CLAIRE

Im Bookends ist es dämmrig und ruhig. Ein plötzlicher Regenguss hat an diesem Samstagnachmittag die drückende Augusthitze und alle Kunden vertrieben. Während Claire Kelby eine Kiste mit Büchern auspackt, steckt Joshua seinen Kopf hinter dem Tresen hervor. Sein blondes Haar steht ihm zu allen Seiten vom Kopf ab. Sie unterdrückt den Drang, ihre Finger zu benetzen und die wirren Strähnen zu glätten. Mit seinen dunkelbraunen Augen schaut er sie erwartungsvoll an.

„Kann ich Ihnen helfen, junger Mann?“, fragt Claire ihren Sohn in gespielter Ernsthaftigkeit.

„Mir ist langweilig“, entgegnet Joshua trübsinnig und tritt gegen den Tresen.

„Du hast schon alle Bücher von da hinten gelesen?“, fragt Claire ihn, und Joshua wirft einen Blick über seine Schulter auf die Reihen und Reihen an Büchern in den Regalen. Er nickt und versucht, ein Lächeln zu unterdrücken.

„Hm-hm“, sagt Claire skeptisch. „Wo ist Truman?“

„Der schläft“, quengelt Joshua und zieht die Augenbrauen zusammen. „Wieder mal.“ Truman ist ihre sechs Jahre alte, rot gefleckte Englische Bulldogge.

„Da kann ich ihm keinen Vorwurf machen. Es ist ein regnerischer Tag, genau das richtige Wetter für ein Nickerchen“, erwidert Claire. „Willst du mir helfen? Ich muss noch viele Kisten öffnen und Bücher einsortieren, bevor wir schließen können. Oder möchtest du vielleicht auch ein Nickerchen machen?“

„Ich bin nicht müde“, widerspricht Joshua dickköpfig, obwohl seine Augen schon ganz klein sind. „Wann kommt Daddy?“

„Er wird bald hier sein“, versichert Claire ihrem Sohn und beugt sich über den Tresen, um ihm einen Kuss auf sein blondes Haar zu drücken. Sie schaut sich in dem Buchladen um, der für sie sowohl ein Zufluchtsort als auch ein Joch gewesen ist. Vor Jahren hatten der Laden und die mit ihm einhergehende Verantwortung sie davor bewahrt, verrückt zu werden. Die langen Stunden hatten ihren Geist beschäftigt und sie von der Tatsache abgelenkt, dass ihr Körper, der ihr die ganzen Jahre über so gut gedient hatte, schließlich den ultimativen Verrat an ihr begangen hatte. Manchmal traf sie die Erkenntnis so plötzlich und derart heftig, dass sie sofort mit dem aufhören musste, was sie gerade tat – einem Kunden helfen, Bücher auspacken, ans Telefon gehen –, um ganz bewusst die Angst niederzuringen, die ihr Herz mit eisernem Griff umschloss, bis sie wieder atmen konnte.

Dann war auf unerklärliche Weise Joshua zu ihnen gekommen, so wie es Wunder oft tun. An einem ganz normalen Tag, lange nachdem sie sich damit abgefunden hatten, dass sie niemals ein eigenes Kind haben würden, ob auf biologische oder auf andere Weise. Und jetzt schien Bookends mehr und mehr alle Zeit zu beanspruchen, die sie mit ihrem Sohn verbringen wollte, musste. Bald würde er in den Kindergarten kommen, und sie wachte erbittert über ihre gemeinsame Zeit, auch wenn sie wusste, dass er viel lieber draußen spielen würde, als mit ihr im Buchladen zu sein.

