20. Kapitel

Wieder stand Hornblower auf der Galerie, die um die Kuppel der Dünamünder Kirche lief.

»Hier sehen Sie jetzt, was ich Ihnen vorausgesagt habe«, sagte Clausewitz und deutete in das Land hinaus.

Drüben, jenseits der russischen Stellungen, hob sich eine lange, braune Linie gegen das Grün der Wiesen ab, der Wall des Grabens, den die Franzosen während der Nacht ausgehoben hatten. Macdonald war offensichtlich ein höchst tatkräftiger Befehlshaber. Er hatte diese Belagerungsarbeit begonnen, während er gleichzeitig die preußischen Truppen zu dem gefährlichen Übersetzversuch vorschickte. Wenn also das eine Unternehmen fehlschlug, dann hatte er dennoch einen handgreiflichen Vorteil erreicht, weil es ihm gelungen war, sich unter dem Schutz der dunklen, regnerischen Nacht so nahe am Feind festzusetzen.

»Dies hier ist der erste Parallelgraben, Sir. In der Mitte davon baut er jetzt seine Batterie ein. Und sehen Sie, dort, Sir! Da treibt er eine Sappe vor.« Hornblower sah angestrengt durch sein Glas. Nahe dem Ende des Parallelgrabens konnte er an dessen Stirnseite etwas erkennen, das wie eine Wand aus Holz aussah. Die Geschütze der Russen unter ihm feuerten darauf, man sah die Erde aufspritzen, als ringsherum die Schüsse einfielen. Am Ende dieser hölzernen Wand erkannte man ein seltsames Gebilde, das einem Schild auf Rädern glich. Während er dieses Ding noch genau betrachtete, sah er, wie es sich plötzlich vorwärtsbewegte, so daß zwischen ihm und dem Ende der Holzwand ein kleiner Zwischenraum entstand. In diesem tauchten für einen flüchtigen Augenblick ein paar Männer in Uniform auf. Aber man sah sie wirklich nur für den Bruchteil einer Sekunde, denn die Lücke wurde sogleich mit einem frischen Bündel Holz verschlossen. Über diesem neuen Bündel unterschied er gleich darauf blitzende Spatenblätter, die aber bald wieder verschwanden. Anscheinend war das Holzbündel hohl wie ein Faß und wurde, sobald es in der richtigen Lage war, von hinten her mit Erde vollgefüllt. Die Soldaten, die diese Arbeit ausführten, nahmen während deren Dauer hinter ihm Deckung. Hornblower war sich bald darüber im klaren, daß er hier Zeuge des klassischen Verfahrens war, gegen eine feindliche Stellung mit Hilfe von ›Schanzkörben‹und›Faschinen‹ eine Sappe vorzutreiben.

Dieses große hölzerne Faß dort war ein Schanzkorb, der soeben mit Erde gefüllt wurde. Weiter hinten, im Schutz der gefüllten Schanzkörbe, bekleideten die Belagerer ihre Brustwehr mit Faschinen, die aus sechs Fuß langen Holzbündeln bestanden, und noch weiter hinten verwandelten sie das Ganze in einen soliden Erdwall, zu dem sie das Material aus einem Graben hinter der Brustwehr entnahmen. Während er noch weiter zusah, wurde der Schild wieder einen Meter vorgeschoben und ein weiterer Schanzkorb an seinen Platz gesetzt. Damit waren die Franzosen schon wieder um drei Fuß näher an die Erdbefestigungen herangekommen, die Dünamünde Schutz boten. Nein, es waren nicht ganz drei Fuß, es war etwas weniger. Die Sappe war nämlich nicht geradewegs auf ihr Ziel gerichtet, sondern schräg auf dessen Flanke zu. Auf diese Weise konnte sie nie der Länge nach bestrichen werden. Nach einiger Zeit wechselte man einfach die Richtung und zielte auf die andere Flanke. Man näherte sich also dem Verteidiger nicht geradeaus, sondern im Zickzack, aber mit unerbittlichem und unwiderstehlichem Gleichmaß. Von allen Operationen, die im Kriege vorkamen, nahm diese Art der Belagerung mit technischen Mitteln den sichersten Verlauf, vorausgesetzt, daß dem Verteidiger keine Hilfe von außen gebracht wurde.

