ALLISON
Seit ich Joshua nach seinem Glitterunfall mit dem Zauberklebeband gerettet habe, ist er ständig an meiner Seite, wenn ich arbeite. Er bietet mir an, mir die Bücher anzureichen, die ich in die Regale einsortieren will, oder die Pennys in der Kasse zu zählen. In sehr kurzer Zeit habe ich die lange Liste all der Sachen entdeckt, die Joshua hasst und liebt. Er hasst es, wenn seine Finger klebrig sind, den Geruch von Bananen, Gewitter und sein Zimmer aufzuräumen. Er liebt Truman, mit Lego zu spielen, Dr Pepper zu trinken – auch wenn seine Mom sagt, dass ihm davon die Zähne im Mund verfaulen – und gemeinsam mit seinem Dad Sachen zu bauen.
Ich weiß, ich sollte versuchen, etwas Abstand zu ihm zu wahren. Eine engere emotionale Verbindung zu ihm aufzubauen kann nur im Chaos enden. Ich sollte ihm sagen, dass er sich schleichen soll, weil ich mich auf meine Arbeit konzentrieren muss, aber ich tue es nicht. „Was ist mit Fußball?“, frage ich und denke an das Foto von ihm in seinem grünen Fußballdress. „Magst du Fußball spielen?“
„Es ist ganz okay. Ich bin nicht sonderlich gut darin“, erklärt er traurig. „Immer schnappt mir jemand den Ball weg.“
„Ich könnte dir ein paar Tricks zeigen“, biete ich an. „Ich habe früher auch Fußball gespielt.“
„Okay.“ Joshua beugt sich vor, um Truman zu streicheln. „Ich bringe morgen meinen Fußball mit.“
„Ich denke, deine Mom wird sicher nicht wollen, dass wir im Laden spielen“, sage ich und bedauere es bereits, ihm meine Hilfe angeboten zu haben. Joshua wirkt ernüchtert – und enttäuscht.
„Du kannst zu uns nach Hause kommen“, sagt er und wirkt gleich wieder fröhlicher. „Du kannst mir das Fußballspielen beibringen, und ich zeige dir mein Zimmer und Daddys Werkstatt.“
„Ich weiß nicht …“ Ich wende den Blick von Joshua ab, als ich einen Kunden eintreten höre, und bin dankbar für die Ablenkung. Ich komme ihm zu nahe, lasse mich zu sehr auf ihn ein.
Ich sehe, wie Devin langsam auf mich zukommt. Von ihrer üblichen geschäftigen Art ist nichts zu spüren. Sie wirkt beinahe zögerlich. Überhaupt nicht wie sie selbst. Sie weiß es. Sie weiß von Joshua. Brynn hat sie angerufen und ihr erzählt, dass ich seine Mutter bin. Sie kommt, um mir zu sagen, dass ich ins Gefängnis zurückmuss. Ich denke, dass ich eher sterben würde.
„Josh, wieso gehst du nicht und machst deine Hausaufgaben?“, sage ich, als Devin vor mir stehen bleibt. Irgendetwas stimmt nicht.
„Wer ist das?“, will Josh wissen und stellt sich neben mich.
„Joshua, nervst du Allison?“, ertönt Claires Stimme hinter uns.
„Nein, ich helfe“, behauptet er.
„Allison“, sagt Devin sanft. „Kann ich kurz mit dir sprechen?“
Claire wirft uns einen besorgten Blick zu. Ich weiß, dass ich die beiden einander vorstellen sollte, aber die Worte bleiben mir im Hals stecken, also nicke ich nur und folge Devin nach draußen. Ich schließe die Augen und warte darauf, dass Devin mir sagt, dass sie mich jetzt zur Polizeistation bringen wird. Die Luft ist kalt, was ich als angenehm empfinde. Ich versuche, mir dieses Gefühl einzuprägen.
„Allison?“, wendet Devin sich an mich, und ich öffne die Augen. Sie beißt sich auf die Unterlippe, ringt nach Worten, und ich frage mich, ob ich noch Zeit haben werde, mich von Claire zu verabschieden, ihr für die Chance zu danken, die sie mir gewährt hat. Ich frage mich, ob ich Joshua jemals wiedersehen werde. „Allison.“ Sie greift nach meiner Hand. „Es geht um deinen Vater.“
„Meinen Vater?“ Ich bin verwirrt, senke den Blick und sehe Devins und meine Hände, die einander umfassen. Ein großer Diamant funkelt auf dem Ring an ihrem Finger. Sie wird heiraten, denke ich. Ich will ihr gerade gratulieren, da unterbricht sie mich.
„Er ist heute im Büro zusammengebrochen“, erklärt Devin. „Er ist jetzt im St. Isadore’s auf der Intensivstation. Sie sind sich noch nicht ganz sicher, was mit ihm los ist, aber es sieht aus wie ein Herzinfarkt.“ Fragend schaue ich sie an, und wie immer scheint Devin meine Gedanken lesen zu können. „Deine Mutter hat Barry angerufen. Mr Gordon.“ Ich nicke. Das klingt logisch. Mein Vater und Barry Gordon, der Seniorpartner von Devins Kanzlei, sind seit Jahren miteinander befreundet. „Willst du ins Krankenhaus?“, will Devin wissen. „Ich kann dich hinfahren.“
Ich denke an die letzte Begegnung mit meinem Vater zurück. Erinnere mich daran, wie jegliches Anzeichen meiner Existenz im Haus meiner Eltern ausgelöscht worden ist. „Ich weiß nicht, ob er mich sehen will“, erwidere ich leise.
