BRYNN
Ich höre das Telefon klingeln, und meine Grandma ruft: „Ich geh schon!“ Eine Minute später kommt sie in die Küche, wo ich mir gerade ein Sandwich mache. Ich sehe den Ausdruck auf ihrem Gesicht und weiß, dass es etwas mit Allison zu tun hat. „Es ist deine Schwester“, sagt sie, doch ich schüttle bereits den Kopf. „Brynn, ich denke, du solltest mit ihr sprechen.“
Meine Großmutter versucht, ernst zu klingen, aber ich weiß, dass sie mich nie zwingen würde, mit Allison zu reden. „Nein“, sage ich und fahre fort, Erdnussbutter auf meiner Brotscheibe zu verstreichen.
„Früher oder später wirst du dich mit ihr unterhalten müssen“, erklärt sie geduldig. „Ich denke, dann wirst du dich besser fühlen.“
„Ich will nicht mit ihr reden“, erwidere ich entschieden. Ich kann meiner Grandma gegenüber nicht böse werden. Ich weiß, dass sie zwischen den Stühlen sitzt. Sie will nur das Beste für uns beide.
„Brynn, wenn du weder am Telefon mit ihr sprichst noch ihre Briefe beantwortest, wird Allison einen anderen Weg finden.“
Plötzlich ist es klar. Ich schaue in ihre alten, freundlichen blauen Augen. Allison kommt aus dem Gefängnis. Nach allem, was ich weiß, ist sie vielleicht sogar schon draußen.
Meine Hände fangen an zu zittern, und ein Klecks Erdnussbutter fällt vom Messer auf den Boden. Ich habe Angst, dass sie hier unerwartet auftaucht. Dass ich hinten im Garten bin, meinen Schäferhund-Chowchow-Mischling Milo trainiere, an einem Leckerchen vorbeizugehen, ohne es zu fressen, mich umdrehe und sie dasteht und mich ansieht. Auf die Worte wartet, von denen ich weiß, dass sie nicht kommen werden. Was hätte ich ihr auch zu erzählen? Was könnte sie mir noch mehr sagen als das, was sie in all ihren Briefen geschrieben hat? Auf wie viele Arten kann jemand sagen, dass es ihm leidtut?
Ich bücke mich, um die Erdnussbutter mit einem Papiertuch aufzuwischen, aber Milo ist schneller. „Ich kann nicht mit ihr reden.“
Meine Großmutter presst die Lippen aufeinander und schüttelt geschlagen den Kopf. „Gut, ich werde es ihr sagen. Aber, Brynn, du musst dich ihr irgendwann stellen.“ Ich antworte nicht, folge ihr aber ins Wohnzimmer und sehe zu, wie sie den Telefonhörer wieder in die Hand nimmt.
„Allison?“ Die Stimme von Grandma zittert leicht, so aufgewühlt ist meine Großmutter. „Brynn kann nicht ans Telefon kommen.“ Es entsteht eine kleine Pause, in der sie zuhört. „Ihr geht es gut … sehr gut …“
Ich ertrage es nicht mehr. Schnell gehe ich zurück in die Küche, schnappe mir mein Sandwich und gehe durch die Hintertür zu meinem Auto. Tiere sind so viel einfacher als Menschen. Das habe ich schon vor langer Zeit gelernt. Meine Eltern haben mir nie erlaubt, ein Haustier zu haben – zu haarig, zu schmutzig, zu arbeitsintensiv. Jedes Mal, wenn ich einen Streuner mit nach Hause gebracht habe, habe ich gehofft und gebetet, dass sie mir dieses Mal erlauben würden, ihn zu behalten. Nur dieses eine Mal. Ich habe versucht, sie aufzuhübschen – habe ihnen das Fell gekämmt, sie mit Körperspray eingesprüht, ihre Zähne mit einer alten Zahnbürste geschrubbt. Uralte, arthritische Hunde … einäugige Katzen mit eingerissenen Ohren. Ich habe sie stolz meinen Eltern vorgeführt. Seht ihr, wie gut sie ist? Seht ihr, wie weich das Fell ist? Wie zahm, süß, klug sie ist? Seht ihr, wie einsam ich bin? Seht ihr das? Aber nein. Keine Haustiere. Mein Dad hat mich mit dem Streuner zur Abgabestelle im Tierheim gefahren, und jedes Mal habe ich geweint und das Tier so fest gehalten, dass es sich zappelnd und schnappend zu befreien versuchte.
