ALLISON

Ich denke, meine Schwester weiß nicht mal, dass ich aus dem Gefängnis entlassen werde. Zwei Jahre nach meiner Verurteilung hat sie ihren Highschool-Abschluss gemacht und ist nach New Amery gezogen, einem Städtchen zweieinhalb Stunden nördlich von Linden Falls, wo mein Vater aufgewachsen ist. Sie lebt bei unserer Grandma. Das Letzte, was ich gehört habe, ist, dass sie auf dem Community College etwas studiert, das sich Haustierwissenschaft nennt. Brynn hat Tiere schon immer geliebt. Ich bin froh, dass sie sich ein Studium ausgewählt hat, das zu ihr passt. Wenn es nach dem Willen meiner Eltern gegangen wäre, hätte Brynn an meiner Stelle Jura studieren müssen.

Brynn antwortet immer noch nicht auf meine Briefe und will auch nicht am Telefon mit mir sprechen, wenn ich sie bei Grandma anrufe. Ich meine, ich versteh das. Ich verstehe, warum sie nichts mit mir zu tun haben will. Wenn ich an ihrer Stelle wäre, hätte ich vermutlich das Gleiche getan. Aber ich hätte nie so lange von ihr fernbleiben können. Fünf ganze Jahre hat sie mich ignoriert. Ich weiß, ich habe sie als selbstverständlich angesehen, aber ich war noch ein Kind. Dafür, dass ich so klug war, wusste ich überhaupt nichts. Heute sehe ich die Fehler, die ich damals gemacht habe. Ich weiß nur nicht, wie ich meine Schwester zurückgewinnen, wie ich sie dazu bringen kann, mir zu verzeihen.

Während der Fahrt nach Linden Falls sprechen Devin und ich nicht viel, und das ist auch in Ordnung. Devin war nicht viel älter, als ich jetzt bin, als meine Eltern sie angeheuert haben, um mich zu vertreten. Frisch aus der Law School kam sie nach Linden Falls, weil ihr Sweetheart vom College hier aufgewachsen ist und sie heiraten und eine gemeinsame Kanzlei eröffnen wollten. Die Hochzeit hat nie stattgefunden. Er ist weggezogen, sie ist geblieben. Ohne Devin hätte ich vermutlich viel, viel länger im Gefängnis gesessen. Ich schulde ihr eine Menge.

„Du musst ein ganz neues Leben anfangen, Allison“, sagt Devin mir, während sie auf den Highway fährt, der den Druid River passiert und dann nach Linden Falls führt. Ich nicke, sage aber nichts. Ich will mich freuen, aber hauptsächlich verspüre ich Angst. In die Stadt zu fahren, in der ich geboren und aufgewachsen bin, macht mich schwindelig. Ich presse die Hände gegeneinander, um das Zittern unter Kontrolle zu bringen. Erinnerungen stürmen auf mich ein, als wir an der Kirche vorbeifahren, die ich jeden Sonntag besucht habe, an meiner Grundschule und der Highschool, wo ich nie einen Abschluss gemacht habe. „Alles in Ordnung mit dir?“, will Devin wissen.

„Ich weiß nicht“, antworte ich ehrlich und lehne meinen Kopf gegen die kühle Seitenscheibe. Wir fahren schweigend weiter, am St. Anne’s College vorbei, wo ich Christopher das erste Mal gesehen habe, vorbei an der Straße, an der wir abbiegen würden, wollten wir zu dem Haus fahren, in dem ich aufgewachsen bin. Am Fußballplatz vorbei, auf dem mein Team drei Mal in Folge die Stadtmeisterschaft gewonnen hat. „Halt“, sage ich plötzlich. „Bitte fahr hier mal rechts ran.“ Devin lenkt den Wagen auf das Grundstück des Fußballplatzes und stellt ihn neben einem Spielfeld ab, auf dem eine Gruppe jugendlicher Mädchen einen Fußball herumkickt. Ich steige aus dem Auto und schaue ein paar Minuten von der Seitenlinie aus zu. Die Mädchen sind total in ihr Spiel vertieft. Von der Anstrengung haben sie rote Gesichter, und ihre Haare sind nass geschwitzt.

