23. Kapitel

Noch immer schwojte die Nonsuch in der Bucht von Riga um ihren Anker, und Hornblower ging auf seinem Achterdeck auf und ab. Heute befaßte er sich mit einem neuen Problem, daß ihm keineswegs überraschend kam, ohne daß es dadurch an Bedeutung und Dringlichkeit eingebüßt hätte. Der Winter rückte immer näher, längst schon gab es in den Nächten strenge Fröste, und an den beiden letzten Tagen hatte richtiges Schneegestöber geherrscht, das die ganze Landschaft jedesmal auf Stunden in winterliches Weiß hüllte. An der Nordböschung der Deiche lag der Schnee auch jetzt noch, so daß sie sich abhoben wie weiße Striche. Die Tage wurden kurz, die Nächte lang, und das Brackwasser in der Rigaschen Bucht bedeckte sich an stillen Tagen schon mit einer dünnen Schicht Jungeis. Wenn er noch lange hier liegenblieb, dann froren seine Schiffe ein. Essen hatte ihm zwar versichert, er könne ruhig noch mindestens vierzehn Tage bleiben. Solange könne man das offene Wasser noch durch einen ins Eis gesägten Kanal erreichen, und er würde für die Arbeitskräfte sorgen, die ihm diesen Kanal schnitten. Aber Hornblower war von dieser Möglichkeit nicht überzeugt. Ein Sturm aus nördlicher Richtung, der doch jeden Augenblick einsetzen konnte, hielt ihn unweigerlich hier fest und bewirkte gleichzeitig, daß ringsum alles zufror und daß sich in dem engen Ausgang der Bucht zwischen Ösel und dem Festland das Treibeis zu Bergen staute, gegen die Sägen und sogar Sprengstoffe machtlos waren. War der Verband aber einmal eingefroren, dann lag er bis zum nächsten Frühjahr unbeweglich fest und wurde eine sichere Beute der Franzosen, falls es ihnen gelang, Riga zu Fall zu bringen. Vor zwanzig Jahren war ein holländisches Geschwader in Amsterdam ausgerechnet französischen Husaren zum Opfer gefallen, die eine Attacke über das Eis ritten. Man denke an das Triumphgeschrei, das Bonaparte erheben würde, wenn ihm jetzt auf die gleiche Weise ein englischer Verband in die Hände fiel - noch dazu einer, der unter dem Kommando des berüchtigten Kommodore Hornblower stand! Diese Vorstellung überfiel ihn mit solcher Gewalt, daß er auf seinem Spaziergang einen Schritt zu früh kehrtmachte. Es war ein Gebot der Klugheit, sich sofort von hier zurückzuziehen. Der Bezug über dem Bodenstück dieser Karronade war durchgescheuert. Wenn Bush das sah, dann gab es für den betreffenden Geschützführer eine höchst unerfreuliche Viertelstunde... Und doch konnte er sich nicht zurückziehen. Essen war ganz entsetzt gewesen, als er neulich davon anfing. Wenn seine Leute sahen, daß die britischen Schiffe absegelten, hatte er gemeint, dann kämen sie zu der Überzeugung, daß Riga verloren sei Das werde ihnen alle Zuversicht rauben. Der englische Seeoffizier, der in Dünamünde den entscheidenden Gegenangriff geführt habe, sei in ihrer Vorstellung schon eine Art Sagengestalt geworden und gelte ihnen als Bringer und Unterpfand ihres Glücks. Ließe er sie jetzt im Stich, dann sei das für die russischen Soldaten ein Beweis, daß er die Hoffnung aufgegeben habe Es war also ausgeschlossen, daß er Riga verließ. Vielleicht wäre ein Kompromiß zu überlegen Er konnte den größten Teil des Verbandes wegschicken und nur eine Korvette und ein Kanonenboot zurückbehalten oder gar alle Schiffe wegschicken und allein zurückbleiben. Aber eine solche Trennung von dem ihm unterstellten Verband war ein klarer Verstoß gegen die Kriegsartikel.

Was fiel diesem Tölpel von Fähnrich eigentlich ein! Ihm so im Wege herumzutanzen, als ob er es darauf abgesehen hätte, ihn in seinen Überlegungen zu stören! Am besten ließ er ihn einmal über den Topp entern, um ihn von seiner Gedankenlosigkeit zu kurieren. daß der Kommodore bei seinem Decksspaziergang nicht gestört werden durfte, mußte allmählich auch der Dümmste an Bord begriffen haben. Dazu dauerte die Unternehmung, weiß Gott, schon lange genug.

»Was wollen Sie eigentlich -?« brüllte er den armen Fähnrich an, daß dieser vor Schreck zurückfuhr.

»Bbboot kommt längsseits«, stammelte der Junge.

»M-Mr. Hurst hat mir befohlen, es zu melden. Er glaubt, daß der Gouverneur an Bord ist.«

»Warum ist mir das nicht schon längst gemeldet worden?« sagte Hornblower. »Haben Sie Kapitän Bush Meldung gemacht?

Die Wache auf!«

»Aye, aye, Sir«, sagte Hurst. Er hatte den Satz noch nicht ganz ausgesprochen, da sah Hornblower bereits, wie Bush auf dem Achterdeck erschien und die Wache der Seesoldaten sich hinter dem Kreuzmast formierte. Natürlich hatte Hurst alles das schon veranlaßt, ohne auf einen besonderen Befehl zu warten, aber seine Meldung hatte Hornblower so plötzlich aus seinen Träumen gerissen, daß er sich nicht Zeit genommen hatte, das zu überlegen. Er trat an die Reling. Richtig, da näherte sich der Gouverneur in seinem großen Ruderboot. Es kam durch die breite, eisfreie Rinne, die einstweilen noch von den letzten Wirbeln des Dünastromes vor der Mündung gebildet wurde, ehe er sich in den Gewässern der Bucht verlor. Als der Gouverneur seiner ansichtig wurde, sprang er auf, schwenkte seinen Dreimaster und versuchte sogar mit hochgeschwungenen Armen in der Achterplicht seines Bootes zu tanzen, obgleich er dabei jeden Augenblick Gefahr lief, über Bord zu fallen.

