CHARM
Charm sitzt voll bekleidet in der leeren Badewanne. Es scheint der einzige Ort im Haus zu sein, an den sie sich zurückziehen kann, um Gus’ rasselnden Atem nicht zu hören. Sie weiß, dass sie tapfer sein, nach draußen gehen und sich zu ihm setzen sollte. Immerhin wird sie bald Krankenschwester sein. Aber ihre ganze Ausbildung hat sie nicht auf das hier vorbereiten können. Gus stirbt auf eine Art, die niemand verdient hat – sogar die gemeinste Person auf der Welt sollte nicht so leiden müssen wie er. Er erstickt, langsam, schmerzvoll, direkt vor ihren Augen, und es gibt nichts, das sie tun kann, um ihm zu helfen, auch wenn er sie noch so verzweifelt anschaut. Sie stellt sich vor, dass seine geschwärzten Lungen seine Brust zusammendrücken, um wenigstens etwas Luft zu bekommen. Die Lungenentzündung hat sich schnell festgesetzt. Gus’ Haut hat einen gräulichen Farbton angenommen, sein Körper schwindet dahin und besteht nur noch aus Haut und Knochen. Er erinnert sie an die Bilder von Überlebenden aus Konzentrationslagern, die sie im Geschichtsunterricht gesehen hat. Der einzige Teil von ihm, der nicht dünn ist, ist sein Gesicht samt Hals. Beides ist ganz aufgeschwemmt. Manchmal ist es schwer, ihn in all diesem geschwollenen gelben Fleisch zu finden, aber ab und zu lächelt er, und dann sieht sie ihn wieder – den lustigen, energiegeladenen Gus, der jede Schulveranstaltung von Charm besucht hat, der ihr beigebracht hat, wie man Freiwürfe ausführt und Kolaches backt. Jetzt sieht er aus wie ein Fremder.
Charm überlegt, ihre Mutter anzurufen, aber sie weiß nicht, was sie ihr sagen soll. Nur zwei Mal im Leben hat Charm ihre Mutter wirklich gebraucht: einmal, als der kranke Freund ihrer Mutter zudringlich geworden ist, während Reanne arbeiten war, und einmal, als Allison ihr Joshua dagelassen hat. Beide Male war ihre Mutter nicht da. Ich könnte jetzt eine Mutter gebrauchen, denkt Charm. Jemanden, der mir hilft, mich um Gus zu kümmern, der mir versichert, dass alles gut wird. Unglücklicherweise ist Reanne Tullia nicht diese Person.
Charm klettert aus der Badewanne und betrachtet sich im Spiegel. Ihre Augen sind blutunterlaufen, und um ihre Lippen haben sich kleine Falten gebildet, die, wie sie weiß, daher kommen, dass sie ihren Mund ständig besorgt zusammenzieht. Ich sehe so alt aus, denkt sie. Ich bin erst zwanzig und fange schon an, wie eine alte Frau auszusehen.
Charm hat ihren Lehrern in der Schule erzählt, dass sie ein paar Tage freinehmen muss, um sich um Gus zu kümmern. Sie waren sehr verständnisvoll. Sie weiß, dass sie das nächste Mal erst nach Gus’ Beerdigung in den Unterricht zurückkehren wird.
Widerstrebend verlässt sie ihren Zufluchtsort im Badezimmer und geht zu Gus. Seine Augen sind leicht geöffnet, und sie zieht sich einen Stuhl an sein Bett und setzt sich. Charm hat seinen alten Fernseher in sein Schlafzimmer getragen, und zusammen mit Gus guckt sie schweigend dumme Sitcoms und Wiederholungen von alten Polizeisendungen. Es ist nicht wichtig, was sie sich anschauen, solange der Klang des Fernsehers das teekesselähnliche Pfeifen übertönt, das aus Gus’ Brust kommt. Als Gus einen Hustenanfall bekommt, hilft Charm ihm vorsichtig, sich aufzusetzen, und reibt ihm in kreisenden Bewegungen den Rücken, wie sie es ihn bei Joshua hat tun sehen, als er noch bei ihnen war. Wieder und wieder tätschelt Charm Gus den Rücken und flüstert ihm ermutigende Worte zu, so als wäre er jetzt das Baby. „Es ist okay, es ist okay. Lass es raus.“ Gus ballt seine Hand zur Faust und löst dann wieder seine skelettartigen Finger. Als das Husten endlich aufhört, gibt Charm ihm einen Schluck Wasser zu trinken, schüttelt die Kissen auf und legt Gus vorsichtig die Sauerstoffmaske um. Dann setzt sie sich wieder hin, bis sein Atem ruhiger wird und er einschläft.