»Sehen Sie dort, Monsieur«, sagte Clausewitz plötzlich.

Hinter einer Anhöhe kam auf einmal eine lange Reihe von Pferden zum Vorschein, sie sahen auf die große Entfernung aus wie Ameisen, aber die weißen Reithosen der Männer, die sie führten, leuchteten hell in der Sonne. Die Pferde zogen ein Geschütz. Verglich man dessen Größe mit der der Gäule, dann sah man, daß es sich um ein schweres Kaliber handeln mußte.

Im Schneckentempo näherte sich der Zug der Batteriestellung in der Mitte des feindlichen Grabens, eine Unzahl weißbehoster Pünktchen wimmelte darum herum. Die hohe Brustwehr des ersten Parallelgrabens deckte dieses Manöver gegen die Sicht der russischen Kanoniere und schützte es vor ihrem Feuer. Die Öffnungen oder Schießscharten wurden nach Hornblowers Kenntnis erst dann in die Brustwehr eingeschnitten, wenn alle Geschütze in der Stellung eingebaut waren. Dann konnten sie das Feuer auf die Ortschaft eröffnen, um zunächst die Artillerie der Verteidiger zum Schweigen zu bringen und danach eine richtige Bresche zu legen. In der Zwischenzeit wurde die Sappe zu einem breiten Graben, der ›zweiten Parallele‹ , ausgebaut. Von ihr oder, wenn es nötig war, von einer dritten Parallele aus traten die Angreifer zuletzt zum Sturm auf die Bresche an.

»Sie haben die Batterie bis morgen fertig bestückt«, sagte Clausewitz. »Sehen Sie nur! Schon wieder ein Schanzkorb.«

Diese Belagerungsoperationen hatten etwas von der kalten Grausamkeit, mit der die Schlange einen vor Schreck völlig gelähmten Vogel angreift.

»Kann Ihre Artillerie die Arbeit an der Sappe nicht verhindern?«

»Wie Sie sehen, versucht man das bereits. Aber auf diese Entfernung ist ein einzelner Schanzkorb nicht leicht zu treffen, und man kann nur dem letzten in der Reihe etwas anhaben. Bis die Sappe jedoch auf eine bequeme Entfernung vorgetrieben ist, sind unsere Geschütze längst durch die feindliche schwere Batterie zum Schweigen gebracht.«

Wieder war ein Belagerungsgeschütz hinter der Anhöhe erschienen und kroch nun langsam auf die Batteriestellung zu.

Sein Vorgänger war inzwischen am Ziel angelangt und stand bereits auf seinem endgültigen Platz hinter der Brustwehr.

»Können Sie nicht Ihre Schiffe hierher bringen, Monsieur?« fragte Clausewitz. »Sehen Sie nur, wie dicht das Wasser an ihre Befestigungen heranreicht. Sie könnten ihnen mit Ihren schweren Schiffsgeschützen alles in Stücke schießen.«

Hornblower schüttelte den Kopf. Er hatte diese Möglichkeit schon selbst erwogen. Der lange, sonnenglitzernde Ausläufer der Bucht von Riga, der hier weit ins Land reichte, war in der Tat auf den ersten Blick höchst verlockend Aber er hatte weniger als einen Faden (1,8 in) Wasser, während sogar seine flachgehenden Kanonenboote einen Tiefgang von neun Fuß (3 in) besaßen, den man höchstens auf sieben Fuß (2,2 in) verringern konnte, wenn man alle Gewichte und Vorräte außer den für das Gefecht benötigten von Bord nahm.