»Da scheint etwas Besonderes los zu sein«, sagte Bush, der neben Hornblower stand.

»Es sieht aus, als brächte er gute Nachrichten«, sagte Hornblower. Den Hut immer noch in der Hand, erschien der Gouverneur auf dem Achterdeck. Er stürzte gleich auf Hornblower zu, nahm ihn in seine Arme, drückte ihn an sich und schwang seine schlanke Gestalt so in die Luft, daß seine Füße vom Deck hochgerissen wurden. Hornblower konnte sich denken, daß ringsum alles grinste, während er wie ein Baby herumgeschwenkt wurde. Endlich stellte ihn der Gouverneur wieder auf die Beine und stülpte sich den Hut auf den Kopf.

Dann angelte er nach Hornblowers und Bushs Händen und versuchte, mit den beiden Engländern eine Art Ringelreihen zu tanzen. Der Mann war offenbar völlig außer Rand und Band - es wäre leichter gewesen, einen Bären im Zaum zu halten als ihn.

»Was gibt es denn Neues, Eure Exzellenz?« fragte Hornblower. Essen drückte seine Hand so stark, daß es weh tat.

»Was es Neues gibt?« sagte Essen, schleuderte die Hand des Engländers von sich und breitete wieder seine Arme aus.

»Bonaparte ist auf dem Rückzug!«

»Was! Wirklich?«

»Was sagt er, Sir?« fragte Bush, der anscheinend völlig außerstande war, Essens Französisch zu verstehen. Aber Hornblower hatte keine Zeit für ihn, weil der Gouverneur jetzt seine Neuigkeiten in einem Strom von Gutturallauten hervorsprudelte und dabei den Wortschatz ganz Europas zu Hilfe nahm, so daß selbst Hornblower kaum verstehen konnte, was er sagen wollte. »Vor fünf Tagen ist er aus Moskau weg«, brüllte Essen.

»Wir haben ihn bei Malo-Jaroslawetz geschlagen, ja, in einer richtigen Schlacht geschlagen. Und jetzt läuft er, so schnell er kann, in Richtung Smolensk und Warschau. Aber er kommt nicht so weit, ehe es zu schneien beginnt! Er kann froh sein, wenn er überhaupt hinkommt. Tschichagow rückt in Eilmärschen heran, um ihn an der Beresina abzuschneiden! Er ist völlig geschlagen, erledigt! Tausende seiner Leute gehen schon jetzt Nacht für Nacht zugrunde. Sie haben nichts zu essen, und der Winter ist da!« Essen stampfte mit tollen Freudensprüngen an Deck herum, er glich dabei mehr als je einem Tanzbären.

»Bitte, Sir, bitte was ist los?!« fragte Bush, der vor Spannung fast verging. Hornblower erklärte es ihm, so gut er konnte, dabei vergaßen die übrigen Achtergäste alle Hemmungen und suchten selbst so viel wie möglich von den Neuigkeiten aufzuschnappen.

Als ihnen die ganze wunderbare Bedeutung der Nachricht klar wurde, brachen sie in ein begeistertes Hurra aus, das sich sogleich auf das Großdeck fortpflanzte. Bald darauf herrschte im ganzen Schiff wildes Freudengeschrei, flogen überall die Hüte in die Luft, fielen die Leute einander um den Hals. Dabei wußte eigentlich niemand so recht, was geschehen war, denn bis jetzt hatten sie nur ein einziges Wort gehört, das sich von Mund zu Mund mit Windeseile durch das ganze Schiff verbreitete:

»Boney ist geschlagen!«

»Jetzt kommen wir doch noch aus dieser verdammten Bucht heraus, ehe das Eis kommt«, sagte Bush und schnalzte mit den Fingern. Sicher hätte auch er zu tanzen begonnen, wenn ihn nicht sein Holzbein daran gehindert hätte. Hornblower sah nachdenklich zum Festland hinüber.

»Macdonald trifft einstweilen noch keine Anstalten zum Rückzug«, sagte er. »Der Gouverneur hätte es sicher mitgeteilt, wenn es der Fall wäre.«

»Aber nun muß er doch auch zurück, glauben Sie nicht, Sir?«

In Bushs sprechenden Zügen wandelte sich Freude in Besorgnis.

Eben noch war die Erfüllung aller Wünsche greifbar nahe gewesen - sah es nicht so aus, als könnte man dieser Bucht oder gar der ganzen landumschlossenen Ostsee noch rechtzeitig entkommen, als könnte man hoffen, England bald wiederzusehen? Und nun stand er wieder vor der harten Wirklichkeit: Die Belagerung von Riga ging weiter.

»Wahrscheinlich wird auch er zurückgehen«, sagte Hornblower, »aber wir müssen so lange bleiben, bis er es wirklich tut, wenn wir keine anderen Befehle bekommen.«

Es fiel Essen auf, wie ernüchtert sie plötzlich aussahen, deshalb trat er wieder auf sie zu, hieb Bush mit solcher Gewalt auf den Rücken, daß er taumelte, schnalzte vor Hornblowers Nase mit den Fingern und pirouettierte mit der Grazie eines gezähmten Seehundes an Deck herum. Es ging wirklich zu wie in einem Tollhaus: Bush löcherte ihn mit Fragen nach der Zukunft, Essen führte sich auf wie ein Übergeschnappter, das ganze Schiff war vor Freude außer Rand und Band und hatte jede Ordnung und Disziplin vergessen. Wunderbarerweise vermochte Hornblower mitten in diesem Durcheinander dennoch jene erleuchtete Klarheit und fieberhafte Schnelligkeit des Denkens und Planens zu entwickeln, die er nun schon als die geheimnisvollen Vorboten wichtiger Ereignisse zu erkennen glaubte.