Jane hat dafür gesorgt, dass die Leute vom Hospizprogramm bei Gus vorbeischauen, und Charm ist dafür sehr dankbar. Sie sind sehr nett und hilfreich, aber trotzdem ist es Charm, auf die Gus schaut. Es ist Charm, der seine wässrigen Augen durch den Raum folgen, als flehten sie sie an, ihm zu helfen. Die meiste Zeit über ergibt das, was er sagt, keinen Sinn, und er ruft Charm beim Namen ihrer Mutter, was ihr geradezu körperliche Schmerzen bereitet. Doris, die Ehrenamtliche aus dem Hospiz, versucht ihr zu erklären, dass Gus’ Krebs daran schuld ist und die ganzen Schmerzmittel, die er nehmen muss.
Der Herbst ist schnell über sie hereingebrochen, und heftige Regenschauer peitschen über das Land. Es regnet den ganzen Tag. Charm findet es deprimierend, Tag für Tag in dem kleinen Haus zu sitzen. Sie will wieder zur Schule gehen, aber sie erträgt den Gedanken nicht, Gus mit Fremden allein zu lassen. Sie weiß, dass er jeden Moment sterben kann, und ist entschlossen, ihn nicht im Stich zu lassen, so wie ihre Mutter es getan hat. Sie will bei ihm sein, bis sich seine Augen für immer schließen, bis er nicht mehr um jedes bisschen Luft ringen muss.
Gus’ Doppelbett ist durch ein Krankenhausbett ersetzt worden. Das erleichtert es den Hospizmitarbeitern, sich um ihn zu kümmern und die Bettwäsche zu wechseln. Und es macht es einfacher, ihn hinauszurollen, nachdem er gestorben ist, denkt Charm. Er sieht aus wie ein leerer Kokon, die Haut spinnenwebdünn und straff über sein Gesicht gespannt. Der Husten ist verstummt, und Gus liegt so still da, dass das leichte Heben und Senken seines Brustkorbs das einzige Zeichen dafür ist, dass er noch lebt.
Charm fragt sich, ob ihre Mutter weiß, dass Gus im Sterben liegt, und wenn ja, ob es sie überhaupt interessiert. Sie fragt sich, was sie selbst tun wird, wohin sie gehen, was aus ihr werden wird. Auch wenn sie immer unabhängig war – ohne echte Mutter oder echten Vater –, hatte sie doch immer Gus.
Sie spürt eine leichte Bewegung neben sich und schaltet die Nachttischlampe ein, damit sie Gus’ Gesicht sehen kann. In dem dämmrigen Licht, umgeben von all den Schatten, sieht Gus beinahe wieder wie er selbst aus. Jung, attraktiv, glücklich.
„Wie geht es dir, Gus?“, fragte Charm ihn leise. Allein ihr zuzuhören scheint ihm Schmerzen zu verursachen. „Kann ich dir etwas bringen?“ Seine Augen sind offen und klar, und er versucht, eine Hand zu heben, um die Sauerstoffmaske beiseitezuschieben. „Lass mich das machen“, sagt sie und nimmt ihm die Maske ab, die ihn, wie sie ihn einst aufgezogen hat, aussehen lässt wie Horton, den Elefanten. Gus hat darüber gelacht. Er leckt sich über die trockenen, gesprungenen Lippen, und Charm schiebt ihm einen Strohhalm dazwischen, damit er etwas trinken kann. Die Anstrengung erschöpft ihn. „Was noch?“, fragt sie. „Was kann ich noch für dich tun?“ Charm versucht, die Gefühle hinunterzuschlucken, die ihr die Kehle zuschnüren. Sie hat Patienten sterben sehen, hat Kinder sterben sehen, aber niemanden, den sie kannte. Niemanden, den sie geliebt hat.
„Nichts.“ Gus stöhnt. „Setz dich einfach zu mir.“ Schwach klopft er neben sich auf die Matratze. Charm zögert. Sie müsste das Seitengitter herunterlassen, das ihn davor bewahrt, aus dem Bett zu fallen, und außerdem ist nicht genug Platz, auch wenn Gus selbst so dünn wie das Präriegras vor seinem Fenster ist.
„Das geht schon“, sagt er.
Charm klappt das Gitter weg und schiebt Gus vorsichtig ein Stück zur Seite. Er gibt keinen Ton von sich, aber sein Gesicht ist schmerzverzerrt. „Tut mir leid, tut mir leid“, flüstert Charm, aber er klopft erneut auf die Matratze, um sie wissen zu lassen, dass alles in Ordnung ist. Charm versucht, sich so klein wie möglich zu machen, und quetscht sich neben ihn. „Willst du fernsehen?“, fragte sie und greift nach der Fernbedienung. Er schüttelt den Kopf. „Willst du die Maske wieder aufsetzen?“ Charm weiß, dass er es nicht lange ohne den zusätzlichen Sauerstoff aushält und schnell in Panik gerät, was es für ihn nur noch schwerer macht, Luft zu holen.