»Ich täte es, wenn ich nur könnte«, sagte Hornblower, »aber im Augenblick sehe ich keine Möglichkeit, meine Geschütze auf Schußweite heranzubringen.« Clausewitz warf ihm einen kalten Blick zu und ließ ihn damit fühlen, wie leicht Freundschaft und Wohlwollen zwischen militärischen Verbündeten in Scherben gehen. Heute morgen waren Engländer und Russen noch die besten Freunde gewesen, Essen und Clausewitz waren ganz begeistert, daß es gelungen war, Macdonalds Übergangsversuch abzuschlagen. Wie die gedankenlosen Subalternoffiziere seines Geschwaders hatten sie in der Vernichtung eines preußischen Halbbataillons einen beachtenswerten Erfolg erblickt. Sie ahnten natürlich nichts von dem viel weiter reichenden Plane Hornblowers, den Coles Nervosität fast ganz zunichte gemacht hatte. Solange alles gut ging, waren Verbündete immer die besten Freunde, traten jedoch Schwierigkeiten ein, dann suchte immer der eine dem anderen die Schuld zu geben. Jetzt, da sich die französischen Laufgräben an Dünamünde heranschoben, hatte er selbst gleich die Frage gestellt, weshalb denn die russische Artillerie nichts dagegen unternehme, und die Russen antworteten mit der Gegenfrage, warum er mit seinen Schiffsgeschützen nichts ausrichten könne. Hornblower erklärte den Zusammenhang, so genau er konnte, aber Clausewitz schien ihn nicht verstehen zu wollen, und bei Essen, der das Problem noch einmal zur Sprache brachte, als Hornblower sich von ihm verabschieden wollte, stand es nicht viel anders. Für eine Flotte, die sich etwas darauf zugute tat, daß es bei ihr das Wort ›unmöglich‹nicht gab, war das immerhin so etwas wie ein Armutszeugnis. Kein Wunder, daß Hornblower am Nachmittag bei seiner Rückkehr auf die Nonsuch gereizt und kurz angebunden war. Nicht einmal für Bush, der eilig zur Begrüßung herbeikam, als er das Fallreep emporstieg, hatte er ein freundliches Wort. Er ließ seinen Blick gallig durch die Kajüte wandern; wie ungemütlich und häßlich hier alles war! An Bord war obendrein›Zeugflicken‹ angesetzt, und die Leute trieben überall an Deck ihren Schabernack. Er konnte also nicht einmal in Ruhe seinen gewohnten Spaziergang auf dem Achterdeck machen, weil er wußte, daß er dabei in seinen Gedanken immer wieder gestört würde. Einen Augenblick spielte er mit der Absicht, Bush zu befehlen, er solle das Zeugflicken unterbrechen lassen und irgendeine andere, ruhigere Beschäftigung anordnen. Aber dann wußte natürlich gleich die ganze Besatzung, daß es nur deshalb geschah, weil der Kommodore ungestört an Deck spazierengehen wollte. Die Leute bekamen dadurch vielleicht einen gewaltigen Eindruck von seiner Bedeutung und Allmacht. Dennoch kam es für ihn keinen Augenblick in Frage, einen solchen Gedanken in die Tat umzusetzen. Es fiel ihm nicht ein, die Männer ihrer Freizeit zu berauben, und die Vorstellung, daß er sich vor ihnen gar durch einen derartigen Befehl in Szene setzen könnte, hatte geradezu etwas Abschreckendes für ihn. Statt dessen trat er nun auf die Heckgalerie hinaus und versuchte dort, auf den zwölf Fuß Raum, die sie ihm bot, auf und ab zu wandern. Dabei mußte er sich bücken, damit er nicht an die überstehenden Decksbalken stieß. Es war wirklich ein Jammer, daß er seine Schiffsgeschütze nicht gegen diese Belagerungswerke einsetzen konnte. Schwere Geschütze konnten diese französischen Brustwehren gründlich zerstören, wenn sie auf nahe Entfernung herankamen. Außerdem mußte hinter der Anhöhe, dort, wo die Geschütze zum Vorschein gekommen waren, der Artillerie- und Gerätepark der Franzosen liegen - ein paar Granaten seiner Kanonenboote mußten dort geradezu verheerend wirken. Dabei war es ein Kinderspiel, über diese lächerliche Höhe hinwegzuschießen, wenn es nur gelang, die Kanonenboote in die Bucht hineinzubringen. Aber dort gab es ja überall nur drei, höchstens vier Fuß Wasser, an keiner einzigen Stelle mehr als sieben.