Bonaparte auf dem Rückzug, Bonaparte geschlagen: das bedeutete einen gewaltigen Umschwung des Gefühls, der Stimmung in ganz Europa. Alle Welt wußte, daß Wellington Frankreich von Süden her bedrohte, und nun erhob sich die Gefahr für das Reich Napoleons auch von Osten. Bonaparte konnte seine zerschlagene Armee bestimmt nicht zum Stehen bringen, um Polen zu verteidigen, ihre Flucht war nicht mehr aufzuhalten. Der nächste Feldzug führte also die Verbündeten an die preußische und österreichische Grenze. In diesem Falle war es aber mehr als wahrscheinlich, daß sowohl Preußen wie Österreich mit Freuden an die Seite ihrer bisherigen Gegner traten. Der König von Preußen war allerdings nicht mehr viel anderes als ein französischer Gefangener, aber die preußische Armee - das war der größere Teil der Streitkräfte, die jetzt Riga belagerten - konnte das Gesetz des Handelns an sich reißen. Der Seitenwechsel der spanischen Truppen gab ihnen das Beispiel und zeigte ihnen den Weg, und die in Riga gedruckten Flugblätter, die er durch russische Händler unter den Belagerungstruppen hatte verteilen lassen, trugen dafür Sorge, daß sie diese Lehre nicht vergaßen. Bülow konnte überdies die Wahrheit seiner Behauptungen bezeugen - Hornblower war froh, ihn freigelassen zu haben.

»Ich will Diebitsch einen Ausfall machen lassen, um die drüben etwas in Bewegung zu bringen«, sagte Essen. »Ich muß unbedingt sehen, wie sie diese Nachricht aufgenommen haben.

Haben Sie Lust, mich zu begleiten, Sir?«

»Natürlich«, sagte Hornblower und fand im Augenblick aus seinen Träumen zur Wirklichkeit zurück. Er war immer noch etwas ›mazy‹ oder durcheinander, wie man früher, als er noch ein Junge war, in seinem Dorf die angetrunkenen Leute zu nennen pflegte. Das kam von der Müdigkeit, die ihn jetzt nie verließ, vom vielen Nachdenken und von der ewigen Aufregung. Er teilte Bush mit, daß er beabsichtige, von Bord zu gehen.

»Sie sind doch völlig von Kräften, Sir«, erlaubte sich Bush einzuwenden. »Sie sind nur ein Schatten Ihrer selbst. Schicken Sie jemand anderen, Sir, schicken Sie mich oder Duncan. Sie haben wirklich alles Notwendige getan, Sir.«

»Nein, noch nicht alles«, sagte Hornblower. Trotz seiner Ungeduld nahm er der Höflichkeit zuliebe eine Verzögerung in Kauf, indem er Essen eine Erfrischung anbot und vorschlug, die herrliche Nachricht durch einen Umtrunk zu feiern.

»Sehr liebenswürdig von Ihnen, aber ich muß leider danken«, sagte Essen zu Hornblowers größter Erleichterung. »Diebitsch greift in der Abenddämmerung an, und die Tage sind schon sehr kurz.«

»Sie nehmen doch Ihr Chefboot, Sir, nicht wahr?« beharrte Bush. »Nehmen Sie Brown mit!«

Bush sorgte sich um ihn wie eine Mutter um ihren waghalsigen Jungen, wie eine Henne um ihr einziges Küken. Es machte ihn immer unruhig, sein ein und alles, seinen Hornblower, in der Obhut dieser Russen zu wissen, bei denen man nie wußte, wie man dran war. Hornblower mußte über Bushs besorgte Miene lächeln. »Also ja, Ihnen zuliebe«, sagte er.

Das Chefboot folgte dem Ruderboot des Gouverneurs durch die freie Rinne im Eis. Hornblower saß jedoch mit Essen in der Plicht des russischen Bootes. Der Himmel war winterlich grau, und es blies ein kalter Wind. »Es gibt bald mehr Schnee«, sagte Essen mit einem Blick auf die dunklen Wolkenbänke. »Gnade Gott den Franzosen.«

Bei dem sonnenlosen Wetter fühlte man die Kälte wie einen Hauch des Todes. Hornblower dachte an die französischen Soldaten, die jetzt über die einsamen russischen Ebenen marschierten, und empfand tiefes Mitleid mit ihnen.

Nachmittags begann es dann wirklich zu schneien, die Flocken hüllten Strom und Dorf in ihrem Schleier, die zerwühlten Brustwehren, die zerstörten Geschütze und die vielen Soldatengräber überall im Dorf wurden zu unschuldigen, weißen Hügeln. Als die stets willigen russischen Grenadiere in ihre Gräben einrückten und von dort aus gegen die feindlichen Linien vorgingen, senkte sich schon vorzeitige Dunkelheit auf das Land herab. Sie konnten das Niemandsland zwischen den beiden Fronten zur Hälfte durchmessen, ehe drüben die Geschütze zu sprechen begannen und ihre roten Mündungsflammen seltsam aus dem weißen Schnee hervorstachen.

