CLAIRE

Die Laternen, die die Sullivan Street säumen, gehen abends erst um halb zehn an, obwohl es schon seit sieben Uhr stockfinster ist. Joshua steht an dem Schaufenster von Bookends, drückt die Finger gegen die Scheibe und sieht dem Regen zu, der wie ein silberner Vorhang vom Himmel fällt. Seine Finger hinterlassen kleine, schmierige Abdrücke, und Claire weiß, dass sie nicht das Herz haben wird, sie wegzuwischen. Sieh nur, scheinen die Flecken zu sagen, sieh nur, wer hier gewesen ist – ein kleiner Junge von fünf Jahren, der saure Gummiwürmer und Brause mit Schokoladengeschmack liebt. Beides hat Claire ihrem Sohn in einem seltenen Moment der Nachsichtigkeit erlaubt. Sie sollten so spätabends eigentlich nicht mehr im Buchladen sein, aber Shelby, Claires siebzehnjährige Aushilfe, hat sich an diesem Montag krankgemeldet. Dann hatte die Decke ein Leck, was zu hastigem Umräumen und Aufwischen führte. Truman hat sich genervt ins Hinterzimmer verzogen, und Claire hat Joshuas Bettelei nach seinen liebsten Süßigkeiten nachgegeben.

Jetzt, zwei Stunden später, erklimmt eine erschöpfte Claire die klapprige Trittleiter, auf der sie sich nach Jonathans fester Überzeugung eines Tages den Hals brechen wird, um die Inventur zu beenden, mit der sie schon vor Stunden hätte fertig sein sollen.

„Mom“, quengelt Joshua. „Ich habe einen Blitz gesehen. Ich glaube, gleich wird es donnern.“

„Gib mir nur noch ein paar Minuten, Joshua, dann packen wir zusammen und gehen nach Hause. Ich bin beinahe fertig. Bist du müde?“ Joshua schüttelt den Kopf. „Wir müssen langsam damit anfangen, dich früher schlafen zu legen. Nächste Woche fängst du mit der Schule an“, sagt sie und überfliegt die Bücher im obersten Regal, um sich auf ihrem Klemmbrett zu notieren, welche nachgeordert werden müssen.

„Kann ich nach oben gehen?“, fragt Joshua. Über dem Buchladen gibt es ein unbewohntes, aber vollständig eingerichtetes Einzimmerapartment, das Jonathan in der Hoffnung ausgebaut hat, es eines Tages an einen Collegestudenten vermieten zu können.

„Nein. Tut mir leid.“ Claire schüttelt den Kopf. „Dad hat da oben immer noch viel Werkzeug herumliegen. Außerdem gibt es dort sowieso nichts zu sehen, außer einer undichten Decke. Ich verspreche dir, ich bin in …“ Sie schaut auf die Uhr, um ihm eine Zeit zu sagen, wann sie gehen werden, und fällt dabei beinahe von der Leiter. „Hups“, stößt sie erschrocken hervor und hält sich schnell fest. „Wir gehen in fünfzehn Minuten.“

Joshua seufzt schwer, als wenn er seiner Mutter nicht ganz glauben würde. „Okay. Ich gehe nach da hinten.“ Mit dem Daumen zeigt er auf den Kinderbereich und schleicht sich erschöpft davon.

So ein kleiner alter Mann, denkt Claire. Sie hört das Läuten der Glocke, als die Vordertür geöffnet wird und zwei junge Männer hereinkommen. „Tut mir leid, wir haben schon geschlossen“, entschuldigt sie sich, hasst sie es doch, Leser abzuweisen. Nicht nur wegen des Geldes, auch wenn das natürlich eine Rolle spielt, sondern weil sie weiß, wie sich die Sehnsucht nach dem Gewicht eines Buches in der Hand anfühlt. „Morgen um neun sind wir wieder für Sie da“, fügt sie über ihre Schulter hinzu. Sie wird erst misstrauisch, als die Männer ihre Kapuzen aufsetzen und die Gesichter im Schatten ihrer übergroßen Sweatshirts verbergen. Es ist Ende August, und trotz des Regens ist es abends immer noch sehr warm. Claire bekommt es mit der Angst zu tun und hat nur noch einen Gedanken. Joshua.