Unter diesen Umständen war eben einfach nichts zu machen, und das beste war, überhaupt nicht mehr daran zu denken. Um auf andere Gedanken zu kommen, stieg er über die Schranke, die die beiden Hälften der Galerie voneinander trennte, und warf einen Blick durch das Heckfenster in die Kammer Bushs. Da lag Bush schlafend flach auf dem Rücken und mit offenem Mund auf seiner Koje. Die Arme hatte er weit von sich gestreckt, sein Holzbein hing in einem Stropp an der Schottwand. Hornblower sah nicht ohne Gereiztheit, wie sein Kommandant hier friedlich schlummerte, während er, der Kommodore, eine solche Sorgenlast auf seinen Schultern trug. Es fehlte nicht viel und er hätte, nur um seinen Mittagsschlaf zu stören, jemand mit einem Befehl zu ihm geschickt. Aber er war sich dabei zu gleicher Zeit im klaren, daß er eine solche Absicht niemals ausführen würde.

Er brachte es nicht fertig, seine Macht zur Befriedigung seiner Launen zu mißbrauchen.

Er turnte also wieder auf seine eigene Heckgalerie zurück.

Eben hatte er ein Bein über die Schranke geschlagen und hörte in der Strömung unter sich die Fingerlinge des Ruders leise in ihren Ösen knarren, da überfiel ihn der rettende Gedanke mit solcher Gewalt, daß er eine ganze Zeit in seiner unbequemen Lage stocksteif stehen blieb. Dann zog er endlich das eine Bein nach, ging in seine Kajüte und rief nach dem Läufer.

»Ich lasse den Wachhabenden Offizier bitten, Mr. Mound von der Harvey sofort zu mir an Bord zu rufen.«

Jung, frisch und voller Erwartung betrat Mound die Kajüte, war aber wie immer darauf bedacht, seine Spannung unter einem dünnen Firniß gespielter Gleichgültigkeit zu verbergen.

Hornblower beobachtete ihn belustigt, während er ihn begrüßte, dann kam ihm plötzlich der Gedanke, daß er es offenbar selbst war, der Mound als Vorbild diente, wenn er diese angenommene Ruhe zur Schau trug. Hornblower machte sich klar, daß er für diesen jungen Leutnant etwas wie ein Held, nein, das Beispiel eines Helden war, sonst hätte er ihm nicht die Ehre angetan, ihn nachzuahmen. Bei dieser Entdeckung lächelte er etwas gezwungen vor sich hin, während er Mound einen Stuhl anbot.

Dann aber kam er sogleich auf die Hauptsache zu sprechen und vergaß darüber alles andere.

»Mr. Mound, wissen Sie, welche Fortschritte die Franzosen mit ihren Belagerungsarbeiten machen?«

»Nein, Sir.«

»Dann sehen Sie sich einmal mit mir diese Karte an. Hier haben sie eine Grabenlinie angelegt und hier eine Batterie. Ihr Hauptstützpunkt und ihr ganzes Gerät befindet sich hier, hinter dieser Höhe. Wenn wir die Kanonenboote in die Bucht hineinbringen könnten, dann wären wir imstande, ihnen mit unseren Granaten an beiden Stellen den Aufenthalt zu verleiden.«

»Leider ist es dort zu flach, Sir«, sagte Mound bedauernd.

»Ja«, sagte Hornblower, und dann konnte er einfach nicht anders, er mußte eine dramatische Pause einlegen, ehe er das entscheidende Wort aussprach, »aber wir könnten den Tiefgang verringern, in dem wir ›Kamele‹ längsseit legen.«

»Kamele!« rief Mound, und als er begriff, worauf Hornblower hinauswollte, begannen seine Augen zu leuchten. »Weiß Gott, Sir, Sie haben recht!« Diese sogenannten ›Kamele‹ sind ein altes Mittel, den Tiefgang eines Schiffes zu verringern. Es handelt sich um Fahrzeuge, die man beladen an beiden Seiten besonders kräftig festmacht und dann entleert. Dadurch lüftet man das in der Mitte liegende Schiff im Wasser an. Mound befaßte sich bereits mit den Einzelheiten.

»In Riga liegen eine Menge Leichter und Schuten, Sir. Von denen bekommen wir todsicher ein paar zur Verfügung gestellt.

Sand zum Beladen gibt es genug, sonst füllen wir sie einfach mit Wasser und pumpen sie dann aus. Mit zwei großen Leichtern kann ich den Tiefgang der Harvey bequem um fünf Fuß verringern - wenn es darauf ankommt, hebe ich sie damit glatt aus dem Wasser. Diese Leichter tragen mindestens zweihundert Tonnen und gehen leer nicht tiefer als zwei Fuß.«

Während Mound noch sprach, war Hornblower eine Schwierigkeit eingefallen, an die er vorher nicht gedacht hatte.