»Sieht nicht nach Rückzug aus«, bemerkte Clausewitz, der mit Essen und Hornblower auf der Galerie der Kirche stand und das erbitterte Ringen beobachtete. Wenn es noch einer Bestätigung dieser Annahme bedurfte, dann wurde diese alsbald von der Abteilung selbst geliefert, die den Ausfall unternommen hatte und nun nach großen Verlusten im Dunkel der Nacht zu ihren Stellungen zurückströmte. Die Angreifer hatten sich ihrem Ausfallversuch mit Schwung entgegengeworfen, schon das Niemandsland war durch Patrouillen gesichert gewesen, und die Gräben waren in ausreichender Stärke besetzt. Zur Vergeltung begann der Gegner nun mit seiner Belagerungsartillerie zu feuern, daß die Erde im Donner der Geschütze bebte und die Blitze des Mündungsfeuers wieder und wieder die Nacht erhellten. Natürlich war es bei der herrschenden Finsternis nicht möglich, genau gezielt und mit richtiger Erhöhung zu schießen.

Deshalb streuten die Geschosse bald über das ganze Dorf und zwangen seine Besatzung, auch in dessen rückwärtigen Teilen bis zum Ufer der Düna in ihren Graben sichere Deckung zu nehmen. Da kamen in hohem Bogen auch die Granaten der Mörserbatterien angeflogen, die der Gegner unlängst in seinem zweiten Parallelgraben eingebaut hatte. Hier, dort, überall schlugen sie ein, alle zwei, alle drei Minuten eine, und jedesmal spritzten Feuer und Sprengstücke nach allen Richtungen auseinander, es sei denn, sie landeten im tiefen Schnee, der ihre Zündschnur auslöschte. »Drüben scheinen sie einen Überfluß an Munition zu haben«, brummte Essen. Trotz seines dicken Mantels zitterte er vor Kälte.

»Vielleicht wollen sie jetzt in der Nacht einen Gegenangriff machen«, sagte Clausewitz. »Ich habe für alle Fälle befohlen, daß die Stellungen voll besetzt bleiben.«

Hornblower beobachtete gerade eine schwere Batterie von vier Geschützen, die in kurzen Abständen regelrechte Salven schoß. Er hatte schon einige Zeit immer und immer wieder die vier Mündungsfeuer gesehen, so daß es ihm auffiel, als nun eine längere Pause entstand. Daher war er auch doppelt aufmerksam, als es dann von neuem blitzte und donnerte. Auch diesmal flammte es nur kurz auf, war es sogleich wieder Nacht. Dennoch kam es Hornblower so vor, als ob es mit dieser Salve irgendwie eine besondere Bewandtnis hätte, ganz abgesehen davon, daß sie so lange auf sich warten ließ. Einer der Blitze, es war der ganz rechts, war nicht so deutlich gewesen wie die anderen drei, dabei schien er dennoch genauso stark zu sein wie die übrigen und obendrein sogar länger anzuhalten. Vielleicht war da beim Laden irgendein Versehen vorgekommen. Dann kam die nächste Salve, diesmal waren es nur drei Mündungsfeuer, also hatte das rechte Geschütz nicht gefeuert. Womöglich war ihm vorhin das Zündlochfutter herausgeflogen, das kam bei diesen Kanonen mitunter vor. Wieder eine lange Pause, dann wieder eine Salve - zwei kurze Blitze und ein länger anhaltender. Bei der nächstfolgenden Salve feuerten dann nur zwei Geschütze. Da wußte Hornblower plötzlich, was beim Gegner geschah. Er zupfte Essen am Ärmel.

»Drüben machen sie die eigenen Geschütze unbrauchbar«, sagte er. »Sie halten uns zwar noch unter Feuer, aber bei jeder Salve lösen sie einen Schuß gegen die Schildzapfen einer ihrer Kanonen. Jene Batterie dort, Exzellenz, schoß vorhin noch mit vier Geschützen. Und jetzt - sehen Sie - sind es nur noch zwei.«

»Das ist nicht ausgeschlossen«, gab Essen zu und starrte unentwegt in die Dunkelheit hinaus.

»Das Feuer wird schwächer«, stimmte auch Clausewitz bei, »aber vielleicht ist es die Munitionsverschwendung, die ihnen allmählich zu viel wird.« Das nächste Mal blitzte in der Batterie nur noch ein Mündungsfeuer auf, das auch wieder einen ganz ungewohnten Anblick bot.

»Das war das letzte Geschütz der Batterie«, bemerkte Essen, »wahrscheinlich haben sie es durch eine überstarke Ladung gesprengt.« Er zielte mit seinem Fernrohr in die Dunkelheit.

»Schauen Sie doch dort einmal hinüber, wo das große Lager ist«, fügte er hinzu, »und sehen Sie sich diese Feuer an. Sie scheinen zwar noch hell zu brennen, gewiß, und doch...«

Hornblower starrte nach den Reihen der Lagerfeuer hinüber, sie waren so weit entfernt, daß in dieser undurchdringlichen Schneenacht nur ein schwaches Flimmern von ihnen herüberdrang. Sein Blick folgte den Reihen von einem Ende zum anderen, dabei versuchte er, die einzelnen Feuer gut im Auge zu behalten. Einmal kam es ihm so vor, als wäre eines davon nach kurzem Aufflackern verschwunden, aber er konnte es nicht sicher behaupten. Er hielt Ausschau, bis ihm vor Kälte und Anstrengung die Augen übergingen. Als er gerade sein Taschentuch zog, um sie auszuwischen, schob Essen mit einem Ruck sein Fernrohr zusammen.