Der kleinere der beiden Männer schaut zu Claire hinauf. Seine Kapuze rutscht ein wenig nach hinten, dunkle Augen blitzen in ihre Richtung. Der zweite Junge, größer und schlanker, geht schnurstracks zur Kasse. Ein knochiger Finger mit abgeknabbertem Nagel drückt auf den Knopf, die Schublade öffnet sich mit einem Klingeln und trifft ihn in den Magen, sodass das Geräusch von klirrenden Münzen durch den Laden hallt. „Hey“, ruft Claire ungläubig. „Was tust du da?“

Der große Junge ignoriert sie und fängt an, die Scheine und Münzrollen aus der Kasse in die Taschen seines Sweatshirts zu stopfen. Claire macht sich daran, von der wackligen Leiter zu klettern; will sich zwischen Joshua und die beiden Diebe stellen.

„Bleib, wo du bist“, befiehlt der größere Junge. Sie steigt noch eine Stufe weiter hinunter und schickt ein stummes Stoßgebet gen Himmel, dass Joshua nicht aus der Kinderecke nach vorne in den Laden kommt. „Ich hab gesagt, du sollst da bleiben!“, ruft der Junge und bewegt sich auf Claire zu. Seine Kapuze rutscht nach hinten und enthüllt braune Haarsträhnen, die ein Gesicht umrahmen, das sehr gut aussehend sein könnte, wenn seine Lippen nicht zu einem wütenden Grinsen verzogen wären und fleckige Zähne entblößen würden. Meth-Zähne, denkt Claire. Der Junge hat leblose, dunkle Augen. Wo ist Truman? Wo ist der Hund, wenn man ihn mal braucht?

Wieder muss Claire an Joshua denken. Sie hofft, dass er da hinten bleibt, wo man ihn nicht sieht, aber als sie einen Blick über die Schulter wirft, sieht sie ihn dastehen, Angst in den Augen. Er sieht so klein und zerbrechlich aus. Sein Gesicht ist vor Sorge ganz angespannt, und die Hände hält er verkrampft vor seinen Bauch. Die Diebe haben ihn noch nicht bemerkt. Kaum merklich schüttelt Claire den Kopf, will ihn dazu bringen, in die Kinderecke zurückzukehren und sich zu verstecken, doch Joshua steht da wie erstarrt. Claire macht einen weiteren zögerlichen Schritt auf der Leiter nach unten, und der kriminelle Junge greift in die Tasche seines Sweatshirts. Ein paar Geldscheine schweben zu Boden. Claire sieht Metall aufblitzen. „Keinen verdammten Schritt weiter.“ Der Junge spuckt die Worte förmlich aus, während er ein Messer aus der Tasche zieht.

„Ich … ich mache ja gar nichts“, versichert Claire ihm. Schnell lässt sie den Blick von Joshua zum Messer und zurück schweifen.

„Jesus.“ Sein Partner geht zur Kasse. „Was machst du da? Pack das weg.“ Der Junge ist kleiner und stämmiger, er hat die Figur eines Turners oder Ringers. Schwarze, lockige Haare lugen unter seiner Kapuze hervor, und seine Augen sind grau, haben die Farbe von Schiefer.

„Halt den Mund“, befiehlt der Große seinem Freund und wendet sich dann wieder Claire zu. „Wo ist der Safe?“

„Es gibt keinen Safe, nur die Kasse.“ Sie bekommt langsam einen Krampf in den Beinen und unterdrückt den Drang, sie auszuschütteln, weil sie Angst hat, eine falsche Bewegung könnte die Situation eskalieren lassen.

„Wo ist der Safe?“, fragt er erneut, diesmal lauter.

Sie alle hören das Wimmern im gleichen Augenblick, und Claires Herz setzt einen Schlag aus. Joshua.

„Was zum Teufel ist hier los?“, schreit der kleinere der beiden Diebe.