»Wie wollen Sie das Ganze steuern?« fragte er. »Die drei zusammengelaschten Fahrzeuge werden sehr unhandig sein.«

»Ich werde ein Donauruder zurechttakeln, Sir«, gab Mound sofort zur Antwort. »Das braucht man nur groß genug zu machen, dann kann man alles damit steuern.«

»Gib mir einen Stützpunkt, und ich hebe die Welt aus den Angeln«, zitierte Hornblower.

»Jawohl, Sir. Ich werde Löcher in die Bordwand der Leichter schneiden lassen, damit wir unsere langen Riemen benutzen können. Mit dem Kreuzen wird es ja dann aus sein, weil wir treiben werden wie ein Floß. Ich könnte die Leute sofort an die Arbeit schicken, wenn Sie mir den Befehl dazu geben, Sir.«

Mounds Gehaben verriet einen Tatendrang, als wäre er nicht ein zwanzigjähriger Mann, sondern ein zehnjähriger Junge. Die müde Gleichgültigkeit war jetzt ganz vergessen.

»Ich werde gleich ein Schreiben an den Gouverneur schicken«, sagte Hornblower, »und ihn bitten, mir vier Leichter zu überlassen. Nein, vielleicht ist es besser, ich verlange gleich sechs, damit wir eine Reserve haben, falls etwas schiefgeht.

Sehen Sie zu, daß Sie in einer Stunde mit der Planung des Manövers fertig sind. Wenn es nötig ist, können Sie auf die Ausrüstung und die Besatzung der Nonsuch und der beiden Korvetten zurückgreifen.«

»Aye, aye, Sir.«

Wenn das Unternehmen noch Zweck haben sollte, dann war Eile geboten. Schon am gleichen Abend drang nämlich das dumpfe Grollen schwerer Artillerie über die Bucht. Das war nicht der höhere, durchdringende Knall der Feldgeschütze, die sie schon immer gehört hatten, sondern das drohende Donnern der Belagerungsartillerie. Der Gegner gab wohl mit dem ersten in der Batterie aufgestellten Geschütz einige Probeschüsse ab.

Und als Hornblower am nächsten Morgen gerade das Achterdeck betrat, krachte es an Land plötzlich wie rollender Donner - das war die erste Salve. Ihr Echo war noch nicht verklungen, da folgte auch schon die zweite, die nicht mehr so geschlossen war, und dann fiel die dritte mit noch größeren Abständen zwischen den einzelnen Schüssen. So ging es ununterbrochen weiter. Die Detonationen zerrissen die Luft wie das Rollen eines endlosen Gewitters, und das Ohr hoffte vergebens auf die erlösende Stille. Der Ausguckposten im Topp meldete eine lange Rauchfahne, die sich mit dem Winde von der feindlichen Batterie her über das Land hinzog.

»Lassen Sie mein Boot klarpfeifen«, sagte Hornblower. An den Backspieren der Nonsuch lag schon eine ganze Sammlung von Booten des Geschwaders, hoch beladen mit Ausrüstungsgegenständen, die von den beiden Kanonenbooten stammten. Der Morgen war von funkelnder Frische. Unter dem kräftigen Zug der Riemen tanzte das Chefboot hinüber zu den Ankerplätzen der Kanonenboote, die schon an beiden Seiten ihre Leichter längsseit hatten. Duncan, der Kommandant der Math ließ sich gerade in einer Jolle um sein Dreigespann herumrudern. Als das Chefboot sich näherte, legte er grüßend die Hand an den Hut.

»Guten Morgen, Sir«, sagte er, wandte sich aber dann gleich wieder seiner Aufgabe zu. Er hob das Megaphon an den Mund:

»Wir sind zu kopflastig! Die vordere Trosse noch ein Pall einhieven!« Hornblower ließ sich auf die Harvey bringen, er sprang aus seinem Boot auf den Leichter, der an ihrer Steuerbordseite lag. Das war nicht schwer, weil der Leichter noch so mit Ballast beladen war, daß er sehr tief lag. Dabei verbat er sich jede Ehrenbezeigung von Offizieren oder Mannschaften. Mound stand auf seinem winzigen Achterdeck und prüfte mit dem Fuß die Beanspruchung der dicken Trosse - sie stammte von der Nonsuch - die vorn und achtern in zwei Törns um sein Schiff und die beiden Leichter gelegt war.

