ALLISON

Irgendwie zwinge ich mich dazu, das Badezimmer zu verlassen und in den Laden zurückzukehren. Ich bemühe mich, Jonathan und Joshua, die gerade auf dem Weg nach draußen sind, ein fröhliches „Tschüss“ hinterherzurufen. Auch wenn ich keinen tatsächlichen Beweis dafür habe, weiß ich, dass Claires kleiner Junge mein Sohn ist.

Ich bin sicher, ein Blick auf mich genügt, und Claire wird wissen, dass etwas mit mir nicht stimmt, und ich habe recht. Nachdem wir zwei Stunden lang in beinahe völligem Schweigen zusammen gearbeitet haben, schaut Claire mich besorgt an.

„Allison“, sagt sie. „Du bist so schrecklich still. Du machst dir doch wohl keine Sorgen darüber, was für einen Eindruck du heute hinterlassen hast?“

„Ein wenig schon, fürchte ich.“ Ich bin dankbar für die Ausrede, die sie mir geliefert hat.

„Das musst du nicht. Du hast das alles ganz großartig gemacht“, versichert Claire mir. „Also, was denkst du? Wirst du diesem Laden morgen noch eine weitere Chance geben?“

Beinahe hätte ich Nein gesagt, doch ich kann mich gerade noch rechtzeitig zurückhalten. Wenn ich hier aufhöre, werde ich mir nie sicher sein können, dass Joshua mein Sohn ist. „Ich würde wirklich gerne wiederkommen, wenn du willst.“ Während ich das sage, kann ich ihr nicht in die Augen gucken.

„Natürlich will ich das. Und jetzt geh nach Hause, und ruh dich ein wenig aus. Wir sehen uns dann morgen um neun.“ Claire bringt mich noch zur Tür. „Soll ich dich fahren?“, fragt sie mit einem Blick auf die sich drohend auftürmenden Regenwolken.

„Nein, danke, ich mag die frische Luft“, erwidere ich. „Danke noch mal, Claire. Wir sehen uns morgen.“

Als ich zum Gertrude House zurückgehe, ist die Sonne komplett hinter den grauen Wolken verschwunden, und in meinem Kopf gibt es nur den einen Gedanken – dass Claires Sohn vielleicht der Junge ist, den ich vor fünf Jahren zur Welt gebracht habe, dass er vielleicht Christophers Kind ist, dass er der Bruder des kleinen Mädchens sein könnte, für deren Mord ich verurteilt worden bin.

Ich muss es jemandem erzählen. Ich könnte Devin anrufen und fragen, was ich tun soll, aber ich weiß, was das Richtige wäre. Ich sollte Claire sagen, dass der Job im Buchladen doch nichts für mich ist. Und dann müsste ich einen Weg finden, aus Linden Falls zu verschwinden.

Ich habe noch nie den Wunsch verspürt, den Jungen, den ich weggegeben habe, zu sehen. Ich hatte das Gefühl, meine Pflicht getan zu haben, indem ich seinem Vater die Möglichkeit gab, ihn aufzuziehen. Das ist offensichtlich nicht passiert. Ich weiß, ich sollte vor den Kelbys davonlaufen, so schnell es nur irgendwie geht, aber ich kann es nicht. Ich habe zu viele Fragen. Ich will wissen, was für Menschen das sind, die Joshua adoptiert haben, will wissen, was für einem Kind ich das Leben geschenkt habe. Wie ist Joshua hier gelandet, und was ist mit Christopher geschehen?

Als ich am Gertrude House ankomme, öffne ich die Tür und treffe gleich auf Olene. „Wie war dein erster Tag?“, will sie von mir wissen.

„Gut.“ Ich vermeide den Augenkontakt und habe Angst, mehr zu sagen. Ich spüre Olenes neugierigen Blick in meinem Rücken, als ich die Treppe hinauf in mein Zimmer eile, wo ich Bea auf dem oberen Bett sitzend vorfinde.

„Hey“, sagt sie, ohne von ihrer Zeitschrift aufzuschauen. „Wie war die Arbeit?“

Ich kicke meine Schuhe von den Füßen und schmeiße mich aufs untere Bett. „Gut.“ Ich schüttel den Kopf. „Irgendwie seltsam“, füge ich hinzu.

„Ich weiß, was du meinst“, sagt Bea über mir. „Man ertappt sich zwischendurch dabei, zu denken: ‚Das ist normal. Das ist etwas, was ein normaler Mensch tut.‘“

„Ja, genau so“, lüge ich. „Ich weiß nicht, ob ich da wieder hingehen will“, gebe ich zu.

Bea schweigt einen Moment. Dann sehe ich ihre Beine, die sie über den Bettrand schwingt. Sie ist barfuß, und ihre Fußsohlen sind vernarbt und schwielig. Behände springt sie zu Boden und beugt sich herunter, um mich anzuschauen. Aus der Nähe erkenne ich, dass sie nicht so alt ist, wie ich dachte – vielleicht dreißig –, aber auf ihrer Stirn sind bereits die ersten Falten zu erkennen, ebenso um ihre Augen herum. „Olene hat den Job extra für dich besorgt.“

„Ja, ich weiß.“

„Sie gibt sich viel Mühe, um Arbeitsplätze für uns zu finden. Bürgt mit ihrem guten Namen und ihrem Ruf.“ Bea klagt nicht an und verurteilt auch nicht; sie zählt einfach nur die harten Fakten auf.