Claire hatte sich um alle geschäftlichen Aspekte gekümmert, die mit der Eröffnung des Buchladens zwölf Jahre zuvor einhergegangen waren. Den perfekten Laden auf der mit Eichen gesäumten Sullivan Street in der neu belebten Innenstadtlage von Linden Falls zu finden, sich um die Gründungsdarlehen für Kleinunternehmen zu kümmern, die Bücher zu bestellen und eine Teilzeitkraft einzustellen. Jonathan hingegen hatte den schönsten Buchladen entworfen, den Claire sich je hätte vorstellen können. Der Laden hatte ursprünglich eine Damenschneiderei beherbergt, die einer unabhängigen Frau gehörte, die irgendwann Mitte des neunzehnten Jahrhunderts mit ihrem alternden Vater nach Linden Falls gezogen war. Er war ganz entzückend, mit einer reich verzierten Messingdecke und einer Vertäfelung aus Walnussholz, die Jonathan unter Schichten von alter Farbe, Lack und Schmutz entdeckt hatte. Auf ihrem Streifzug durch die erste Etage und den Dachboden fanden Claire und Jonathan staubige Stoffballen und scheffelgroße Gläser mit Knöpfen aus Muschelschalen, Knochen und Zinn, die unter einem Tisch versteckt waren. Claire stellte sich gerne vor, welche Kleider auf diesem Tisch entworfen worden waren – ein Taufkleid mit Spitze, die winzigen Perlen, die auf ein Hochzeitskleid genäht wurden, ein schwarzes Trauerkleid aus Kaschmir.

Joshua versucht, allein auf den Tresen zu klettern. Seine Schuhe scharren an dem Frontpanel. „Mir ist langweilig“, wiederholt er und lässt sich zu Boden gleiten. „Wann ist er hier?“, fragt er erneut.

Claire kommt hinter dem Tresen hervor, streckt die Hände aus, nimmt Joshua in die Arme und setzt ihn neben die Kasse auf den Tresen. „Er wird in ungefähr …“, sie schaut auf die Uhr, „… einer halben Stunde hier sein, um dich abzuholen. Was willst du bis dahin tun?“

„Erzähl mir von meinem Habdich-Tag“, fordert er. Claire schenkt ihm einen langen, erwartungsvollen Blick. „Bitte“, fügt er hinzu.

„Okay.“ Claire zieht ihn in die Arme. Wie so häufig in letzter Zeit ist sie überrascht, wie groß er geworden ist. Sie kann kaum glauben, dass er schon fünf Jahre alt ist. Sie drückt die Nase an seinen Hals und atmet den beruhigenden Duft der Yardley-of-London-Seife ein, mit der er am Morgen gebadet hat. Plötzliche Schamhaftigkeit hatte Joshua angetrieben, Claire aus dem Bad zu schicken, als er sich für die Badewanne fertig machte.

„Nur Truman und Dad dürfen hier drin sein, wenn ich bade, weil wir alle Jungs sind“, hatte er erklärt.

Also hatte Claire das Badewasser eingelassen und danach auf dem Boden im Flur gesessen, den Rücken gegen die geschlossene Badezimmertür gelehnt, gewartet und ab und zu gerufen: „Alles in Ordnung da drin?“

Jetzt trägt sie Joshua zu dem dick gepolsterten Sofa, das in einer Ecke des Buchladens steht, und sie machen es sich für die Erzählung seiner Lieblingsgeschichte gemütlich. Die Geschichte, wie Joshua zu ihnen kam.

„Bevor wir über den Habdich-Tag sprechen können“, sagt Claire, „müssen wir über den Tag sprechen, an dem wir dich das erste Mal gesehen haben.“ Joshua kuschelt sich enger an sie, und wie jeden Tag in den letzten fünf Jahren staunt Claire darüber, wie süß er ist. „Im Juli vor fünf Jahren saßen dein Dad und ich am Küchentisch und überlegten, was wir zum Abendessen machen sollten, als das Telefon klingelte.“

„Das war Dana“, murmelt Joshua und spielt mit den perlmuttfarbenen Perlen am Ohrring seiner Mutter.

„Das war Dana“, stimmt Claire zu. „Und sie sagte, dass ein wunderschöner kleiner Junge im Krankenhaus auf uns wartete.“

„Das war ich. Ich habe im Krankenhaus gewartet“, erklärt Joshua Truman, der sich entschieden hat, sich zu den beiden zu gesellen. „Und meine leibliche Mutter konnte sich nicht um mich kümmern, und deshalb hat sie mich auf der Feuerwache gelassen. Der Feuerwehrmann hat mich da in einem Körbchen gefunden.“

„Hey, wer erzählt hier die Geschichte?“, fragt Claire und pikst ihn sanft in die Rippen.