„Mom?“, sagt Joshua. „Ist es endlich Zeit, nach Hause zu gehen?“ Er schaut ängstlich von seiner Mutter zu dem Messer, das der größere Dieb in der Hand hält.

„Es ist okay, Josh“, versucht Claire ihn zu beruhigen, obwohl sie selbst panische Angst hat. „Geh zurück. Alles wird gut. Geh zurück und warte dort auf mich.“ Josh macht einen vorsichtigen Rückwärtsschritt.

„Nein! Du bleibst genau da, wo du bist“, ruft der große Junge. Joshua blinzelt ein paar Mal schnell und zögert nur eine Sekunde, dann rast er in den rückwärtigen Teil des Ladens. Der große Dieb macht Ansätze, ihm hinterherzulaufen, und Claire fängt sofort an, die Leiter herunterzuklettern, da spürt sie, wie sie unter ihr zu schwanken beginnt.

Die Scharniere der Leiter geben unter der plötzlichen Bewegung nach, und Claire verliert den Halt. Es ist kein tiefer Sturz – sie stand nicht sehr weit oben, vielleicht auf ein Meter fünfzig Höhe –, und sie versucht, sich im Fallen zu drehen, sodass sie nicht flach auf den Rücken stürzt. Sie hat immer darüber gelacht, wenn Menschen beschrieben, dass in solchen Momenten die Zeit langsamer zu vergehen scheint, hatte es als Streich abgetan, den einem das Gehirn spielt. Aber es stimmt tatsächlich. Während ihres Sturzes fallen ihr eine Menge Einzelheiten auf.

Sie schaut den größeren Dieb an, der sich entschieden hat, dass Joshua es nicht wert ist, gejagt zu werden. „Komm schon“, ruft der andere Junge nervös. Nur dass es in ihren Ohren wie „Koooooomm schoooooooooon“ klingt. Langsam und gedehnt wie Toffee. Er hat Angst, das kann Claire in seinen Augen lesen. Er kann nicht älter als fünfzehn sein, denkt Claire und fragt sich, ob die Mütter der beiden wissen, was ihre Söhne so treiben. „Lass uns hier verschwinden!“, ruft er, und dann eilen sie zur Tür. Sie gehen. Gott sei Dank. Und alles läuft wieder in normaler Geschwindigkeit ab.

Claires rechte Schulter kommt zuerst auf dem Boden auf. Schmerz explodiert in ihrem Arm. Dann schlägt ihr Kopf auf, und ein warmes gelbes Licht blitzt hinter ihren Lidern auf. Sie hört den größeren Jungen von der Tür aus rufen: „Leg auf! Leg das Telefon auf!“

Dann hört sie seine Stimme, leise und zögerlich. „Sie haben Mama zum Fallen gebracht“, sagt Joshua zitternd und verängstigt ins Telefon. „Sie haben das Geld genommen“, fügt er atemlos hinzu.

„Lauf!“ Claire versucht zu schreien, aber durch den Aufprall ist die ganze Luft aus ihren Lungen gepresst worden.

„Leg den verfickten Hörer auf!“, stößt der Dieb zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Claire fängt an, über den Boden zu Joshua zu robben; mit den Armen zieht sie sich vorwärts. Der Schmerz in ihrer Schulter und ihrem Kopf muss hinter dem Wunsch, zu ihrem Sohn zu kommen, zurückstehen. „Lauf“, keucht sie verzweifelt.

Joshua lässt das Telefon los; es fällt zu Boden, doch anstatt wegzulaufen, geht er zu seiner Mutter und lässt sich neben ihr auf das Parkett sinken. Claire hört eine Sirene in der Ferne und in ihrem Ohr Joshuas panischen Atem. Die Diebe hören die Sirenen auch und laufen schnell weg.

