CHARM

Gus wird zusehends schwächer. „Wo ist der Kleine?“, fragt er, als Charm aus dem Krankenhaus kommt.

„Er ist in Sicherheit“, versichert sie ihm. „Weißt du noch, er ist jetzt bei dieser netten Familie. Sie kümmern sich gut um ihn.“

Charm hört ein Klopfen an der Vordertür. Sie nimmt den Topf mit dem Kartoffelpüree vom Herd und geht, um zu öffnen. Jane steht auf der Treppe, ihr schwarzes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, in der Hand ihren Trickbeutel, wie sie ihn nennt.

„Hey, wie geht’s?“, fragt sie und tritt ein. „Der Herbst liegt in der Luft.“ Sie zittert leicht, und Charm nimmt ihr den Mantel ab.

„Ich weiß, und dabei haben wir erst Ende August. Aber uns geht es gut“, beantwortet Charm die Eingangsfrage der Pflegerin. „Gus ist nebenan und schaut fern.“

„Ah, Futter für den Kopf.“ Jane lächelt.

Charm zuckt mit den Schultern. „Es hilft, die Zeit zu vertreiben.“

„Wie geht es ihm?“, fragt Jane und wird ernst.

„Ganz gut. Manche Tage sind besser als andere.“

„Und bei dir? Wie läuft die Schule? Bekommst du alles auf die Reihe? Es ist eine ganze Menge Verantwortung für eine Einundzwanzigjährige, aufs College zu gehen und sich um einen alten Mann zu kümmern.“

„Hey, nenn Gus nicht alt, das verletzt seine Gefühle. Wir kommen zurecht.“ Charm versteift sich ein wenig. Sie weiß, worauf Jane hinauswill. Sie bringt das Thema Krankenhaus oder Pflegeeinrichtung beinahe jedes Mal auf, wenn sie vorbeikommt. „Ich rufe ihn drei Mal am Tag an und komme mittags vorbei, um nach ihm zu sehen.“

„Ich weiß, ich weiß.“ Jane hebt die Hand und versucht, Charm zu beruhigen. „Du machst das toll. Ich meine ja nur, dass es Möglichkeiten für euch gibt, solltest du Hilfe benötigen. Lass mich einfach wissen, wenn du das Gefühl hast, dass es Gus schlechter geht oder du mehr Unterstützung brauchst, okay?“ Sie schaut ihr tief in die Augen.

„Okay“, sagt Charm. Sie weiß, dass Gus nie einverstanden wäre, aus seinem Haus auszuziehen.

„Vor ein paar Tagen habe ich deine Mutter gesehen“, erzählt Jane und lässt den Blick durch die Küche schweifen. Charm weiß, dass es zu Janes Job gehört, sich zu vergewissern, dass Gus die Pflege erhält, die nötig ist. Sie macht sich keinen Kopf – das Haus ist immer sauber und der Kühlschrank stets gut gefüllt.

„Oh?“ Charm tut so, als würde sie das nicht interessieren. Aber sie hört genau zu, erpicht auf jede noch so kleine Neuigkeit über ihre Mutter.

„Ja. Wir sind uns im Wal-Mart in Linden Falls über den Weg gelaufen. Sie sieht gut aus und arbeitet jetzt als Kellnerin im O’Rourke’s.“

Charm erwidert nichts. Ihre Mutter hatte über die Jahre viele Jobs, und Charm bezweifelt, dass sie diesen lange behalten wird.

„Sie ist immer noch mit diesem Typen zusammen. Binks.“

„Im Moment“, kommentiert Charm verbittert.

„Sie hat nach dir gefragt. Ich habe ihr gesagt, dass es dir fabelhaft geht.“ Jane wirft Charm einen liebevollen Blick zu.

„Sie könnte auch einfach mich fragen, wie es mir geht. Immerhin weiß sie, wo ich wohne. Sie hat lange genug hier gelebt, um sich daran erinnern zu können.“

„Sie hat sich gefragt, ob du wohl etwas von deinem Bruder gehört hast“, berichtet Jane weiter.

„Nein.“ Charm ist auf der Hut. „Seit Jahren nicht. Das Letzte, was ich von ihm gehört habe, war, dass er Drogen nimmt und sich anderen höchst illegalen Aktivitäten widmet.“

„Du machst das wirklich gut, weißt du?“, sagt sie erneut. „Du bleibst dran. Bald wirst du mit dem College fertig sein und kannst anfangen, dein eigenes Leben zu leben.“ Sie schultert ihre schwere Tasche und ruft nach Gus. „Die Frau deiner Träume ist hier, Gus. Stell den blöden Fernseher ab!“ Gus’ Lachen erklingt aus dem anderen Zimmer, und dann hören sie das Klicken, mit dem der Fernseher sich ausschaltet.

Charm sieht, wie sanft und fürsorglich Jane mit Gus umgeht, und weiß, dass sie mit allen Patienten so ist. Sie gibt ihm Medikamente, die den Schmerz lindern, und findet Wege, ihn trotz des Schmerzes, den das Morphium nicht betäuben kann, zum Lächeln zu bringen. Sie behandelt Gus mit der Würde und dem Respekt, die ihm so wichtig sind. Denn das ist alles, was ihm geblieben ist. Er weiß, dass er sterben wird, aber Jane erleichtert ihm den Abschied und steht ihm auf diesem schweren Weg zur Seite. Sie spricht mit ihm, als wäre er noch der Mann, an den er sich so gut erinnert – der Feuerwehrmann, das geschätzte Mitglied der Gemeinde, der gute Freund und Nachbar.

Charm überlegt, was wäre, wenn jemand herausfände, was sie fünf Jahre zuvor getan haben. Sollte jemals jemand erfahren, welches Gesetz sie gebrochen hat, würde ihr Traum, Krankenschwester zu werden, sofort platzen.

Ich will das tun, was Jane für andere tut, denkt Charm. Hoffentlich bekomme ich die Chance dazu.