„Na du!“ Joshua zieht seine kleine Himmelfahrtsnase kraus und versucht, ein zerknirschtes Gesicht zu machen.

„Ist schon okay, wir können sie zusammen erzählen“, versichert Claire ihm.

„Und die ganzen Feuerwehrmänner wussten nicht, was sie tun sollten!“, ruft Joshua. „Sie standen einfach da und schauten mich an und sagten: Das ist ein Baby! “ Joshua streckt die Hand mit der Handfläche nach oben aus und setzt eine betroffene Miene auf.

„Du warst eine Überraschung, so viel ist sicher.“ Claire nickt. „Die Feuerwehrmänner haben die Polizei gerufen, die Polizei hat Dana angerufen. Dana hat dich ins Krankenhaus gebracht und dann uns angerufen.“

„Und als du mich zum ersten Mal in den Armen gehalten hast, hast du geweint und geweint.“ Joshua kichert.

„Das stimmt“, pflichtet Claire ihm bei. „Ich habe geweint wie ein Baby. Du warst der hübscheste kleine Junge, und …“ In diesem Moment hören sie beide, dass die Tür zum Buchladen geöffnet wird. Jonathan tritt ein. Seine Arbeitsjeans und sein T-Shirt sind ganz staubig von seinem aktuellen Renovierungsprojekt.

„Hey, Jungs“, ruft er und schüttelt sich den Regen aus den schwarzen Locken. „Was macht ihr?“

„Habdich-Tag“, erklärt Claire.

„Ah.“ Ein breites Grinsen erhellt Jonathans Gesicht. „Der beste Tag von allen.“

„Mom hat geweint“, sagt Joshua und versteckt seinen Mund hinter der Hand, als wenn Claire ihn nicht hören könnte, wenn sie seine Lippen nicht sieht.

„Ich weiß“, flüstert Jonathan zurück. „Ich war dabei.“

„Hey, Dad hat auch geweint“, protestiert Claire und schaut ihre Männer liebevoll an. „Wir haben dich mit nach Hause genommen, und nach dreißig Tagen hat der Richter gesagt: ‚Jetzt ist Joshua offiziell ein Kelby.‘“

„Wer war ich vorher?“, will Joshua ein wenig besorgt wissen.

„Du warst ein Dachs mit drei Schwänzen“, neckt Jonathan ihn.

„Du warst ein Wunsch, den wir jeden Morgen nach dem Aufstehen geäußert haben, und ein Gebet, das wir jeden Abend vor dem Schlafengehen aufgesagt haben“, erzählt Claire ihm und schluckt die Tränen hinunter, die ihr immer kommen, wenn sie daran denkt, wie anders die Dinge hätten laufen können, wenn Dana, die Sozialarbeiterin, eine andere als ihre Telefonnummer gewählt hätte.

„Du warst ein Kelby, sobald wir dich das erste Mal gesehen haben.“ Jonathan setzt sich so auf die Couch, dass Joshua zwischen seinen Eltern eingequetscht wird.

„Ein Kelby-Sandwich“, sagt Joshua und nimmt sein Lieblingsspiel auf. „Ich bin die Erdnussbutter, ihr seid das Brot.“

„Du bist die Leberwurst“, korrigiert Jonathan ihn. „Das Olivenbrot, das gebratene Ei und der Limburger Käse.“

„Nein.“ Joshua lacht. „Du bist ein Truthahnsandwich mit Soße.“

„Hey, ich mag Truthahn-Soßen-Sandwiches“, protestiert Jonathan.

„Quatsch.“ Joshua streckt die Zunge raus.

„Quatsch“, stimmt Claire ihm zu. Jonathan schaut über Joshuas Kopf hinweg zu ihr, und ihre Blicken verfangen sich ineinander. Sie wissen beide, was alles nötig gewesen ist, um diesen Punkt zu erreichen. Die Unfruchtbarkeit, der herzzerreißende Verlust ihres ersten Pflegekindes. Der Herzschmerz und die Enttäuschungen, die sie erlitten haben. Die Vergangenheit ruht fest in der Vergangenheit, wo sie hingehört, sagen ihre Blicke. Wir haben unseren kleinen Jungen, und das ist alles, was zählt.