»Es stimmt, sie brennen nieder«, sagte er, »ich bin meiner Sache ganz sicher. Kein Soldat der Welt würde in einer solchen Nacht sein Biwakfeuer niederbrennen lassen. Clausewitz, wir wollen unseren Angriff wiederholen, treffen Sie gleich die nötigen Vorbereitungen, Diebitsch...«

Nun jagten sich die Befehle des Gouverneurs, und Hornblower überkam für einen Augenblick ein Gefühl des Mitleids mit den armen russischen Grenadieren. Nach ihrer Niederlage und den hohen Verlusten, die sie erlitten hatten, hockten sie jetzt wohl frierend und mutlos in ihren Gräben, da wurden sie schon wieder aus ihrem bißchen Ruhe aufgescheucht und zu einem neuen Unternehmen in die Finsternis hinausgejagt, von dem sie sich nichts anderes erwarten konnten als sichere Vernichtung. Ein plötzlicher Windstoß heulte um den Rundbau der Kuppel, da schnitt ihm die Kälte bis ins innerste Mark, mochte er sich noch so eng in seinen Mantel hüllen.

»Bitte, Sir«, hörte er zu seiner Überraschung plötzlich Brown neben sich sagen, »ich habe Ihnen eine Decke mitgebracht. Sie können Sie gut unter dem Mantel umlegen. Und hier sind Ihre Handschuhe, Sir.«

Trotz der Finsternis hüllte ihn Brown geschickt so in die Decke, daß sie der darübergezogene Mantel auf den Schultern festhielt. Bei Tage hätte das natürlich unmöglich ausgesehen, aber Gott sei Dank war es ja einstweilen noch immer stockdunkel. Hornblower zitterte vor Kälte und stampfte mit seinen eisigen Füßen auf den Boden, um sie etwas zu erwärmen.

»Wie lange soll das noch dauern, bis Ihre Leute endlich angreifen?« brummte Essen. »Schicken Sie zu Ihrem Brigadekommandeur hinunter und bestellen Sie ihm, ich würde ihn kassieren lassen, wenn er nicht sofort seine Leute zusammenzöge und vorginge.«

Nun folgte eine lange eisige Wartezeit, endlich zuckten in der Dunkelheit ein paar winzige Flämmchen auf, das waren Musketenschüsse in der Gegend des zweiten Parallelgrabens.

Essen sagte nichts als: »Ha!«

Wieder hieß es warten und warten, bis der erste Melder erschien. Die Ausfalltruppen hatten die vorgeschobenen Gräben, abgesehen von ein paar Posten, verlassen gefunden und gingen jetzt durch Schnee und Dunkelheit in Richtung auf das Hauptlager weiter vor.

»Sie ziehen also ab«, sagte Essen. »Zwei Stunden vor Tagesanbruch soll die gesamte Reiterei aufgesessen sein. Ich will bei Hellwerden über ihre Nachhut herfallen. Außerdem sollen alle verfügbaren Truppen sofort auf das diesseitige Dünaufer übersetzen. Und nun um Himmels willen ein Glas Tee!« Hornblower wärmte sich an dem Feuer, das auf dem Steinboden der Kirche brannte, und schlürfte mit klappernden Zähnen seinen heißen Tee. Er staunte über die eisernen Naturen der Männer um ihn her, denen man nichts von Müdigkeit und kaum etwas von der verdammten Kälte anmerkte. Er selbst war so durchgefroren, daß ihm die Möglichkeit, sich auf den Strohbündeln, die man neben dem Hochaltar ausgelegt hatte, ein paar Stunden auszuruhen, nicht viel Erholung bot.

Merkwürdigerweise war er zu müde, um schlafen zu können.

Essen dagegen schnarchte wie ein Vulkan, bis ihn ein Adjutant wach rüttelte. Als die Pferde für den ganzen Stab an der Kirchentür vorgeführt wurden, war es draußen immer noch dunkel und kälter als je. »Ich glaube, es ist besser, wenn ich mitkomme, Sir«, sagte Brown. »Ich habe mir einen Gaul besorgt.«

Hornblower konnte sich nicht vorstellen, wie der gute Brown das fertiggebracht hatte, da er doch kein Wort Russisch sprechen konnte. Reiten mochte er damals in Smallbridge gelernt haben - ja, damals, wie lange schien das heute her zu sein. Langsam bewegte sich die Kavalkade durch die Nacht in Richtung auf die Mitauer Vorstadt, die Pferde rutschten und stolperten im Schnee, und Hornblower dachte mit Bedauern an die zurückgelassene Decke, denn jetzt, im schwachen Dämmerlicht des grauenden Tages, war die Kälte noch schneidender als zuvor. Plötzlich hörte man weit voraus einen dumpfen Knall, dann noch einen und noch einen - das waren Feldgeschütze, aber in großer Entfernung.

»Diebitsch hat ihre Nachhut gefaßt!« rief Essen. »Das ist ausgezeichnet!« Als sie bei den verlassenen Belagerungswerken ankamen, war es schon hell genug, daß sie das traurige Bild ihrer Umgebung in sich aufzunehmen vermochten. Sie warfen einen Blick in die Gräben, in denen überall verstreutes Gerät umherlag, da waren auch die Batterien mit den zertrümmerten Belagerungsgeschützen, die wie trunken hinter ihren Schießscharten standen, und hier lag ein totes Pferd, den Leib unter einem Bahrtuch von Schnee, die Beine steif zum grauen Himmel gereckt. Und dann kam das Hauptlager, Reihen und Reihen winziger Hütten, die meist nur zwei bis drei Fuß hoch waren, und davor die kalten Feuerstellen, deren Reste schon der Schnee bedeckte. Vor einer Hütte, die etwas größer war als die anderen, lag mit dem Gesicht zur Erde ein Soldat in dem grauen Kapuzenmantel der französischen Armee. Da er seine Beine bewegte, war er offenbar nicht tot.

»Ist denn hier überhaupt gekämpft worden?« meinte Essen verwundert. Der Mann hatte anscheinend auch kein Blut verloren. Da stieg irgend jemand aus dem Stabe ab und drehte ihn um. Sein Gesicht war über und über mit himbeerfarbenen Pusteln gefleckt, seine Augen standen zwar offen, schienen aber nichts zu sehen.