„Ich gehe morgen wieder hin“, sage ich leise.

Bea lächelt und hält mir die Hand hin. Zum ersten Mal sehe ich das Tattoo auf der Innenseite ihres Unterarms. Ein wunderschöner Vogel, der die Initialen O. V. wie einen Olivenzweig im Schnabel hält. Ich will sie fragen, was das bedeutet, möchte aber nicht, dass sie mich für neugierig hält. „Komm schon“, sagt sie und nimmt meine Hand, um mich daran hochzuziehen. „Heute ist Schönheitsabend.“

„Schönheitsabend?“, frage ich.

„Ja. Flora geht doch auf die Kosmetikschule und übt ab und zu an uns.“

„Oh nein.“ Ich entziehe ihr die Hand. „Flora sieht mich immer noch so an, als wenn sie mich am liebsten nachts im Schlaf ermorden wollte. Auf gar keinen Fall wird sie Hand an mich legen.“

„Komm schon.“ Das klingt wie in Befehl. „Du kannst ja einfach nur zusehen. Flora ist nicht so schlimm, nur ein wenig nervös bei neuen Leuten. Sie hat eine Menge durchgemacht.“

Ich gebe ein undefinierbares Geräusch von mir. „Haben wir das nicht alle?“

„Ich schätze schon“, gibt Bea zu. „Aber du solltest ihr eine Chance geben. Du kennst ihre Geschichte nicht.“

„Weißt du“, sage ich etwas genervt, „ich gebe ihr eine Chance, sobald sie mir eine gibt. Ich weiß, dass sie hinter den ganzen verdammten Puppen steckt, die überall auftauchen. Sie kennt mich nicht mal, hat sich aber schon eine Meinung über mich gebildet.“ Ich setze mich wieder auf mein Bett. „Geh ohne mich. Ich werde versuchen, meine Schwester anzurufen.“

„Wie du willst“, sagt Bea. „Aber heute Abend bekommen wir eine Pediküre.“ Sie schaut auf ihre Füße und wackelt mit den Zehen. „Ich hatte noch nie eine Pediküre.“

Der Mensch, dem ich davon erzählen will, dass ich Joshua gefunden habe, ist Brynn. Vielleicht würde es ihr helfen, zu erfahren, dass es doch noch etwas Positives an dieser Nacht gibt, in der ich die Kinder geboren habe. Aber wieder einmal kann ich sie nicht erreichen. Meine Großmutter sagt mir, dass sie ausgegangen ist. Ich verspüre einen Hauch von Eifersucht. Ich sollte jetzt auf dem College sein und Zeit mit meinen Freunden verbringen. Dann klingt meine Eifersucht ab, und ich fühle mich schuldig. Brynn verdient allen Spaß, den sie nur kriegen kann. Ich weiß, dass sie am meisten unter den Auswirkungen meiner Verhaftung zu leiden hatte. Ich weiß, dass man sie wegen meiner Tat herumgeschubst und lächerlich gemacht hat. Ich weiß, dass sie versucht hat, sich das Leben zu nehmen.

„Wirst du ihr sagen, dass ich angerufen habe?“, frage ich meine Großmutter.

„Natürlich“, erwidert sie. „Wie geht es dir, Allison? Hast du deine Mom und deinen Dad schon getroffen?“

„Mir geht es gut“, beteuere ich. „Mom und Dad heißen mich nicht wirklich mit offenen Armen willkommen, aber ich habe heute meinen neuen Job angefangen. In einem Buchladen.“

„Das freut mich für dich“, sagt Grandma enthusiastisch. „Siehst du, du kommst bereits wieder auf die Beine.“

„Grandma, spricht Brynn jemals über den besagten Abend? Hat sie dir je davon erzählt?“

Am anderen Ende der Leitung herrscht Schweigen, und ich habe Angst, dass die Verbindung unterbrochen wurde oder, schlimmer noch, dass meine Großmutter aufgelegt hat. „Grandma?“, hake ich nach.

„Nein, sie spricht nie darüber“, antwortet Grandma traurig. „Ich wünschte, sie würde es tun. Zumindest mit ihrem Arzt. Die Dinge in sich verschlossen zu halten tut nie gut. Ich sage ihr, dass du angerufen hast, Allison. Pass gut auf dich auf, ja?“

„Danke, Grandma. Bis bald.“ Ich lege auf. Ich schätze, ich bin nicht die Einzige, die gut darin ist, ein Geheimnis zu bewahren.

Mein Haar fühlt sich schwer an und kratzt mich am Hals. Ich frage mich, ob ich es wagen kann, Flora statt um eine Pediküre um einen Haarschnitt zu bitten. Dann erinnere ich mich an das, was Olene über Hoffnung gesagt hat, und mache mich auf den Weg die Wendeltreppe hinunter in Richtung des fröhlich klingenden Gelächters.