Erneut schüttelt er den Kopf. Wegen der Schwellungen sind seine einstmals scharfen Gesichtszüge kaum mehr zu erkennen. Sein dunkles Haar bildet einen starken Kontrast zu seiner blassen Haut, und die zerzausten Augenbrauen lassen seine Augen kleiner und eingesunkener wirken. Ein blauer Teich inmitten von Schilf.
„Erzähl“, fordert er sie auf seine ihm eigene Art auf. Er schafft es immer noch, bestimmend zu klingen, ohne dabei gemein zu wirken.
„Nun“, fängt Charm an. „Ich fange nächste Woche in der Orthopädie an. Und um Halloween herum werde ich auf der Kinderkrebsstation sein. Dann verkleiden sich alle, inklusive der Ärzte und Schwestern.“
Gus nickt, und sie sitzen eine Weile schweigend beisammen. Sie wissen beide, dass er an Halloween nicht mehr da sein wird.
„Der kleine Junge“, sagt Gus, und seine Stimme klingt so rau wie Sandpapier.
Charm wird das Herz schwer. Sie wusste, dass Gus das Thema Joshua noch mal anschneiden würde, anschneiden musste. Ein allerletztes Mal.
„Es tut mir leid.“ Seine Worte klingen atemlos und kommen ihm immer schwerer über die Lippen.
„Warum?“, fragt Charm ungläubig. „Was tut dir leid? Es war Christophers Schuld, Allison Glenns Schuld. Nicht deine. Joshua ist in Sicherheit. Er ist glücklich. Er ist bei Menschen, die ihn lieben.“ Wütend zählt sie die einzelnen Punkte an ihren Fingern ab. „Seine Mutter ist ins Gefängnis gekommen, weil sie seine Zwillingsschwester ertränkt hat. Du weißt, dass Christopher niemals zurückgekommen wäre, um sich um ihn zu kümmern, und Gott weiß, dass meine Mutter in der ganzen Angelegenheit überhaupt nicht zu gebrauchen gewesen wäre.“
„Schsch“, haucht Gus und legt seine Hand an ihre Wange. „Schsch, ist gut.“ Das ist zu viel für Charm – dass dieser kranke, verzweifelte Mann versucht, sie zu trösten. Sie war diejenige, die um mehr Zeit mit dem Baby gebettelt hat, aber ein paar Stunden waren zu Tagen geworden, dann zu drei Wochen. Charm hatte Gus immer um mehr Zeit angefleht, weil sie sicher war, dass ihr Bruder zu dem kleinen Jungen zurückkehren würde, an den sie so schnell ihr Herz verloren hatte. Sie fängt an zu weinen.
„Es tut mir leid“, schluchzt sie. „Ich hätte es dir sagen sollen. Ich hätte dir sagen sollen, dass ich ihn zur Feuerwache bringe.“ Hilflos sieht sie ihren Stiefvater an. „Ich konnte es nicht mehr. Ich wollte, aber ich konnte nicht. Ich war so müde. Ich wusste, dass wir zu lange gewartet hatten, um ihn zu einem sicheren Hafen zu bringen, und ich hatte Angst, dass wir Ärger bekommen würden, also habe ich dir nichts gesagt.“
„Du bist ein gutes Mädchen, Charm“, murmelte Gus. „Du bist klug und mutig. Mutiger, als ich es je war.“ Charm sieht ihn an. Über die Jahre hat Gus viele der entsetzlichen Feuer beschrieben, die er bekämpft hat. Den Rauch, die Flammen, die Hitze. „Du hast weiterhin nach dem kleinen Jungen geschaut, nachdem du ihn auf die Feuerwache gebracht hast. Du hast sichergestellt, dass es ihm gut geht.“
„Du hattest nicht mal die Chance, ihm Auf Wiedersehen zu sagen.“ Gus schweigt. Die Unterhaltung ermüdet ihn. „Manchmal wünsche ich, sie hätte ihn gar nicht erst zu uns gebracht“, sagt Charm und spricht endlich aus, was sie schon seit so langer Zeit empfindet. „Manchmal wünsche ich, ich hätte ihn nie in den Armen gehalten. Ich wünsche, ich hätte nie gewusst, dass er eine kleine Schwester hatte, die in den Fluss geworfen wurde. Ich wünsche, du würdest gesund werden.“ Charm schluckt einmal schwer, versucht, die Tränen zurückzuhalten, und birgt ihr Gesicht an seiner zerbrechlichen Schulter.
Mit großer Anstrengung legt Gus seinen anderen Arm um sie.
„Meine Tochter“, flüstert er. Mehr bleibt nicht zu sagen. Lange liegen sie dort so beisammen. Gus tätschelt ihr sanft den Rücken, und Charm genießt diese Streicheleinheiten wie eine Katze die letzten Strahlen der untergehenden Sonne.