»Backbordseite weitermachen!« rief er.

In jedem der Leichter befand sich ein starkes Arbeitskommando. Die Männer hantierten alle mit Schaufeln, die meist behelfsmäßig aus Holz zurechtgeschnitzt waren. Auf Mounds Kommando begannen die Leute in dem Backbordleichter wieder frisch drauflos zu schaufeln und den Sand über Bord zu befördern. Eine Staubwolke trieb mit dem schwachen Wind achteraus. Wieder prüfte Mound die Kraft, die auf der Trosse stand.

»Steuerbord weitermachen!« rief er wieder. Da erblickte er den Kommodore und machte seine Ehrenbezeigung. »Guten Morgen, Mr. Mound«, sagte Hornblower.

»Guten Morgen, Sir. Wir müssen mit den Leichtern sehr vorsichtig sein, Sir. Ich habe die gute Harvey so leicht gemacht, daß sie uns in den Trossen kentert, wenn wir nicht genau aufpassen.«

»Das ist klar.«

»Die Russen haben uns die Leichter erstaunlich schnell herausgeschickt, Sir.«

»Ist das ein Wunder?« gab Hornblower zur Antwort. »Sie hören doch die französische Batterie bei ihrer Arbeit.«

Mound lauschte und hörte nun den Geschützdonner anscheinend wirklich zum erstenmal. Er war so in seine Aufgabe vertieft, daß er ihm vorher überhaupt keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Sein graues, übermüdetes und unrasiertes Gesicht verriet, daß er sich seit der Besprechung bei Hornblower am vorhergegangenen Nachmittag nicht einen Augenblick Ruhe gegönnt hatte. Während dieser Zeit war die ganze Ausrüstung der beiden Kanonenboote von Bord gekommen, außerdem hatte man die nötigen Trossen aus dem Kabelgatt der Nonsuch geholt und herübergebracht, die Leichter wahrgenommen, im Dunkeln längsseit gelegt und jede der beiden aus drei Fahrzeugen bestehenden Gruppen mit Hilfe der durch das Ankerspill steif geholten Trossen zu einem einzigen starren Körper zusammengelascht.

»Ich bitte um Entschuldigung, Sir«, sagte Mound und rannte nach vorn, um die vordere Trosse zu prüfen.

Je mehr Sand von den paar hundert fleißigen Armen über Bord geschaufelt wurde, desto höher stiegen die Leichter aus dem Wasser und hoben das zwischen ihnen hängende Kanonenboot mit an. Trossen und Schiffsverbände knackten und krachten, und man mußte vor allem darauf bedacht sein, die Trossen ordentlich steif zu halten, wenn durch das Hochsteigen der Leichter ihre Spannung nachließ, Hornblower wandte sich dem Heck zu, weil er wissen wollte, was die dort beschäftigte Arbeitsgruppe vorhatte. Dort trieb ein großes, halb mit Wasser gefülltes Faß. Es hing an zwei Leinen, von denen die eine durch die Steuerbord-, die andere durch die Backbordheckklüse der Harvey lief. Beide Leinen konnten mit behelfsmäßigen Winschen bedient werden. Wurden diese Leinen gehievt oder gefiert, dann entstand dadurch ein seitlicher Zug auf das Faß, der in Fahrt eine entsprechend starke Ruderwirkung hervorrief.

Das Faß sollte also die Funktion des Ruders übernehmen, da dieses selbst schon so hoch aus dem Wasser war, daß es fast keine Wirkung mehr haben konnte. »Das ist nur ein Notbehelf, Sir«, sagte Mound, der inzwischen vom Vorschiff zurückgekommen war. »Ich hatte eigentlich, wie ich zuerst vorschlug, die Absicht, ein Donauruder anfertigen zu lassen.

Dann hat mir aber Wilson diese Lösung hier vorgeschlagen - ich möchte Sie auf ihn aufmerksam machen, Sir. Sein Vorschlag ist ohne Zweifel besser und einfacher.« Mit einem Grinsen, das alle Zahnlücken sehen ließ, blickte Wilson von der Arbeit auf.