Meine Großmutter erlaubt mir Tiere im Haus, auch wenn sie die Grenze bei fünf gezogen hat. Wir haben zwei Katzen, einen Beo, ein Meerschweinchen und Milo. Grandma sagt, genug ist genug, sie will nicht zu einer dieser verschrobenen alten Katzenladies werden, zu der der Tierschutz ausrücken muss.
Ich trainiere Milo, damit er ein Therapiehund wird. Er lernt, Sitz-Bleib und Platz-Bleib für dreißig Sekunden zu halten und dann auf Zuruf zu kommen. Grandma hilft mir, ihm beizubringen, ruhig sitzen zu bleiben, wenn zwei Leute sich streiten. Wir denken uns dumme Streite darüber aus, wer dran ist, den Müll rauszubringen oder das Abendessen zu kochen. Ich denke, Milo weiß, dass wir es nicht ernst meinen. Er gähnt einfach nur und legt sich hin und schaut von einem zum anderen, bis wir beide anfangen zu lachen. Ich hoffe, dass ich Milo, wenn wir mit dem Training fertig sind, mit in Pflegeheime und Krankenhäuser nehmen kann. Es ist wissenschaftlich bewiesen, dass Tiere helfen können, Schmerzen und Ängste der Kranken und Alten zu lindern. Eines Tages möchte ich meine eigene Firma aufmachen und Therapietiere trainieren. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich einen Plan. Und noch dazu einen guten. Ich will nicht, dass mich irgendjemand oder irgendetwas davon abhält, mein Ziel zu erreichen. Nicht meine Eltern und schon gar nicht meine Schwester.
Wenn Allison nur das getan hätte, was sie immer getan hat – die richtige Wahl treffen –, dann könnte alles so anders sein. Sie hätte nicht weggehen müssen. Unsere Eltern wären glücklich, und ich hätte einfach mit dem Hintergrund verschmelzen können, wo ich hingehöre. Aber das hat sie nicht getan. Sie hat es im großen Stil vermasselt und mich allein mit unseren Eltern in dem Haus zurückgelassen.
Ich war nicht das perfekte Mädchen wie sie, und das werde ich auch niemals sein. Oh, aber ich habe es versucht. Die ganze Highschool hindurch gab es nur Druck, Druck, Druck. In dem Haus konnte ich keinen klaren Gedanken fassen, konnte keine Entscheidung treffen, konnte nicht atmen. Ich habe versucht, aufs St. Anne’s College zu gehen. Freundschaften zu schließen. Aber immer wenn ich einen Unterrichtsraum betreten habe, bekam ich einen Panikanfall. Es fing immer damit an, dass ich ein seltsames Summen hörte. Dann begannen meine Fingerspitzen zu kribbeln. Mir wurde die Brust eng, ich bekam keine Luft mehr. Die Dozenten und Studenten gafften mich an, und ich starrte zurück, bis sie vor meinen Augen dahinzuschmelzen schienen. Die Ohren rutschten an ihren Wangen herunter, ihre Lippen tropften ihnen übers Kinn, bis sie nichts weiter waren als fleischige Lachen.
Erst nachdem ich eine Packung Schlaftabletten genommen hatte, die ich in dem Medizinschrank meiner Mutter gefunden hatte, haben meine Eltern beschlossen, mich in Frieden zu lassen. Mit Erleichterung haben sie mich über den Fluss und durch die Wälder zu Großmutters Haus geschickt, nur mit einem Koffer und einem Rezept für Antidepressiva in der Hand.
Hier fühlte es sich richtig an. Grandma hat mich dazu gebracht, einen Arzt aufzusuchen. Ich habe meine Medikamente genommen, die mich wieder in die Spur gebracht haben. Mir geht es gut. Aber ich werde nicht mit Allison reden. Ich kann nicht mit ihr sprechen. Es ist besser so. Besser für sie und besser für mich.
Zum ersten Mal in ihrem Leben bekommt Allison, was sie verdient.