CHARM
Im Krankenhaus dauert es länger. Charm versucht, Gus anzurufen, um ihn wissen zu lassen, dass sie so bald wie möglich nach Hause kommt, doch er geht nichts ans Telefon. Als sie ihn an diesem Morgen verlassen hat, schien es ihm noch gut zu gehen. Mittags hat sie mit ihm gesprochen und gedacht, dass er müde klingt. Er wünschte sich Kartoffelmus zum Abendbrot. Charm drückt während der Fahrt immer wieder auf Wahlwiederholung, aber es geht einfach niemand ran. Mit quietschenden Bremsen hält sie auf der Einfahrt vor dem Haus, reißt die Tür auf und findet einen Haufen von Gus’ Gartenwerkzeugen auf der Erde neben seinen Blumenbeeten.
„Gus!“, ruft sie verzweifelt und öffnet die Hintertür. „Gus! Ist mit dir alles in Ordnung?“ Charm läuft durch das kleine Haus, stößt die Tür zu seinem Zimmer auf und findet ihn dort schlafend in seinem Bett. Seine Brust hebt und senkt sich, sein Atem geht rasselnd.
Still zieht sich Charm ins Wohnzimmer zurück und lässt sich aufs Sofa fallen. Es ist das gleiche Sofa, das schon bei ihrem Einzug hier stand. Die Kissen sind etwas durchgesessen, und der blaugrün karierte Stoff ist verblichen und abgenutzt. Aber die Couch ist bequem und riecht nach Zuhause. Charm ist so müde. Zu müde, sich Gedanken über Gus und die Schule zu machen. Sie legt sich hin, zieht eine Decke über sich und schließt die Augen. Sie ist erst einundzwanzig und fühlt sich uralt, als wenn ihre Knochen brüchig wären und sie graue Haare hätte. Das Telefon klingelt, und sie ist zu müde, um aufzustehen. Soll der Anrufbeantworter rangehen, sagt sie sich. Ich hab keine Lust.
„Ich wollte nur mal fragen, wie es euch geht.“ Die Stimme ihrer Mutter erfüllt den Raum. Sie klingt unschuldig, geradezu besorgt. Aber über die Jahre hat Charm gelernt, dass nichts, was ihre Mutter sagt oder tut, unschuldig ist. Reanne plappert ein wenig über ihre Arbeit und Binks. Erstaunlicherweise sind sie immer noch zusammen. Sie verabschiedet sich mit einer Einladung zum Essen für nächste Woche. „Ich muss die nächsten vier Abende arbeiten, aber Montagabend haben Binks und ich beide frei. Wir fänden es toll, wenn du zum Essen zu uns kommen würdest. Nichts Besonderes, einfach nur so.“
Charm überlegt, den Hörer abzunehmen, bevor ihre Mutter auflegt, um die Unterhaltung mit ihr hinter sich zu bringen, aber dann entscheidet sie sich dagegen. Wenn alles normal ist – zumindest so normal, wie es in ihrer Familie sein kann –, dann wird Reanne nicht zurückrufen. Aber wenn sie ein weniger unschuldiges Motiv hat, wird sie sich innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden ein zweites Mal melden. Beinah sofort klingelt das Telefon erneut. Aus Angst, dass das laute Geräusch Gus aufwecken könnte, geht Charm dieses Mal ran.
„Charmie“, begrüßt ihre Mutter sie zärtlich.
„Hi, Mom“, erwidert sie und versucht, ähnlich begeistert zu klingen wie ihre Mutter.
„Ich habe dich gerade angerufen, du bist aber nicht rangegangen.“ Ihre Mutter klingt verletzt.
„Tut mir leid, ich bin in dieser Minute erst nach Hause gekommen und hatte noch keine Zeit, die Nachrichten auf dem Anrufbeantworter abzuhören.“
„Hör mal, kannst du Montagabend zum Essen kommen?“, fragt Reanne.
