ALLISON

Ich bin heute dran, die Badezimmer im Gertrude House zu putzen. Danach treffe ich mich mit Olene wegen eines möglichen Vorstellungsgesprächs in dem Buchladen hier im Ort. Ich bin sehr aufgeregt wegen der Aussicht auf einen Job und auch nervös. Olene ist in mehreren Gruppen in der Gemeinde aktiv, und viele ihrer Mädchen, wie sie uns nennt, finden Arbeit in den ortsansässigen Firmen und Geschäften in der Nähe vom Gertrude House. Ich stelle meinen Eimer mit den Putzsachen auf den Boden, nehme die Klobürste und klappe einen Toilettendeckel hoch. Aus der Toilettenschüssel starrt mich eine besonders realistisch aussehende Puppe aus weiten, toten Augen an. Als ich sie sehe, kann ich nicht mehr atmen. Sie hat die gleiche rosafarbene Kopfhaut wie das Baby, das ich zur Welt gebracht habe, und sie streckt mir die Ärmchen entgegen, als wenn sie mich anfleht, sie hochzunehmen. Mit erhobener Klobürste stürme ich aus der Toilette, bereit, einen Streit anzufangen. Ich schreie nicht und brülle auch keine Obszönitäten oder verspreche Rache. Ich sinke auf den Badezimmerboden, lehne meine Stirn gegen die blau gekachelte Wand und weine.

Irgendwann kommt Olene ins Badezimmer – die Türen im gesamten Haus haben keine Schlösser –, setzt sich neben mich auf den Boden und hält mich, während ich weine, wie ich es seit Jahren nicht getan habe. Niemand hat mich jemals so weinen sehen. Nicht meine Mutter, nicht mein Vater, nicht einmal Brynn. Ich klammere mich an Olenes dünne Gestalt, ihre knochigen Schultern graben sich mir in die Wange, und weine.

„Pst, Allison, pst“, flüsterte sie mir ins Ohr. Ihr schaler Nikotinatem streift meine Wange. „Es wird besser“, verspricht sie. „Hörst du mich, Allison?“ Ich schniefe und nicke an ihrem Hals. „Dann steh jetzt auf, damit wir dir das Gesicht waschen können.“ Sie legt mir ihre rauen, ledrigen Hände auf die Schultern. „Es wird nicht einfach“, sagt sie und schaut mich an. „Es wird vermutlich sogar erst noch eine ganze Ecke schwerer, bevor es leichter wird. Niemand kann ändern, was du getan hast oder was in der Vergangenheit geschehen ist.“ Ich senke den Kopf und fange erneut an zu weinen. „Aber du hast Kontrolle darüber, wer du jetzt bist und wie du dich verhältst. Verstehst du das?“ Ich kann nicht antworten. „Verstehst du das?“, wiederholt sie, und ich nicke.

„Begegne der Welt mit Hoffnung im Herzen, Allison“, sagt Olene sanft. Tränen sammeln sich in ihren Augen. „Begegne der Welt mit Hoffnung, und sie wird dich belohnen. Das verspreche ich.“ Sie sagt dies auf eine Art, die mich erkennen lässt, dass sie das Gleiche im Laufe der Jahre schon zu Dutzenden, vielleicht Hunderten Mädchen gesagt hat.

Ich nicke wieder und reibe mir die Augen.

„Geht es wieder einigermaßen?“, will Olene wissen.

„Ja, alles gut.“ Ich nicke und schniefe. Es ist so offensichtlich, dass nichts gut ist. „Ich brauche nur ein paar Minuten.“

„Okay.“ Sie drückt sich vom Fußboden hoch und steht einen Moment über mir, als überlege sie, ob sie noch mehr sagen soll. „Ich sehe dich später in der Gruppensitzung.“ Dann schaut sie zu der Babypuppe, die immer noch in der Toilette schwimmt. „Möchtest du, dass ich mich darum kümmere?“

„Nein, ich mach das schon“, sage ich. Ich höre die Tür leise klicken, als Olene sie hinter sich zuzieht. Ich schaue in den Spiegel, betrachte meine geschwollenen Augen und mein fleckiges Gesicht. Auf keinen Fall dürfen die anderen Frauen mich so sehen, sage ich mir und beuge mich über das Waschbecken, um mir kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen. Einen kurzen Moment lang denke ich, wie schockierend kalt sich das Flusswasser auf dem Gesicht meines Babys angefühlt haben muss, und ein seltsamer, erstickter Laut entringt sich meiner Kehle. Ich zwinge mich, noch einmal in den Spiegel zu sehen und mein Haar glatt zu streichen. Es ist immer noch lang und glänzend, von honigblonder Farbe. Ich hasse es. Daher packe ich eine dicke Strähne, atme tief durch und suche in dem Medizinschränkchen nach einer Schere, finde aber keine.

Ich nehme ein altes Handtuch aus dem Wäscheschrank, greife damit in die Toilette, ziehe die tropfende Puppe an ihrem Arm heraus und wickle sie fest ein. Das ist mein Test, schätze ich, meine Initiation in die Schwesternschaft dieser Wohngemeinschaft. Nun, ich bin hervorragend darin, Tests zu bestehen. Ich öffne die Tür und schreite erhobenen Hauptes an den anderen Bewohnerinnen vorbei. Zielgerichtet gehe ich über den Flur und die Treppe hinunter, ignoriere das Gekicher und die Kommentare der anderen. Ich stapfe durch die Küche und zur Hintertür hinaus, wo die großen schwarzen Mülleimer stehen. Entschlossen schiebe ich den Deckel zurück und werfe das Bündel lässig hinein. Es landet geräuschvoll inmitten stinkender Essensreste, schmutziger Papierhandtücher und des restlichen Mülls von Frauen, die Böses getan haben.

Hoffnung. Olene hat mir gesagt, ich solle der Zukunft mit Hoffnung begegnen. Genau das will ich tun. Ich muss es tun, aber ich weiß nicht, wie.

Als ich durch die Flure von Gertrude House gehe, höre ich das Flüstern. Mörderin. Ich sehe die wütenden, angewiderten Gesichter der anderen Bewohnerinnen. Solange ich in Linden Falls bin, werde ich mich niemals von meiner Vergangenheit befreien können. Ich muss diesen Job im Buchladen bekommen. Ich muss meine Zeit im Gertrude House absitzen, dann kann ich wegziehen. Aber zuerst muss ich mich mit meiner Schwester treffen und sie dazu bringen, mit mir zu reden.