»Schnell fort!« schrie plötzlich einer der Adjutanten. »Das ist die Seuche!« Alle zogen sich hastig von dem Sterbenden zurück, aber sie mußten bald entdecken, daß sie überall von der Seuche umgeben waren. Eine der Hütten war voll von Toten, in einer anderen lagen Sterbende dicht nebeneinander. Essen setzte sein Pferd in Trab, und der Trupp entfernte sich klappernd und klirrend aus dieser unheimlichen Umgebung.

»Bei uns ist sie auch schon«, bemerkte Essen zu Hornblower.

»Kladow hatte vor zwei Tagen in seiner Division zehn Fälle.«

Kaum hatte die Invasionsarmee ihren Rückzug angetreten, da begann bereits die unerbittliche Auslese. Der Schwache blieb hoffnungslos zurück. Tote, Kranke, Sterbende lagen am Rand der Straße, der sie nun folgten, obgleich hier überhaupt nicht gekämpft worden war. Diebitsch an der Spitze der Verfolger ging nämlich viel weiter links, auf der Mitauer Straße, vor, und dort hörte man auch immer noch zeitweise Geschützfeuer.

Erst als sie den Punkt erreichten, wo ihre Straße in die Hauptchaussee einmündete, begannen die ersten Spuren wirklicher Kämpfe, fanden sie gefallene und verwundete Russen, Franzosen oder Deutsche. Hier war offenbar die russische Vorhut auf die feindliche Nachhut gestoßen. Dann holten sie die russischen Kolonnen ein, die mit kräftigem Marschtritt dahinzogen, und trabten an ihnen entlang nach vorn.

Die Marschsäule schien kein Ende zu nehmen, erst kam eine Division, dann noch eine. Die Anstrengung hatte die Männer verstummen lassen, es war kein Kinderspiel, bepackt mit dem schweren Tornister stundenlang zu marschieren, so schnell einen die Beine trugen. Kein Wunder, daß die ersten zehn Meilen dieses Eilmarsches die Begeisterung des Sieges erheblich gedämpft hatten.

»Macdonald hat sich geschickt von uns gelöst«, sagte Clausewitz, »allerdings hat er seine Kranken und seine schwere Artillerie dabei im Stich gelassen. Ich bin nur gespannt, wie lange er dieses Tempo durchhalten kann.« Hornblower war nicht in der Verfassung, sich an dem Meinungsaustausch über diese Frage zu beteiligen. Er war so müde und fühlte sich so elend, daß er für das äußere Geschehen nicht mehr viel Interesse aufbrachte. Zu allem anderen hatte er sich jetzt auch noch aufgeritten. Aber er mußte seiner Regierung auf jeden Fall melden können, daß er der fliehenden Armee auf ihrem Weg nach Deutschland mindestens einen, besser noch zwei oder drei Tagemärsche gefolgt war. Außerdem gab es noch einen anderen Grund, der ihn dazu bestimmte, diese Verfolgung mitzumachen: Er wollte unter allen Umständen die Preußen einholen, das wollte er, und wenn es das letzte war, was ihm das Schicksal zu tun vorbehielt. - Sonderbar, daß ihn das Gefühl nicht loslassen wollte, dies sei die letzte Aufgabe seines Lebens. Er war schon ganz schwindlig im Kopf, und der Gedanke, Brown dort hinten bei den Ordonnanzen zu wissen, hatte jetzt etwas wunderbar Beruhigendes für ihn. Ein Melder brachte die letzten Nachrichten von der Vorhut. Hornblower hörte wie im Traume zu, als Clausewitz ihren Inhalt bekanntgab. »Die Preußen haben an der Straßengabelung weiter vorn Front gemacht«, sagte er.

»Sie decken den Rückzug, während die anderen beiden Armeekorps auf den beiden Straßen weitermarschieren.«

Seltsam, genau diese Nachricht hatte er erwartet, sie klang ihm wie etwas längst Bekanntes, das man noch einmal erzählen hört.

»Die Preußen!« sagte er und spornte dabei, ohne es zu wollen, sein Pferd, als hätte er den Wunsch, schneller nach vorn zu gelangen, dorthin, wo jetzt dumpfer Kanonendonner von dem Widerstand der Preußen gegen die russische Vorhut Kunde gab.

Inzwischen hatte der Stab endlich die Infanterie des Gros hinter sich gelassen und trabte wieder allein auf der zerfurchten Straße, die nun durch dichten, schwarzen Nadelwald führte. Jenseits des Waldes begann wieder einsames, offenes Land, vorn zog sich ein niederer Höhenrücken quer über das Blickfeld, und die Straße führte über ihn hinweg. Hier hielt rechts und links der Straße je eine Brigade der russischen Vorhut. Daneben war eine Batterie aufgefahren und feuerte. Oben auf der Kuppe erkannte man die preußischen Infanteriekolonnen als schwarze Rechtecke auf grauem Hintergrund. Rechter Hand stapfte eine grau uniformierte russische Abteilung quer über Feld, um der gegnerischen Stellung die Flanke abzugewinnen, und zwischen Freund und Feind trabten auf ihren struppigen Ponys russische Reiter - Kosaken - allein oder zu zweien mit senkrecht gehaltener Lanze durch das Gelände. In diesem Augenblick brach die Sonne durch die Wolken, und in ihren wässerigen Strahlen erschien die düstere Landschaft nur noch düsterer. Ein General trabte heran, um Essen Meldung zu machen, aber Hornblower wollte gar nicht hören, was er sagte. Er wollte nichts als weiter, näher an die Preußen heran. Die Pferde der anderen folgten dem Beispiel des seinigen, und so bewegte sich die ganze Gruppe auf der Straße immer weiter nach vorn. Essen hörte dem General so aufmerksam zu, daß er nur halb auf die Bewegung seines Pferdes achtete. Erst als eine Kanonenkugel herangeheult kam und dicht neben ihm, Schnee und Erde nach allen Seiten spritzend, am Wegrand einschlug, schreckte er aus seinen Überlegungen auf. »Was für ein Unsinn!« rief er. »Wir wollen uns doch nicht totschießen lassen!«

Aber Hornblower starrte nur hinüber auf die preußischen Truppen, auf das Glitzern der Bajonette und auf die Fahnen, die sich schwarz gegen den Schnee abhoben.