„Es ist okay, Joshua“, versichert Claire ihrem Sohn schwach. „Alles okay, mein Schatz.“ Er sitzt im Schneidersitz neben ihr. Seine Finger umklammern ihr Handgelenk so fest, als ob er Angst hat, sie würde jeden Moment davonfliegen. Der Schmerz in ihrer Schulter und das Pochen in ihrem Kopf drehen Claire den Magen um, ihr kommt Galle hoch. Sie dreht das Gesicht zur Seite, weg von Joshua, und übergibt sich. Sie hört ihn schluchzen und spürt seinen zitternden Körper an ihrem, aber er hält immer noch ihr Handgelenk umklammert, verstärkt sogar den Griff. „Nicht weinen, Joshua“, flüstert Claire. Tränen fließen ihr über die Wangen. „Bitte weine nicht.“ Endlich kommt auch Truman zu ihnen, stupst Claires Füße mit seiner feuchten Nase an, setzt sich, und zu dritt warten sie darauf, dass Hilfe kommt.

Erst als die Ambulanz eintrifft und die Rettungssanitäter Joshua versichern, dass sie da sind, um zu helfen, löst er seine Finger und hinterlässt fünf perfekt runde, rote Abdrücke auf ihrem Handgelenk. „Es ist okay, Josh“, erzählt Claire ihm wieder und wieder.

„Einer der Polizisten wird bei Ihrem Sohn bleiben, bis Ihr Ehemann kommt“, verspricht der Rettungssanitäter Claire. „Sie sind ganz schön schwer gestürzt. Wir müssen Sie röntgen und von einem Arzt durchchecken lassen. Haben Sie sehr große Schmerzen?“

Claire nickt. „Kann er nicht bei mir bleiben? Ich will ihn nicht alleine lassen.“ Sie versucht, den Kopf zu heben, um Joshua zu sehen, zuckt aber unter der Bewegung zusammen. Er sitzt mit Trumans Kopf im Schoß auf dem roten Sofa. Ein junger Polizist nähert sich ihm, kniet sich hin und sagt etwas zu Joshua, das ihn seine Mundwinkel nach oben ziehen lässt.

„Wir müssen Sie wirklich ins Krankenhaus bringen, Ma’am. Der Officer wird hierbleiben und sich um den Jungen kümmern.“

„Ich glaube, ich muss mich wieder übergeben“, stößt Claire beschämt hervor.

„Das ist okay.“ Er nickt Claire zu. „Ich bin sicher, dass Sie eine Gehirnerschütterung haben. Nur keine Hemmungen.“

Als Claire im Krankenhaus ankommt und in den Notaufnahmebereich geschoben wird, ist Jonathan bereits da, er steht an der Tür und wartet nervös.

„Claire?“, fragt er, als die Trage zum Halten kommt. „Claire, geht es dir gut?“

„Joshua“, sagt sie. „Wo ist Joshua?“ Schnell setzt sie sich auf, und ein höllischer Schmerz schießt ihr durch den Kopf, als sie sich nach ihrem Sohn umschaut.

„Ihm geht es gut“, versichert Jonathan ihr. Tränen steigen ihm in die Augen, als er seine Frau anschaut. „Ein Polizist ist mit ihm gerade auf dem Weg hierher.“ Zärtlich streichelt er ihr den Kopf. „Wie geht es dir? Was ist passiert?“

Claire versucht, den Raubüberfall zu beschreiben, während der Sanitäter sie den Krankenhausflur entlangrollt. Jonathan hält im Gehen ihre Hand, aber ihre Augen sind so schwer und fallen immer wieder zu. Sie will nur noch schlafen, kämpft jedoch tapfer dagegen an. „Du hättest Joshua sehen sollen“, sagt sie, und in ihrer Stimme schwingen Stolz und Erstaunen mit. Claire schaut auf ihr Handgelenk, das, was Joshua so fest umklammert gehalten hat, während sie auf Hilfe gewartet haben. Sie verspürt ein Gefühl der Panik, als sie sieht, dass seine Fingerabdrücke verschwunden sind. Einen Moment lang hat sie das Gefühl, Joshua wäre fort, von immer von ihr gerissen. Aber dann hört sie das vertraute Geräusch seiner Schritte, und gleich darauf ist er auch schon an ihrer Seite.

„Mein mutiger Junge“, flüstert Claire und streckt ihre Hand nach ihm aus, bevor der Schlaf sie endgültig übermannt.