ALLISON

Jeden Tag auf meinem Weg zum Buchladen habe ich Angst, dass Claire oder sogar Joshua mich anschauen und mit einem Mal wissen, wer ich bin. Würde das gegen meine Bewährungsauflagen verstoßen? Würden sie mich ins Gefängnis zurückschicken? So widerstrebend ich Cravenville auch verlassen habe, die kurze Zeit in Freiheit hat mir doch gezeigt, dass ich nie wieder dorthin zurückkehren will. Aber auch wenn ich mir ihr Gesicht sorgfältig anschaue, kann ich bei Claire keinen Unterschied erkennen; sie begrüßt mich fröhlich, und wir unterhalten uns angeregt über alles Mögliche.

Mit jeder Minute, die ich mit Claire verbringe, mag ich sie mehr. Sie spricht mit mir, als wäre ich kein Niemand. Sie verhält sich mir gegenüber ganz normal und behandelt mich nicht von oben herab – auch nicht wegen meiner Vergangenheit. Mir gefällt es, bei Bookends zu arbeiten. Ich mag die Kelbys. Ich weiß, ich sollte ihnen sagen, dass ich vermute, dass Joshua mein Sohn ist, aber ich kann es nicht. Ich will es auch nicht.

Um halb vier stürmt Joshua in den Laden. Sein normalerweise blasses Gesicht ist ganz rot, und er hat die Lippen wütend aufeinandergepresst. Irgendwie scheint er zu glitzern. Als ich genauer hinsehe, erkenne ich, dass es sich um orangefarbenen Glitter handelt. Joshua versucht entschlossen, die einzelnen Glitterstückchen von seinem Arm zu zupfen, aber das führt nur dazu, dass sie sich auf einem anderen Teil seines Körpers niederlassen. Jonathan folgt Joshua. Er wirkt frustriert. Schnell tritt Claire hinter dem Tresen hervor. „Was ist los?“, fragt sie besorgt.

„Josh hatte heute einen schweren Tag in der Schule, der Kleber und Glitter beinhaltet hat“, antwortet Jonathan.

„Was ist passiert?“ Claire wendet sich an Joshua, der eine finstere Miene macht und die Arme trotzig vor der Brust verschränkt.

Jetzt erst bemerkt Jonathan mich. „Hey, Allison“, sagt er. „Seine Lehrerin sagt, sie hätten im Kunstunterricht Blätter aus Papier ausgeschnitten und mit Kleber eingeschmiert, auf den sie dann Glitzer gestreut haben. Natürlich hat Joshua Kleber an seine Finger bekommen, und daran ist dann Glitter hängen geblieben. Ich muss die Schule loben – Mrs Lovelace hat Joshua geholfen, den Kleber von den Händen abzuwaschen, aber natürlich waren seine Hände danach nicht ganz trocken, und das hat Joshua wahnsinnig gemacht. Von da an ging es nur noch bergab.“

Ich sehe, dass Claire in Erwartung dessen, was kommt, zusammenzuckt. Joshua reibt sich wie wild über den Arm und fängt an zu weinen. „Hör auf, Josh“, rügt Claire ihren Sohn. „Du kratzt dir die Haut auf.“ Joshua wirbelt herum, sodass er uns den Rücken zuwendet, und fährt fort, seinen Arm zu kratzen. Ich weiß nicht, ob ich versuchen soll zu helfen oder mich wieder der Untersuchung der Alarmanlage widmen und so tun soll, als würde ich die ganze Aufregung nicht bemerken.

„Nach Aussage von Mrs Lovelace“, fährt Jonathan über Joshuas Weinen hinweg fort, „hat Joshua sein Blatt zusammengeknüllt und damit nur noch mehr Kleber und Glitzer auf sich verteilt. In einem Wutanfall, an den man sich, da bin ich mir sicher, noch lange erinnern wird, hat er dann die Flasche mit dem Glitter genommen und angefangen, das Zeug im gesamten Klassenzimmer zu verteilen. Über die anderen Kinder, ihre Aufgaben, die Lehrerin und sich selbst. Joshua …“ In einer Geste der Verzweiflung hebt Jonathan die Arme. „… wurde aus dem Raum geführt.“

„Oh Joshua“, sagt Claire enttäuscht. Als sie ihm die Hände auf die dünnen Schultern legt, setzt er sich auf den Boden und weint nur noch heftiger.