„Was willst du, Allison?“, fragt Devin. „Was willst du tun?“
Plötzlich habe ich das dringende Bedürfnis, meinen Vater zu sehen. Was, wenn er stirbt? Ich kann nicht zulassen, dass ich meine Mutter das nächste Mal auf der Beerdigung meines Vaters sehe. Schnell erkläre ich Claire die Situation, sie umarmt mich und schickt mich weg. „Sag mir Bescheid, was passiert. Mach dir keine Sorgen wegen der Arbeit. Du musst jetzt bei deiner Familie sein.“
Ich kann ihr nicht sagen, dass sie in den wenigen Wochen, die ich wieder in Linden Falls bin, mehr Familie für mich geworden ist, als meine Eltern es je waren. „Danke“, bringe ich nur heraus. „Ich rufe dich später an.“
Devin lässt mich vor dem Eingang zum Krankenhaus raus. Sie bietet mir an, mitzukommen, aber ich lehne dankend ab, versichere ihr, dass ich alles im Griff habe. Aber das ist gelogen. Ich wollte nur einfach nicht, dass Devin Zeugin meines ersten Treffens mit meiner Mutter wird. Ich habe keine Ahnung, wie sie auf mein Auftauchen am Krankenbett meines Vaters reagieren wird. Ich weiß nicht, ob sie mich mit einer Umarmung willkommen heißen oder mir befehlen wird, sofort wieder zu gehen.
Das letzte Mal, als ich im St. Isadore’s Hospital war, habe ich mich von der Geburt erholt und stand wegen Mordes meiner neugeborenen Tochter unter Arrest. Ich habe das Krankenhaus in einem Rollstuhl verlassen, der von einem Vollzugsbeamten geschoben wurde, und meine Hände waren mit Handschellen aneinandergefesselt. Die Betriebsamkeit im Krankenhaus ist noch genauso, wie ich sie in Erinnerung habe. Schwestern und Ärzte eilen zielstrebig durch die Flure, Besucher bewegen sich etwas zögerlicher. Ich gehe zur Information, um zu fragen, auf welcher Station mein Vater liegt, und nehme dann die Treppe in den fünften Stock. Der Gedanke, einen stickigen, überfüllten Fahrstuhl zu betreten, der mich an meine Gefängniszelle erinnert, raubt mir den Atem.
Ich sehe sie zuerst. Sie sitzt allein auf einem langen Sofa im Warteraum der Intensivstation. Ihr Haar hat noch das gleiche schimmernde Blond, wie ich es in Erinnerung habe, aber es ist kürzer. Sie trägt einen Bob, Jeans und ihre schmutzverkrusteten Gartenclogs. Sie muss draußen gearbeitet haben, als der Anruf kam. Und sie muss sich beeilt haben, ins Krankenhaus zu kommen. Meine Mutter trägt in der Öffentlichkeit niemals Jeans und ihre Gartenschuhe, niemals außerhalb des Gartens. Blicklos starrt sie an die Wand des Warteraums, hat mich noch nicht wahrgenommen. Ihr Gesicht ist ein wenig weicher geworden, seitdem ich sie das letzte Mal gesehen habe, obwohl sie dünner ist, zerbrechlicher aussieht. Sie wirkt zerbrechlich, hilflos, und ich weiß, dass ich die Nerven verliere, wenn ich sie jetzt nicht anspreche.
„Mom“, sage ich leise, dann versagt mir die Stimme.
Sie erschrickt und sieht mich an. Während der vergangenen Jahre ist sie merklich gealtert, auch wenn sie immer noch sehr schön ist. „Allison“, sagt sie, und ich vermeine, einen Anflug von Erleichterung in ihrer Stimme zu hören. Eine weitere Einladung brauche ich nicht. Im Bruchteil einer Sekunde sitze ich neben ihr auf der Couch, lege ihr den Arm um die schmalen Schultern. Ich atme ihren Duft ein, eine Mischung aus dem Maiglöckchenparfüm, das sie trägt, und der Erde, in der sie gearbeitet haben muss, als der Anruf sie erreicht hat.
„Wie geht es Dad?“, frage ich unter Tränen. „Wird er wieder gesund?“
Meine Mutter schüttelt den Kopf.
„Ich weiß es nicht“, sagt sie hilflos. „Sie sagen mir nichts.“ Sie schaut auf ihre Hände. Ihre einst langen, schlanken Finger sind faltig und beginnen, an den Gelenken dicker zu werden. „Er ist immer noch im OP.“
„Ich gehe in einer Minute und frage die Schwestern“, sage ich. „Mal sehen, ob sie was Neues wissen. Hat jemand Brynn oder Grandma angerufen? Geht es dir gut? Hast du was gegessen?“
Erneut schüttelt sie den Kopf und schaut auf ihre Füße. „Ich habe vergessen, andere Schuhe anzuziehen.“ Ihr Kinn zittert, sie bedeckt sich die Augen und fängt an zu weinen. „Er ist alles, was ich habe“, schluchzt sie. „Er ist alles, was mir geblieben ist.“