die Mom bin, die ich sein soll. Ich will gesund sein. Ich will, dass sie stolz auf mich sind.“
„Du bist ihre Mutter … natürlich werden sie stolz auf dich sein“, versichere ich ihr.
Erneut schüttelt sie den Kopf. „Ich bin high auf dem Elternabend meiner Tochter erschienen, als sie in der zweiten Klasse war. Ich bin durch den Raum getorkelt und habe auf die Schuhe der Lehrerin gekotzt. Da war sie ganz sicher nicht stolz auf mich. Ich will sicher sein, dass ich trocken und clean bleibe und einen guten Job habe. Dann und erst dann werde ich meine Kinder wiedersehen.“
„Ich weiß nicht“, werfe ich ein. „Meine Eltern zum Beispiel wirkten nach außen wie Eltern, auf die jedes Kind stolz sein sollte. Aber sie schienen sich nicht sonderlich für uns zu interessieren.“ Ich öffne den Kühlschrank und hole das Salatdressing heraus. „Geh und besuch deine Kinder, Bea. Alles, was sie wirklich wollen, ist, mit dir zusammen zu sein, zu wissen, dass du dich wirklich dafür interessierst, wer sie sind und was sie tun. Das ist genug.“
„Es ist nicht der richtige Zeitpunkt.“ Bea sagt das auf eine Weise, die mir verrät, dass ich das Thema fallen lassen soll, aber ich kann nicht.
„Meinst du, sie erinnern sich an dich?“, frage ich. „Ich meine, deine Jüngste? Du hast sie seit ihrer Geburt nicht mehr gesehen. Glaubst du, sie weiß auf irgendeine Art, wer du bist?“
Bea lacht. „Guter Gott, ich hoffe nicht. Das arme Kind ist im Gefängnis geboren worden.“ Dann fügt sie etwas ernsthafter hinzu: „Ich hoffe, dass sie keine Erinnerung an diesen grauenhaften Ort hat. Meine Schwester war meinen Kindern eine gute Mutter. Ich will auch wieder ihre Mutter sein, aber vielleicht muss ich mich mit weniger zufriedengeben. Wer weiß, vielleicht wird ihnen die Vergangenheit egal sein, vielleicht freuen sie sich darauf, mich wieder kennenzulernen. Die Zeit wird es zeigen.“ Bea fischt mit einer Gabel ein paar Nudeln aus dem Wasser. Mit den Fingern nimmt sie sie und wirft sie gegen die Küchenwand, wo sie kleben bleiben. „Ich weiß nie, ob sie kleben bleiben oder herunterfallen sollen, wenn sie gar sind. Ach, egal.“ Sie gießt die Nudeln ab und ruft dann laut: „Essen ist fertig.“
Ich wünschte, es wäre genug für Brynn. Dass wir uns wieder annähern, meine ich. Dann hätte das, was vor fünf Jahren passiert ist, keine so große Bedeutung mehr. Brynn war immer so stolz auf mich; sie hat zu mir aufgesehen. Das will ich wiederhaben. Ich will, dass sie wieder stolz auf mich ist.
Nein, nicht mal stolz. Ich möchte nur, dass sie mich mag. Ich möchte ihr mehr darüber erzählen können, wie ich Joshua wiedergefunden habe, wie sehr er Christopher ähnelt, aber meine Haare hat. Wie Joshua mich auf gewisse Weise an sie erinnert. In seiner Art, Tiere zu lieben, und wie einige Dinge genau so und nicht anders sein dürfen. Und ich möchte, dass Brynn mir von ihrem Leben erzählt. Wie die Vorlesungen an ihrer Schule sind. Ob sie einen Freund hat. Ob unsere Eltern sie genauso verrückt machen wie mich. Ich will Brynn eine Schwester sein, etwas, worin ich nie sonderlich gut war. Aber jeder verdient eine zweite Chance. Sogar ich. Oder nicht?