Ohne darüber nachzudenken, knie ich mich so hin, dass ich mich in Joshuas Blickfeld befinde. Einen Moment lang ebbt sein Weinen ab, und er mustert mich misstrauisch aus dem Augenwinkel. Ich spreche, bevor er mit seinem Wutanfall fortfahren kann. „Joshua, das klingt ganz so, als hättest du einen harten Tag gehabt.“ Er dreht sich von mir weg und fängt wieder an zu weinen, aber dieses Mal etwas weniger heftig, sodass ich einfach fortfahre: „Ich wette, du wärst gern auf der Stelle den Glitter los.“ Das lässt ihn verstummen. Er atmet schwer, aber ich spüre, dass er zuhört, also rutsche ich ein wenig näher an ihn heran und spreche leise und beruhigend auf ihn ein – genau so, wie ich es mache, wenn ich im Gertrude House auf Flora treffe und sie wütend ist. „Ich wette, du wusstest nicht, dass es ein Zauberklebeband gibt, das extra dafür benutzt wird, Glitter abzumachen.“ Ich stehe auf und gehe hinter den Tresen, öffne eine Schublade und hole eine Rolle Paketklebeband heraus.

Argwöhnisch betrachtet Joshua die Rolle. „Das ist einfach nur normales Klebeband“, informiert er mich.

Ich zucke mit den Schultern und sage: „Es sieht nur wie normales Klebeband aus. Wir können es ja mal versuchen, wenn du magst. Oder wenn nicht, kannst du den Glitter auch gerne behalten, wenn dir das lieber ist.“ Ich lege das Klebeband auf den Tresen. Das ist etwas, das ich im Gefängnis gelernt habe – wann immer es dir möglich ist, lasse dem anderen die Chance, sein Gesicht zu wahren.

Er denkt einen Moment lang nach und steht dann zu unser aller Überraschung auf. „Okay, ich probiere es.“ Ich reiße ein Stück Klebeband von der Rolle und lege es so zu einer Schlaufe zusammen, dass die klebrige Seite nach außen zeigt.

„Willst du es selbst versuchen?“, frage ich. „Oder sollen Mom und Dad dir helfen?“

„Tut es weh?“, fragt Joshua ängstlich.

„Kein bisschen“, versichere ich ihm.

„Dann mach du das“, sagt er. Es klingt wie ein Befehl.

„Joshua“, verwarnt Claire ihn.

„Würdest du mir bitte mit dem Zauberklebeband helfen?“, versucht er es erneut.

„Sicher“, sage ich. „Sieh genau hin, das ist wirklich ziemlich beeindruckend.“ Vorsichtig reibe ich mit dem Klebeband über den Ärmel seines T-Shirts und zeige Joshua dann den orangefarbenen Glitter, der daran hängen geblieben ist. „Cool, oder?“ Ich lächle ihn an. Er lächelt zurück. Und da ist sie, unsere Verbindung. Sie ist subtil, nur ein Funke – oder besser gesagt ein Schimmer –, aber sie ist da. Ich weiß nicht, ob er mich wiedererkennt, aber wir haben ein zartes Band geknüpft. Ich schaue zu Claire, und sie lächelt mich mit neu gewonnenem Respekt an. Dann schaue ich zu Jonathan, der ebenfalls beeindruckt ist.

Die nächsten dreißig Minuten verbringe ich mit Joshua in der Kinderabteilung des Buchladens und entferne sorgfältig jedes Glitterpartikelchen von seinem T-Shirt, seiner Hose und sogar seinen Schuhen. Der Glitter, der an seinen Fingern, seinem Gesicht und seinen Haaren klebt, ist allerdings eine ganze andere Sache. Joshua hat Angst, mich das Klebeband direkt auf seiner Haut anwenden zu lassen. „Das tut weh“, sagt er mir und schaut gleichzeitig ernst und erwartungsvoll drein.

„Nun, das ist deine Entscheidung“, sage ich. „Du kannst den Glitter lassen, wo er ist, oder wir können versuchen, ihn mit dem Zauberklebeband von deiner Haut zu entfernen. Wenn du findest, dass es wehtut, höre ich auf.“

„Kann ich es selbst versuchen?“, fragt er hoffnungsvoll.

„Natürlich.“ Ich zeige ihm, wie er das Klebeband falten muss. Er drückt es leicht gegen seine Haut, zieht es ab und untersucht mit ernster Miene die daran klebenden Glitzerpartikel.