„Kann ich mitspielen?“, frage ich schüchtern. Ich klinge überhaupt nicht wie ich. Die Mädchen bemerken mich nicht mal und spielen einfach weiter. „Kann ich mitspielen?“, versuche ich es erneut, dieses Mal lauter, und ein kleines, stämmiges Mädchen, das die braunen Haare mit einem Band zurückhält, bleibt stehen und beäugt mich skeptisch. „Nur eine Minute“, sage ich.

„Sicher“, erwidert sie und läuft wieder dem Ball hinterher.

Vorsichtig betrete ich das Spielfeld. Das Gras hat eine tiefe smaragdgrüne Farbe, und ich beuge mich vor, um es zu berühren. Es ist weich und nass von dem kürzlichen Regenschauer. Ich fange an zu laufen. Erst langsam, dann immer schneller. Ich habe versucht, im Gefängnis in Form zu bleiben, bin auf dem eingezäunten Innenhof Runden gelaufen, habe in meiner Zelle Liegestütze und Sit-ups gemacht. Aber das Fußballfeld ist mindestens neunzig Meter lang, und sehr schnell komme ich außer Atem und muss anhalten. Ich beuge mich vor, stütze mich mit den Händen auf den Knien ab. Meine Muskeln schmerzen bereits.

Die Mädchen kommen in meine Richtung. Ihre Haut ist gebräunt und gesund im Vergleich zu meiner eigenen weißen Haut, die so wenig Sonne abbekommen hat. Jemand passt den Ball zu mir herüber, und alles ist plötzlich wieder da. Das vertraute Gefühl des Balles zwischen meinen Füßen, der Instinkt, zu wissen, wohin ich mich bewegen muss. Ich flitze zwischen den Mädchen hindurch und dribble und passe den Ball über das Spielfeld. Eine Minute lang kann ich vergessen, dass ich ein einundzwanzigjähriger Exhäftling bin, an dem das Leben bereits vorbeigezogen ist. Ein Mädchen schießt den Ball zu mir, und ich spiele mich frei und ziehe davon. In meinen billigen Turnschuhen ohne Stollen rutsche ich, fange mich aber schnell wieder. Die Mittelfeldspielerin nähert sich mir, ich täusche links an, lasse sie hinter mir zurück und schicke einen Querpass zu dem Mädchen mit dem Haarband. Es schießt den Ball über die Schulter der Torhüterin ins Tor, und die Mädchen brechen in lauten Jubel aus. Eine Minute lang kann ich mir vorstellen, wieder dreizehn zu sein und mit meinen Freundinnen zu spielen, und ich lächle und lache und wische mir den Schweiß von der Stirn.

Dann schaue ich zum Spielfeldrand und sehe Devin, die dort mit einem amüsierten Gesichtsausdruck geduldig auf mich wartet. Ich muss albern aussehen, eine erwachsene Frau in Kakihosen und Poloshirt, die mit einer Gruppe Kinder Fußball spielt.

„Du bist ein Naturtalent“, sagt Devin, als wir gemeinsam zurück zu ihrem Auto gehen.

„Ja, was mir im Moment ja auch unglaublich viel nützt“, erwidere ich leicht beschämt. Ich bin froh, dass mein Gesicht bereits von der Anstrengung rot ist.

„Man kann nie wissen. Komm, wir haben noch ein wenig Zeit, bevor sie uns im Gertrude House erwarten. Lass uns was essen gehen.“

Als Devin vor dem Resozialisierungszentrum vorfährt, in dem ich die nächsten sechs Monate wohnen werde, fängt es wieder an zu regnen. Es ist ein altes Haus im viktorianischen Stil mit abblätternder weißer Farbe, schwarzen Fensterläden und einer umlaufenden Veranda mit weißen Schindeln. „Ich hatte es mir nicht so groß vorgestellt.“ Ich schaue an der Fassade hoch. Es wäre Furcht einflößend, wenn es nicht den schönen Vorgarten hätte.

