ALLISON

Brynn und ich haben entschieden, uns in einem Restaurant zu treffen, das in der Nähe vom Gertrude House liegt. Ich gehe zwanzig Minuten vor unserem vereinbarten Termin los, bestelle eine Tasse Kaffee und versuche, während ich auf Brynn warte, ein Buch zu lesen, das Claire mir geliehen hat. Wieder und wieder lese ich die Worte, ohne deren Sinn zu verstehen. Meine Gedanken kreisen nur darum, ob Brynn kommen wird oder nicht. Ich höre nicht, dass sie an den Tisch tritt, bis sie mit ihrer unverkennbaren Stimme fragt: „Allison?“

Ich schaue zu meiner Schwester auf, und sie sieht noch genauso aus, wie ich sie in Erinnerung habe. Klein, mit dunklen, zerzausten Haaren. Sie ist schlicht und ganz in Schwarz gekleidet. Dunkle Schatten liegen unter ihren Augen und heben sich stark von ihrer blassen Haut ab. Sie beißt sich auf die Unterlippe und schaut mich unsicher an.

„Brynn“, sage ich und stehe auf. Ich strecke die Arme aus, um sie zu umarmen. Sie ist zu dünn, beinah so fein und zerbrechlich wie ein Vogel. „Es ist so schön, dich zu sehen. Danke, dass du gekommen bist.“ Meine Stimme klingt sehr förmlich. Ich muss mich daran erinnern, dass das hier Brynn ist. Einfach nur Brynn, meine Schwester.

Sie sagt nichts, löst sich aus meiner Umarmung und setzt sich mir gegenüber auf die Bank. Ich nehme ebenfalls wieder Platz, und mit einem Mal fehlen mir die Worte. Zum Glück kommt in diesem Augenblick die Kellnerin, um Brynns Bestellung aufzunehmen. „Einen Tee, bitte. Entkoffeiniert, wenn möglich“, ordert sie. An mich gewandt erklärt sie: „Koffein lässt mich nicht schlafen.“

„Möchtest du auch was zu essen bestellen?“, frage ich. „Rechnung geht auf mich.“

„Nein, danke.“ Nervös lässt sie den Blick durch das Restaurant schweifen.

„Ich weiß gar nicht, wie ich anfangen soll“, gebe ich zu und versuche zu lächeln. „Jetzt, wo du da bist, weiß ich nicht, was ich sagen soll. Es gibt so viel, das ich sagen will, hab aber keine Ahnung, wie.“

„Das ist mal was Neues“, erwidert Brynn sarkastisch. Sie spielt mit ihrer Serviette. „Dass du nicht weißt, was du tun sollst.“

„Hast du Dad schon gesehen?“, wechsle ich das Thema.

Sie nickt. „Er sieht fürchterlich aus. Aber die Ärzte sagen, dass er wieder in Ordnung kommt.“ Wir sitzen ein paar Minuten schweigend beisammen. Brynn sieht aus, als könne sie es kaum erwarten, hier wieder wegzukommen.

„Es tut mir leid“, platze ich heraus. „Es tut mir so leid.“

„Das hast du mir bereits gesagt“, erwidert sie sachlich und fängt an, die Papierserviette in feine Streifen zu reißen.

„Ich habe es dir in Briefen geschrieben und am Telefon gesagt, aber niemals von Angesicht zu Angesicht.“ Brynn fährt fort, die Serviette zu zerschreddern, bis es aussieht, als wäre der Tisch mit Konfetti bedeckt. „Brynn, bitte, schau mich an.“ Ich beuge mich so weit über den Tisch, wie ich nur kann. Sie hebt das Kinn und blickt mich ruhig an. In ihren Augen liegt ein harter, gefühlloser Ausdruck. „Brynn, es tut mir wirklich leid, dass ich dich in die Situation gebracht habe. Ich wusste es besser. Ich habe einen dummen Fehler gemacht und dich mit hineingezogen. Ich weiß, nach allem, was passiert ist, bedeutet es nicht viel, aber du hast mir geholfen, wirklich. Ich wäre niemals in der Lage gewesen …“

Ich höre auf zu sprechen, weil Brynns Gesicht zu einer steifen Maske eingefroren ist. Sie ist nicht bereit, über die Einzelheiten jener Nacht zu sprechen. „Nun, wie auch immer, es tut mir leid, und ich bin froh, dass du hier bist“, beende ich den Satz. „Erzähl mir von deiner Ausbildung. Ich will alles darüber erfahren.“

„Ich gehe besser nach Hause, bevor Mom anfängt, sich Sorgen um mich zu machen“, sagt Brynn mit einem Blick auf die Uhr.

„Du wohnst zu Hause?“ Es gelingt mir nicht, heiter zu klingen. Dass Brynn zu Hause wohnen darf, schmerzt mich. „Mom hat dir angeboten, bei ihr zu bleiben?“

„Was hatte sie denn für eine Wahl?“ Brynn stößt einen missbilligenden Laut aus. „Wo soll ich denn sonst hin? Ich bleibe nur bis morgen, dann fahre ich zurück zu Grandma.“

„Jetzt schon?“, frage ich überrascht. „Du bist doch gerade erst gekommen.“

„Ich bin müde. Ich will einfach nur ins Bett.“ Sie hat dunkle Ringe unter den Augen und versteckt ihr Gähnen hinter der flachen Hand.

Ich lege ein paar Geldscheine auf den Tisch, und gemeinsam gehen Brynn und ich in den kalten Abend hinaus.