„Oh, äh“, stottert Charm, um Zeit zu gewinnen. „Da muss ich erst in meinem Dienstplan vom Krankenhaus nachsehen. Im Moment sind meine Schichten da wirklich verrückt.“ Charm legt den Hörer beiseite, geht zum Kühlschrank und holt sich eine Dose Limonade heraus. Sie öffnete sie, trinkt einen Schluck und geht langsam zum Telefon zurück. „Mom, hey, tut mir leid. Es sieht so aus, als wenn ich arbeiten müsste. Ich fange da gerade meine neue Schicht auf der Nervenstation an. Vielleicht ein andermal.“ Charm hält sich den Handrücken vor den Mund, um ein Aufstoßen zu unterdrücken.
„Guck noch mal in deinen Plan. An welchem Abend hast du frei?“ Ihre Mutter bleibt hartnäckig.
„Die nächsten Wochen sind echt ziemlich voll. Wie wäre es an Thanksgiving?“, schlägt Charm vor.
Ihre Mutter denkt darüber nach. „Das ist in zwei Monaten. Ich hatte wirklich gehofft, dich früher zu sehen. Es ist einfach schon zu lange her. Außerdem habe ich gute Neuigkeiten, die ich mit dir teilen möchte.“
Frag nicht, frag nicht, ermahnt Charm sich im Stillen. „Was denn für welche?“, will sie dann aber doch wissen.
„Nein, da musst du schon warten“, neckt ihre Mutter sie. „Also sag mir einen Abend, an dem du Zeit hast, und Binks und ich werden unsere Pläne entsprechend anpassen.“ Siehst du, wie flexibel ich bin und wie unbeugsam du bist, scheint ihr Tonfall zu sagen.
„Okay, wie wäre es dann mit heute?“, zahlt Charm es ihr direkt heim.
„Heute? Aber das ist so schrecklich kurzfristig.“
„Heute Abend habe ich frei, Mom“, erklärt Charm geduldig. „Danach bin ich für die nächsten drei Wochen ziemlich ausgebucht.“
„Na gut, meinetwegen“, gibt Reanne genervt nach.
„Was soll ich mitbringen?“ Charm ist überrascht, dass ihre Mutter sie wirklich sehen will.
„Wie wäre es mit einem Nachtisch? Komm so gegen sieben vorbei. Ich habe bis dahin noch eine ganze Menge zu tun.“ Sie klingt aufgeregt, wie ein kleines Kind, das seine Geburtstagsparty vorbereitet.
„Mom, ich bin’s nur. Du musst nichts Tolles machen“, sagt Charm.
„Unsinn. Ich sehe dich sowieso schon viel zu selten. Ich will, dass der heutige Abend etwas Besonderes wird.“
Das ist das Ding mit Mom, denkt Charm. Sie sagt diese unglaublich einfachen, süßen Sachen, und man spürt, dass sie sie so meint. Das wirft Charm jedes Mal aus der Bahn. Sie will diese Nettigkeiten in ihrem Herzen bewahren, um sie zu einem späteren Zeitpunkt wieder hervorholen zu können.
„Oh, bevor ich es vergesse“, sagt Reanne. „Dein Bruder hat angerufen. Hat Gus dir das erzählt?“
„Er hat etwas in der Art erwähnt“, erwidert Charm spontan.
„Er klang sehr seltsam. Er meinte, er müsse mir etwas über dich erzählen. Weißt du, was er damit meint?“
„Nein.“ Das ist alles, was sie herausbringt, nachdem ihr Herz mehrere Schläge ausgesetzt zu haben scheint.
„Wir sehen uns um sieben, Süße.“
Charm steht da, hält den Telefonhörer in der Hand und versucht, nicht zu weinen, als Gus ins Zimmer kommt. Er sieht ausgeschlafen und gesund aus mit seiner rosafarbenen Haut.
Schuldbewusst erzählt Charm ihm von dem Abendessen bei ihrer Mutter.
„Natürlich solltest du gehen, Charm“, sagt er. „Sie ist deine Mutter. Du solltest Zeit mit ihr verbringen.“
„Mit dir macht es aber viel mehr Spaß“, versichert Charm ihm. „Und außerdem bist du netter.“
„Vielleicht.“ Er drückt ein Taschentuch an seine Lippen und hustet. „Aber ich werde nicht für immer da sein.“
„Gus“, warnt Charm ihn.
Aber er lächelt nur und tätschelt ihr den Kopf. „Geh und triff dich mit deiner Mutter“, fordert er sie auf, und Charm fühlt sich, als wäre sie wieder zehn Jahre alt.