„Es hat sechs Zimmer für jeweils zwei bis drei Frauen“, erklärt Devin. „Du wirst Olene mögen. Sie hat das Gertrude House vor ungefähr fünfzehn Jahren gegründet. Ihre Tochter ist gestorben, nachdem sie aus dem Gefängnis entlassen wurde. Olene dachte, wenn Trudy nach ihrer Entlassung einen Ort gehabt hätte, an den sie hätte gehen können, eine dem Gericht unterstellte Einrichtung, würde sie heute noch leben. Also hat sie Gertrude House eröffnet, um Frauen nach dem Gefängnis darauf vorzubereiten, sich wieder erfolgreich in die Gesellschaft zu integrieren und ein eigenständiges Leben zu führen.“

„Wie ist sie gestorben?“, will ich wissen. Wir steigen aus dem Auto aus und gehen zur Vordertür.

„Trudy hat sich geweigert, wieder bei ihrer Mutter einzuziehen. Stattdessen ist sie bei ihrem Freund eingezogen, durch den sie überhaupt erst drogenabhängig geworden war. Drei Tage nach ihrer Entlassung ist sie an einer Überdosis gestorben. Olene hat sie gefunden.“

Ich weiß nicht, was ich sagen soll, also eilen wir schweigend aus dem Regen auf die überdachte Veranda. Devin klopft an die Tür, und eine Frau um die sechzig in einer formlosen Kittelschürze erscheint. Sie ist dünn, hat kurz geschnittenes silberfarbenes Haar und gebräunte, ledrige Haut. Sie sieht aus wie eine Karotte, die man zu lange im Gemüsefach gelagert hat.

„Devin!“, ruft sie und schließt meine Anwältin in die Arme, wobei die silbernen Armreifen an ihren dünnen Handgelenken klimpern.

„Hallo, Olene“, sagt Devin lachend. „Es ist immer schön, dich zu sehen.“

„Du musst Allison sein.“ Olene lässt Devin los und nimmt meine Hand. Ihre Hand ist warm, und die alte Frau hat einen erstaunlich festen Händedruck. „Es ist so schön, dich kennenzulernen“, sagt sie leise, und ihre Stimme klingt rau. Es ist die Stimme einer Raucherin. „Willkommen in Gertrude House.“ Aus ihren grünen Augen schaut sie mich unverwandt an.

„Es ist auch schön, Sie kennenzulernen“, gebe ich zurück.

„Oh“, erwidert Olene, „wir duzen uns hier alle. Komm rein, dann erhältst du die große Führung.“ Sie betritt das Foyer. Ich schaue Devin an, in mir regt sich leichte Panik. Devin nickt mir ermutigend zu.

„Ich muss zurück ins Büro, Allison. Ich rufe dich morgen an, okay?“ Sie sieht die Sorgenfalten in meinem Gesicht und beugt sich vor, um mich zu umarmen. Auch wenn mein Körper steif und angespannt ist, bin ich dankbar für die Berührung. „Bye, Olene, und danke“, sagt Devin. An mich gewandt fügt sie hinzu: „Sei tapfer. Alles wird gut. Ruf mich an, wenn du was brauchst.“

„Mir geht es gut.“ Ich sage das mehr zu meiner als zu Devins Beruhigung. „Mach dir keine Sorgen.“ Ich sehe ihr hinterher, wie sie schnell die Verandastufen hinunter- und zu ihrem Wagen läuft, zurück in ihr eigenes Leben. Das könnte ich sein, denke ich. Ich könnte einen grauen Hosenanzug anhaben und Klienten in meinem teuren Auto herumfahren. Stattdessen trage ich einen Rucksack, in dem sich alles befindet, was ich besitze, und ziehe in ein Haus mit Leuten, denen ich in meinem anderen Leben keinen zweiten Blick gegönnt hätte. Ich drehe mich wieder zu Olene um. Sie mustert mich eindringlich und hat einen Ausdruck im Gesicht, den ich nicht ganz deuten kann. Mitleid? Traurigkeit? Erinnerungen an ihre Tochter? Ich weiß es nicht.