»Ich will zu den Preußen hinüber«, sagte er.

Die Antwort Essens ging in dem Donner der Salve unter, die in diesem Augenblick von der in der Nähe aufgefahrenen Batterie abgefeuert wurde. Es war jedoch leicht zu erraten, was er gesagt hatte.

»Ich gehe auf jeden Fall«, sagte Hornblower mit verbissenem Ton. Dann sah er sich um und begegnete dem Blick Clausewitz'.

»Kommen Sie mit, Herr Oberst?«

»Ausgeschlossen«, protestierte Essen. »Er darf sich nicht der Gefahr aussetzen, drüben festgehalten zu werden.«

Das war zweifellos richtig. Clausewitz war ein Überläufer, war ein Mann, der gegen sein eigenes Vaterland kämpfte.

Nahmen ihn die Preußen fest, dann stand ihm wahrscheinlich der Strick in Aussicht.

»Es wäre aber besser, wenn er mitkäme«, sagte Hornblower hölzern. Körperliches Elend und hellsichtige Klarheit des Geistes paarten sich jetzt bei ihm zu einem seltsamen Zustand.

»Gut, ich begleite den Kommodore«, sagte Clausewitz plötzlich. Das war vielleicht die tapferste Entscheidung seines Lebens. Vielleicht riß ihn die Kühnheit Hornblowers mit, der wie unter einem Zwang zu handeln schien. Essen konnte über den Wahnsinn, der die beiden befallen hatte, nur die Achseln zucken.

»Tun Sie, was Sie nicht lassen können«, sagte er. »Vielleicht gelingt es mir, so viele Generäle gefangenzunehmen, daß ich Sie wieder austauschen kann.« Sie trabten langsam weiter hügelan.

Hornblower hörte noch, wie Essen dem Batteriechef den Befehl zum Feuereinstellen zuschrie. Dann sah er sich um. Brown folgte ihnen in einem achtungsvollen Abstand von fünf Pferdelängen. Ihr Weg führte sie dicht an ein paar der leichten Kosakenreiter vorbei, die ihnen neugierig mit den Blicken folgten, dann waren sie auch schon zwischen den preußischen Plänklern, die aus der Deckung von Sträuchern und Unebenheiten des Geländes die Kosaken auf große Entfernung unter Feuer hielten. Beherzt ritten sie weiter, es fiel kein Schuß auf sie. Ein preußischer Hauptmann, der am Straßenrand hielt, grüßte, und Clausewitz erwiderte seinen Gruß. Dicht hinter der Vorpostenlinie trafen sie dann auf den ersten geschlossenen Truppenkörper, ein preußisches Infanterieregiment in einzelnen, aus mehreren Kompanien bestehenden Bataillonskolonnen.

Zwei Bataillone hielten auf der einen Seite der Straße, das dritte auf der anderen. Der Oberst stand mit seinem Stabe auf der Straße selbst und starrte verwundert auf das merkwürdige Trio, das da auf ihn zukam, den englischen Seeoffizier in Blau und Gold, Clausewitz in seiner russischen Uniform mit der Ordensschnalle auf der Brust und dazu den englischen Seemann mit Entermesser und einem Paar Pistolen am Koppel. Als sie näher kamen, stellte der Oberst mit lauter, sachlicher Stimme eine Frage. Clausewitz gab Antwort und zügelte gleichzeitig sein Pferd.

»Sagen Sie ihm, daß wir ihren Befehlshaber sprechen müssen«, sagte Hornblower auf französisch zu Clausewitz.

Nun folgte ein rascher Austausch von Fragen und Antworten zwischen Clausewitz und dem Oberst, der damit endete, daß dieser ein paar berittene Offiziere heranrief - es dürften sein Adjutant und zwei Majore gewesen sein -, die sie auf ihrem Weiterritt begleiten sollten. Sie kamen wieder an einem großen, geschlossenen Infanterieverband vorbei und sahen eine Linie feuerbereit aufgefahrener Geschütze. Dann gelangten sie zu einer Reitergruppe, die neben der Straße hielt. Helmbüsche, gestickte Tressen, Orden und eine Anzahl berittener Ordonnanzen deuteten darauf hin, daß sie den Stab eines Generals vor sich hatten. Hornblower fand den Befehlshaber schnell heraus - das war also Yorck, er erinnerte sich seines Namens. Yorck hatte Clausewitz auf den ersten Blick erkannt und sprach ihn auf deutsch in barschen Worten an. Die wenigen Sätze, die gewechselt wurden, schienen die Spannung ins Unerträgliche zu steigern. Nun schwiegen sie.

»Er spricht Französisch«, sagte Clausewitz zu Hornblower.

Dann blickten ihn beide wortlos an und warteten auf das, was er ihnen zu sagen hatte. »Herr General«, begann Hornblower - er war in einem Traum, aber er zwang sich, in diesem Traum zu sprechen -, »ich vertrete hier den König von England, und Oberst von Clausewitz vertritt den Kaiser von Rußland.