„Willst du mir nun von ihm erzählen oder nicht?“, fragt Brynn da plötzlich. „Ich meine, deshalb bin ich doch hier, oder nicht? Dad interessiert dich doch überhaupt nicht. Du willst mich nur hierhaben, weil du den kleinen Jungen gefunden hast.“

„Das ist nicht fair“, sage ich beleidigt. „Ich mache mir große Sorgen um Dad.“

„Gib’s doch zu, Allison“, gibt Brynn wütend zurück. „Du kannst es nicht ertragen, dass ich bei Mom und Dad wohne und du in irgendeiner Resozialisierungseinrichtung hockst. Du erträgst es nicht, dass ich diejenige bin, der es gut geht, diejenige, auf die Mom und Dad jetzt stolz sind …“

„Stolz auf dich? Mom und Dad haben dich aus ihrem Leben gestrichen. Genau wie mich. Warst du überhaupt schon im Haus?“ Brynns Maske bröckelt. Ich weiß, dass ich nicht weiterreden sollte, aber ich kann nicht aufhören. „Sie haben jedes Foto von dir entsorgt. Nicht nur die von mir, Brynn. Auch die von dir.“

„Wie auch immer“, sagt sie halbherzig, und ich weiß, dass ich ihre Gefühle verletzt habe.

„Es tut mir leid, Brynn.“ Ich greife nach ihrem Ärmel, um sie davon abzuhalten, zu gehen, doch sie reißt sich von mir los. Einen kurzen Augenblick sehe ich die roten Striemen auf ihrem Unterarm.

„Es tut dir leid?“, ruft sie ungläubig. „Weißt du, was ich jedes einzelne Mal sehe, wenn ich nachts die Augen schließe?“

„Brynn.“ Mir ist ganz elend zumute. „Ich weiß. Ich sehe sie auch.“

„Nein.“ Brynns Stimme klingt so leer, dass mir ein Schauer über den Rücken läuft. „Ich denke nicht, dass du das tust. Und nun willst du, dass ich den kleinen Jungen treffe? Ihren Bruder? Du willst, dass ich das alles noch einmal durchmachen muss?“ Brynn schüttelt den Kopf.

„Ich wollte … ich dachte …“, sage ich lahm. „Ich wollte dir von Joshua erzählen, ihn dir zeigen.“

„Was glaubst du, was du tun wirst?“, fragt sie scharf nach, während wir die dunkle Straße zu ihrem Auto entlanggehen.

„Ich dachte, vielleicht würdest du mir helfen, zu entscheiden, was ich tun soll“, erwidere ich verlegen.

„Denk mal drüber nach, Allison.“ Abrupt bleibt sie stehen. „Es gibt nur eine Sache, die du tun kannst.“

Die Vehemenz ihrer Worte lässt mich fragend die Augenbrauen hochziehen. Ihre Sicherheit überrascht mich. Brynn hat sich verändert. Sie ist nicht mehr das unsichere Mädchen, das ich vor fünf Jahren zurückgelassen habe. „Ich bin froh, dass du weißt, was ich tun soll, Brynn, denn ich weiß es ganz sicher nicht.“

„Ist er glücklich?“, fragt sie.

„Ich denke schon“, erwidere ich. „Die meiste Zeit zumindest.“

„Sind seine Eltern gut zu ihm? Fühlt er sich bei ihnen geborgen?“

„Sie kommen mir wie großartige Eltern vor“, sage ich.

„Was ist dann das Problem, Allison?“ Sie zieht ihre Autoschlüssel aus der Jackentasche. „Er ist glücklich, er ist in Sicherheit, und er hat großartige Eltern. Warum willst du ihm das vermasseln?“

„Das will ich ja gar nicht“, verteidige ich mich. „Ich weiß nur nicht, ob ich meinen Job da kündigen soll oder was …“

„Oder was, Allison? In seinem Leben bleiben? Was soll dabei schon Gutes rauskommen?“ Brynn dreht sich zu mir um, die Hände in die Hüften gestemmt. „Ehrlich gesagt finde ich, dass das ganz schön egoistisch ist.“

„Egoistisch?“ Ich kann nicht glauben, was ich da höre. „Ich bin bestimmt vieles, Brynn, aber wie kannst du sagen, dass ich egoistisch bin? Habe ich nicht alles Menschenmögliche versucht, um mich wieder mit dir zu vertragen?“ Ich werde immer lauter, und vorbeigehende Passanten werfen uns misstrauische Blicke zu. Schnell senke ich die Stimme zu einem Flüstern. „Ich fühle mich besser, jetzt, da ich weiß, was aus ihm geworden ist. Willst du ihn nicht sehen? Bist du nicht ein klitzekleines bisschen neugierig, wie er sich entwickelt hat?“ Brynn sieht nicht überzeugt aus. „Wirf nur einen Blick auf ihn. Komm morgen irgendwann am Nachmittag oder Abend im Buchladen vorbei. Er wird da sein. Danach wirst auch du dich besser fühlen, das verspreche ich dir.“

Brynn schaut mich lange Zeit schweigend an. „Ich komme im Laden vorbei und schaue ihn mir an, Allison. Aber das ist alles. Ich will nicht wieder in diese Sache hineingezogen werden.“

„Danke.“ Ich überlege, sie noch einmal zu umarmen, halte mich dann aber zurück. „Wir sehen uns morgen. Und danke, dass du gekommen bist.“

„Nun ja, es wird sich zeigen, ob das eine gute Idee war.“ Sie wendet sich zum Gehen.

Wann ist sie so kalt geworden? Hat das Leben das aus ihr gemacht? Habe ich ihr das angetan?

„Erinnerst du dich noch an Mousie?“, rufe ich ihr nach, und sie bleibt mit dem Rücken zu mir stehen.

Eine ganze Weile rührt sie sich nicht, dann dreht sie sich um. „Ja“, sagt Brynn. „Ich erinnere mich an Mousie.“