Sie räuspert sich und fängt mit der Führung an. „Im Moment haben wir hier zehn Bewohner – beziehungsweise elf, jetzt, wo du da bist. Du teilst dir ein Zimmer mit Bea. Nette Frau. Sie war mal Bibliothekarin.“ Olene nickt in Richtung eines langen, quadratischen Raums zu ihrer Linken. „Das ist unser Raum für Meetings. Hier treffen wir uns jeden Abend um sieben. Das da ist das Esszimmer. Abendessen ist pünktlich um sechs. Um Frühstück und Mittagessen musst du dich selber kümmern. Die Küche ist da gerade durch – ich zeige sie dir am Ende der Tour. Wie so oft ist auch im Gertrude House die Küche das Herz des Ganzen.“

Olene geht jetzt schneller, und ich muss mich konzentrieren, mit ihr mitzuhalten, anstatt stehen zu bleiben und jeden Raum einzeln auf mich wirken zu lassen. Nach meiner schlichten Gefängniszelle ist Gertrude House wie ein Angriff auf alle Sinne. Es gibt hell gestrichene Wände, Bilder und Fotos, Möbel, und überall steht Krimskrams herum. In einer Ecke des Hauses spielt Musik, und ich denke, ich höre ein Baby weinen. Auf meinen fragenden Blick hin erklärt Olene: „Familienmitglieder dürfen zu Besuch kommen. Das Weinen kommt von Kaseys Baby. Kasey verlässt uns nächste Woche, um zu ihrem Mann und den Kindern zurückzuziehen.“

„Warum ist sie hier?“, frage ich, während Olene mich zu einem Raum führt, der offensichtlich als Familienzimmer dient.

„Im Gertrude House konzentrieren wir uns nicht auf unsere Verbrechen. Wir versuchen, unser Augenmerk darauf zu richten, wie wir das Leben jedes Einzelnen hier besser machen und den anderen Bewohnern helfen können, ihre Ziele zu erreichen. Abgesehen davon“, Olene schüttelt kurz den Kopf, „machen Neuigkeiten hier schnell die Runde, und du wirst die anderen bald schon gut kennenlernen.“

Ich bin mit einem Mal sehr müde und frage mich, ob Olene mich bald zu meinem Zimmer bringt. Ich will einfach nur unter die Decke krabbeln und schlafen. Wir kommen an einer kleinen, untersetzten Frau vorbei. Sie hat schwarze Haare, die ihr bis zur Taille reichen, und mehrere Piercings in Nase und Lippen. „Allison, das ist Tabatha. Tabatha, das ist Allison Glenn. Sie teilt sich ein Zimmer mit Bea.“

„Ich weiß, wer du bist“, feixt Tabatha und wirft ihr Haar zurück, um einen großen Eimer mit Reinigungsutensilien in die Hand zu nehmen. Ich habe nie wirklich gedacht, dass ich den Grund, warum ich im Gefängnis war, verheimlichen könnte, aber ich wäre viel lieber als das Mädchen bekannt, das Autos gestohlen oder Kokain geschnupft oder sogar seinen Ehemann erschlagen hat, als als das, das ich nun mal bin.“

„Nett, dich kennenzulernen“, sage ich, und Tabatha stößt einen derart verächtlichen Laut aus, dass ich fürchte, eines ihrer Nasenpiercings fliegt gleich raus und trifft mich an der Brust. Ich denke an meine Freundin Katie und muss beinahe lachen. Als wir vierzehn waren, hat sie sich ohne Wissen ihrer Eltern den Nabel piercen lassen. Als sie mir das Piercing zeigte, war es ganz eitrig und infiziert. Ich habe versucht, ihr zu helfen, aber sie war kitzelig und hat sich jedes Mal gewunden, wenn ich auch nur in die Nähe ihres Bauchs kam. Brynn war hereingekommen, während ich Katie half, die Wunde zu reinigen, und wir konnten nicht aufhören zu lachen. Jedes Mal, wenn Brynn und ich jemanden mit einem ungewöhnlichen Piercing sahen, brachen wir in lautes Gekicher aus.

Ich entscheide mich, Tabatha zu ignorieren, und wende mich an Olene. „Dürfen wir hier das Telefon benutzen? Kann ich meine Schwester anrufen?“