Wir führen einen gemeinsamen Kampf, um Europa von Bonaparte zu befreien. Wofür kämpfen Sie? Geht es Ihnen darum, die Herrschaft des Tyrannen zu erhalten?«

Das war eine rhetorische Frage, auf die es keine Antwort gab.

Yorck blieb daher nichts anderes übrig, als schweigend abzuwarten, was Hornblower noch zu sagen hatte. »Bonaparte ist geschlagen, er zieht sich aus - Moskau zurück, keine zehntausend Mann seiner Armee werden die deutsche Grenze erreichen. Wie Sie wissen, haben ihn die Spanier verlassen, ebenso die Portugiesen. Ganz Europa wendet sich gegen ihn, weil es erkennt, wie wenig seine Versprechungen wert sind. Wie er Deutschland behandelt hat, wissen Sie selbst, darüber brauche ich kein Wort zu verlieren. Wenn Sie weiter für ihn kämpfen, mag es Ihnen vielleicht gelingen, ihm auf seinem wankenden Thron noch einige Tage Frist zu verschaffen. Aber Sie verlängern damit auch Deutschlands Elend um die gleiche Zeitspanne. Erkennen Sie Ihre Pflicht, helfen Sie Ihrem versklavten Vaterland, und helfen Sie Ihrem König, der ein Gefangener ist! Sie können beiden zum Befreier werden. In Ihre Hand ist es gegeben, Ihren Soldaten jetzt, in diesem Augenblick, alles weitere, sinnlose Blutvergießen zu ersparen.«

Yorck wandte den Blick von ihm ab. Nachdenklich sah er in die öde Winterlandschaft hinaus, wo sich die russischen Trappen langsam zum Gefecht entwickelten. Endlich antwortete er:

»Was schlagen Sie vor?«

Mehr wollte Hornblower nicht hören. Wenn Yorck Gegenfragen stellte, statt sie sofort gefangenzusetzen, dann war ihre Sache so gut wie gewonnen. Nun konnte er das Weitere getrost Clausewitz überlassen und seiner Müdigkeit nachgeben, die wuchs und wuchs wie eine steigende Flut. Ein Blick genügte, um Clausewitz in das Gespräch einzuschalten.

»Einen Waffenstillstand«, entgegnete dieser sofort.

»Augenblickliche Einstellung der Feindseligkeiten. Die endgültigen Bedingungen können dann leicht in Ruhe vereinbart werden.«

Yorck hielt noch einen Augenblick zurück, und Hornblower betrachtete ihn trotz Krankheit und Elend mit neu aufflackerndem Interesse. Er hatte ein hartes Soldatengesicht, das von der Sonne mahagonibraun gebrannt war, so daß der weiße Schnurrbart und das weiße Haar seltsam davon abstachen.

Diese Minute entschied über sein Schicksal. Noch war er ein treuer Untertan des Königs von Preußen, ein verhältnismäßig unbekannter General. Und nun brauchte er nur zwei Worte zu sprechen, dann war er heute ein Hochverräter und morgen wahrscheinlich ein großer Mann. Der Abfall Preußens - besser gesagt, der Abfall der preußischen Armee - lieferte der Welt einen stärkeren Beweis für die Brüchigkeit des napoleonischen Reiches als irgendein anderes Ereignis. Der Entschluß dazu lag bei Yorck. Endlich sprach er die entscheidenden Worte: »Ja, einverstanden.«

Darauf, nur darauf hatte Hornblower gewartet. Jetzt durfte er sich sinken lassen, bis ihn sein Traum, sein Alptraum wieder umfing. Mochten weitere Verhandlung ausgehen, wie sie wollte.

Als Clausewitz kehrtmachte und die Straße zurückritt folgte ihm Hornblowers Pferd ganz von selbst, sein Reiter gab ihm keine Hilfe. Dann erschien Brown, aber nur sein Gesicht, sonst nichts, alles andere war fort, verschwunden.

»Wie geht es Ihnen, Sir?«

»Gut«, gab Hornblower zur Antwort wie ein Automat. Wie, schritt er nicht über eine Wiese? Aber seltsam, es war ihm, als ginge er über weiße Federbetten oder auf einer lose ausgeholten Persenning. Vielleicht war es besser, wenn er sich niederlegte.

Da, plötzlich machte er eine Entdeckung, die Musik, fand er, war doch etwas sehr Schönes. Sein ganzes Leben lang hatte er sich eingebildet, sie sei nichts als ein widerwärtiges Durcheinander von Tönen, und nun offenbarte sie ihm endlich ihr Geheimnis. In verzücktem Staunen vernahm er eine Fülle überirdisch schöner Klänge, die sich zu einer gewaltigen Melodie emporschwangen. Er konnte nicht anders, er mußte stimmen und singen, singen, singen. Noch ein donnernder Akkord, dann herrschte plötzlich Stille, in der nur seine eigene Stimme mißtönend weiterkrächzte wie das Geschrei einer Krähe. Verlegen hielt er inne. Um so besser, daß nun ein anderer das Lied wieder aufnahm. War das nicht der Bootsmann der Themse, der nun zum Takt seiner Ruderschläge sang:

»Row, row, row you together to Hampton Court.«

Eigentlich eine Unverschämtheit, dachte Hornblower, beim Pullen einfach singen, aber der Kerl hatte einen wunderbaren Tenor, deshalb mochte es ihm hingehen.

»Rowing in sunshiny weather...«

Barbara saß neben ihm und ließ ihr köstliches silbernes Lachen hören. Sonne, die grünen Ufer, alles war herrlich! Er stimmte in ihr fröhliches Lachen ein, er lachte und lachte. Da war auch der kleine Richard und kletterte auf seinen Knien herum. Was fiel nur diesem Brown ein, daß er ihn immer wieder anstarrte?