„Das hat gar nicht wehgetan“, freut er sich und fährt mit der Arbeit fort, bis seine Hände glitterfrei sind. Joshua erlaubt mir, ihm mit dem Gesicht und den Haaren zu helfen, solange ich verspreche, nicht zu sehr zu ziehen und sofort aufzuhören, wenn er darum bittet. Er schließt die Augen und legt den Kopf in den Nacken, damit ich sein Gesicht behandeln kann, und die ganze Zeit, die ich an ihm arbeite, betrachte ich sein längliches Gesicht und das spitze Kinn. Ich lerne das Muster der blauen Adern auf seinen geschlossenen Lidern auswendig und präge mir seine Wimpern ein, die sich wie ein Fächer auf seine Wangen legen. Die Art, wie er seine Lippen unter der Stupsnase zu einem Schmollmund verzogen hat, erinnert mich ganz stark an Christopher. Als ich ihm sage, dass ich fertig bin, fragt er: „Kann ich es sehen?“ Er läuft zu den Toiletten, um in den Spiegel zu schauen. Ich kehre nach vorn in den Laden zurück, wo Claire gerade einen Kunden bedient. Joshua kommt wenige Minuten später breit lächelnd dazu. „Es hat funktioniert“, erklärt er seiner Mutter. „Vielleicht kann ich etwas von dem Klebeband mit in die Schule nehmen.“

„Sicher“, sagt Claire. „Aber ich wette, wenn du deine Lehrerin fragst, hat sie sicher selbst welches. Und was sagst du jetzt zu Allison?“

„Danke“, bringt er schüchtern hervor.

„Gern geschehen“, erwidere ich.

„Mom, kann ich was zu essen haben?“ Joshua sieht Claire an, und mein Herz zieht sich zusammen, ohne dass ich sagen könnte, warum.

„Hol dir ein paar Cracker aus dem Büro.“ Er zischt ab. „Wow“, sagt sie dann an mich gewandt und klingt beinahe bewundernd. „Das hast du super gemacht.“ Ich erröte. „Wo hast du das gelernt?“

Ich zucke mit den Schultern, als wäre es keine große Sache. „Es ist immer gut, dem anderen eine Wahl zu lassen. Dann fühlt er sich nicht in die Ecke gedrängt.“

Claire schüttelt den Kopf. „Das habe ich in ungefähr jedem Erziehungsratgeber gelesen, aber immer, wenn ich daran denke, hat Joshua sich schon dermaßen in seine Wut hineingesteigert, dass alles zu spät ist. Ich werde es beim nächsten Mal noch mal versuchen.“

Verlegen schaue ich zu Boden. „Hast du eine Aufgabe für mich? Soll ich Bücher einsortieren oder so?“

„Weißt du, was mir eine große Hilfe wäre?“ Claire schaut zu der Bulldogge, die an der Eingangstür steht und gegen die Scheibe sabbert. „Würde es dir was ausmachen, einmal kurz mit Truman um den Block zu gehen? Ich will Joshua im Moment nicht allein lassen.“ Entschuldigend lächelt sie mich an. „Ich weiß, das gehört nicht zur Arbeitsplatzbeschreibung in einem Buchladen, aber Truman und der Laden kommen sozusagen im Paket.“

„Kein Problem“, sage ich. „Truman ist toll. Da, wo ich wohne, sind leider keine Tiere erlaubt.“ Ich hole schnell meine Jacke aus dem Büro im hinteren Teil des Ladens. Als ich zurückkomme, ist Jonathan gegangen – zurück zur Arbeit, schätze ich – und Claire und Joshua haben sich bereits in ein Buch vertieft. Ich lege Truman die Leine an, und gemeinsam gehen wir hinaus in die frische Septemberluft. Ich führe ihn zu einem kleinen Rasenstück neben dem Laden und warte geduldig, bis er sich erleichtert hat.

Ich spüre ihn im Rücken, kaum merklich, aber doch da. Irgendjemandes Blick. Daher drehe ich mich um und sehe, dass es Claires Ehemann ist, der in seinem weißen Truck sitzt und mich mit unbeweglicher Miene beobachtet. Bevor ich es verhindern kann, hebe ich die Hand und winke ihm zu. Er lächelt und winkt zurück. Dann legt er den Gang ein und rollt langsam vor, und eine Minute lang denke ich, er hält an, um mit mir zu sprechen, doch das tut er nicht. Stattdessen fädelt er sich in den Verkehr ein und fährt weg. Noch lange schaue ich ihm hinterher, selbst als er um die Ecke gebogen und außer Sicht ist. Ich frage mich, ob er weiß, wer ich bin. Aber das ist unmöglich. Truman zieht an der Leine, also kehre ich mit ihm zu Bookends zurück und sehe, dass Joshua im Schaufenster steht und mich beobachtet.