BRYNN

Als ich meine Sachen für den Trip packe, um meinen Vater zu sehen – um Allison zu treffen –, frage ich mich, ob ich das Richtige tue. Ich habe endlich meine Mutter ans Telefon bekommen, und sie klang fürchterlich. Überhaupt nicht wie meine Mutter – völlig verunsichert, was als Nächstes zu tun wäre. Erst als ich vorschlug, dass ich Grandma mit nach Linden Falls bringen könnte, wurde meine Mutter wieder die Alte.

„Diese Frau ist hier nicht willkommen“, sagte sie kalt.

„Mom, er ist ihr Sohn …“, versuchte ich ihr zu erklären, gab dann aber auf. Meine Großmutter hatte einmal den Fehler begangen, die Liebe meiner Mutter für meinen Vater infrage zu stellen, und seitdem war sie im Haus meiner Eltern nicht mehr erwünscht.

Ich hasse den Gedanken, nach Hause zurückzukehren, versuche, mir Ausreden einfallen zu lassen, warum ich hierbleiben muss. Ich werde mindestens zwei Vorlesungen versäumen, und außerdem muss ich mich um meine Tiere kümmern.

„Geh“, sagt Grandma. „Geh und besorge alle Infos über deinen Vater, die du kriegen kannst, und lass mich wissen, ob ich mir den Weg ins Krankenhaus mit meinen Ellbogen frei räumen muss, ob es deiner Mutter nun gefällt oder nicht. Ich kann mich in der Zwischenzeit um den räudigen Köter und die flohverseuchten Katzen kümmern. Bitte mich nur nicht, für den Vogel mehr zu tun, als ihn zu füttern und ihm Wasser hinzustellen“, witzelt sie. „Den fasse ich nicht an.“

Bevor ich gehe, umarme ich sie. Mal aus New Amery rauszukommen ist vermutlich gar keine so schlechte Idee. Missy will immer noch nichts mit mir zu tun haben. Ich kann das Flüstern hören und sehe, wie die Menschen mich offen anstarren. Wieder einmal bin ich das Mädchen, dessen Schwester eine Mörderin ist. Ich schlafe nicht, und in den meisten Nächten finde ich mich irgendwann vor dem Kühlschrank wieder, wo ich das darüberliegende Regal anschaue und das Für und Wider eines kleinen Schlucks Alkohols abwäge, bevor ich wieder ins Bett gehe.

„Vielleicht sollte ich Milo mitnehmen“, sage ich. „Er ist es nicht gewohnt, dass ich weg bin.“

„Pah“, sagt sie. „Wir kriegen das schon hin. Die Tiere werden mir Gesellschaft leisten. Wir werden dich vermissen, aber es ist gut, dass du dich endlich mit Allison triffst. Reinigt die Luft, fangt neu an.“

„Ich werde dich auch vermissen, Grandma. Am Sonntag bin ich wieder da, ganz sicher.“ Ich gebe ihr einen Kuss auf die Wange.

„Vergiss deine Medikamente nicht“, erinnert sie mich.

Ich drücke Milo noch ein letztes Mal, bevor ich zur Tür rausgehe.

Je näher ich Linden Falls komme, desto heftiger schlägt mein Herz. Der Druid River verläuft parallel zum Highway. Als ich dort entlangsause, sehe ich, wie der kleine Babykörper den Fluss hinunterspült, der mit meinem Auto Schritt hält und versucht, mich einzufangen. Ich trete das Gaspedal bis aufs Bodenblech durch und versuche, dem Bild zu entkommen. Ich weiß, dass es nicht möglich ist. Der Angler hat ihre kleine Leiche gefunden, und meine Eltern haben sich darum gekümmert, auch wenn ich nicht weiß, was das heißt. Es gab keine Beerdigung, kein Begräbnis. Was haben sie mit ihr gemacht? will ich sie fragen, aber wir sprechen nie darüber oder über Allison oder so etwas. Ich hoffe, wo immer das Baby auch ist, ist es warm und trocken.

Ich höre das Heulen einer Sirene und sehe einen Polizeiwagen mit blinkenden Lichtern im Rückspiegel. Nervös schaue ich auf den Tacho. Fünfundsiebzig Meilen in einer Fünfundfünzigerzone. Großartig. Ich werde langsamer und fahre an den Straßenrand. Der Polizist macht es mir nicht leicht. Er nimmt meinen Führerschein und geht langsam zu seinem Wagen zurück. Ich bete, dass er nicht mein Auto durchsucht. Ich habe eine Packung Hydrocodone in meiner Tasche, die meine Grandma nach ihrer Knieoperation verschrieben bekommen hat, und unter dem Sitz liegt eine halb volle Flasche Pfirsichschnaps. Ich wollte einfach nur sichergehen, etwas dabeizuhaben, das mir helfen wird, zu schlafen, während ich in Linden Falls bin. Nervös warte ich auf die Rückkehr des Polizisten. Als er endlich wieder neben mir steht, sagt er: „Brynn Glenn.“

„Ja?“ Fragend schaue ich ihn an.

„Ich war einer der ersten Officer am Tatort, als man das Baby vor einigen Jahren im Fluss gefunden hat.“ Ich senke den Blick, schaue meine Hände an und sage nichts. „Ich habe meine Frau begraben, habe Männer und Kinder in Kriegen sterben sehen – ich musste sogar einmal einen Menschen erschießen –, aber ich habe nie etwas so Trauriges und Verlorenes gesehen wie das arme Baby da im Flussbett.“ Seine Stimme klingt nicht wütend, nicht einmal verurteilend, und einen Moment lang denke ich, dass wir was gemeinsam haben.

Ich weiß. Ich weiß, wie Sie sich fühlen. Ich will seine Hand in meine nehmen. Sehen Sie sie nachts, wenn Sie die Augen schließen? Schreit sie in Ihren Träumen und manchmal sogar, wenn Sie wach sind? Schauen die Leute Sie seltsam an, weil Sie manchmal an sie denken und nicht anders können, als stehen zu bleiben und um ein kleines Mädchen zu weinen, das nicht mal einen Namen hatte? Fragen Sie sich je, wie anders Ihr Leben verlaufen wäre, wenn Sie in der Nacht nicht in Linden Falls gewesen wären?

Bevor ich jedoch irgendetwas davon laut aussprechen kann, beugt sich der Officer zu meinem heruntergelassenen Fenster vor und kommt mir mit seinem Gesicht so nah, dass ich erkennen kann, dass er die Augenfarbe eines Huskys hat – eisblau.

„Ich habe gehört, dass sie aus dem Gefängnis gekommen ist, deine Schwester. Sie ist eine kranke Schlampe. Es ist ein Wunder, dass sie sich nach dem, was sie getan hat, nicht umgebracht hat. Ich weiß nicht, wie sie mit dieser Schuld leben kann.“ Er reicht mir meinen Führerschein und einen Strafzettel über zweihundert Dollar wegen zu schnellen Fahrens und geht dann ohne einen Blick zurück zu seinem Wagen.

Ich hasse diese Stadt. Wenn es nicht um meinen Vater ginge, hätte ich nie auch nur mit dem Gedanken gespielt, hierher zurückzukehren. Ich werde meinen Vater und meine Mutter treffen und mich Allison stellen. Und dann werde ich mit ihnen allen fertig sein.