»Welchen Dienstgrad haben Sie?« fragte Hornblower.

»Zimmermannsmaat, Sir.«

»Ich habe noch keinen besseren kennengelernt«, warf Mound dazwischen. »Wo haben Sie gedient?«

»Zwei Reisen mit der alten Superb Sir, eine mit Arethusa und jetzt diese hier.«

»Ich befördere Sie hiermit zum Meister«, sagte Hornblower.

»Vielen Dank, Sir, vielen Dank!«

Mound hätte das Verdienst, dieses Notruder erfunden zu haben, leicht für sich selbst in Anspruch nehmen können. Er hatte auf diese Möglichkeit verzichtet, und Hornblower schätzte ihn deshalb nur um so höher. Es war gut für die Disziplin und für den Geist der Mannschaft, wenn gute Arbeit sofort ihren Lohn fand.

»Sehr gut, Mr. Mound, machen Sie nur so weiter.«

Hornblower bestieg wieder sein Boot und ließ sich auf die Math hinüberbringen. Hier war die Arbeit schon etwas weiter gediehen. Die Leute hatten bereits so viel Sand aus den Leichtem herausgeschaufelt, daß sie ihn jetzt mühsam über die schulterhohe Bordwand hinwegwerfen mußten. Die Math war schon so weit angehoben, daß ein breiter Streifen ihres kupfernen Bodenbeschlages über Wasser zu sehen war.

»Passen Sie gut auf ihre Trimmlage auf, Mr. Duncan«, sagte Hornblower. »Sie haben etwas Backbordschlagseite.«

»Aye, aye, Sir.«

Um die Math wieder auf ebenen Kiel zu bringen, bedurfte es eines nicht gerade einfachen Manövers an den Trossen, die hüben gefiert und drüben geholt werden mußten.

»Wenn wir fertig sind, haben wir höchstens zwei Fuß Tiefgang, Sir«, sagte Duncan begeistert.

Dann befaßte er sich gleich damit, die Arbeitskommandos in den Leichtern zu verstärken. Die zusätzlichen Leute sollten den Sand von der inneren nach der äußeren Bordwand hinüberschaufeln, um denen die Arbeit zu erleichtern, die ihn dann über Bord werfen mußten.

»In zwei Stunden sind wir damit klar, Sir«, meldete Duncan.

»Dann brauchen wir nur noch die Löcher für die Riemen in die Bordwände zu schneiden.« Er blickte zur Sonne, die noch nicht weit über dem Horizont stand. »Um 11 Uhr 30 sind wir klar zum Gefecht, Sir«, fügte er dann hinzu.

»Lassen Sie die Löcher lieber gleich einschneiden«, sagte Hornblower, »und geben Sie den Leuten währenddessen eine Frühstückspause. Wenn dann hinterher die Arbeit wieder beginnt, können sie den Sand durch die eingeschnittenen Pforten schaufeln. Dann werden sie um so schneller fertig.«

»Aye, aye, Sir.«

Mit dieser Verbesserung des Arbeitsplanes stiegen die Aussichten, wirklich bis 11 Uhr 30 fertig zu werden, noch um ein erkleckliches. Aber die Beendigung der Vorbereitungen mochte sich ruhig noch um zwei Stunden verzögern, es blieb immer noch lange genug hell, um den beabsichtigten Schlag zu führen. Während die Zimmerleute die Löcher für die Riemen in die Leichter schnitten, ließ Hornblower Duncan und Mound noch einmal zu sich kommen und gab ihnen die letzten Befehle.

»Ich richte also die Signalstation auf dem Kirchendach ein«, sagte er zuletzt, »und werde schon dafür sorgen, daß Sie gehörig unterstützt werden. Und nun wünsche ich Ihnen guten Erfolg.«

»Danke, Sir«, kam wie aus einem Munde ihre Antwort. Die gespannte Erregung, in der sie sich befanden, ließ sie alle Müdigkeit vergessen. Hornblower ließ sich wieder zum Dorf hinüberrudern, wo eine winzige Anlegebrücke ihn und seine Signalgasten der Notwendigkeit überhob, in das seichte Wasser springen und an Land waten zu müssen. Je näher sie kamen, desto stärker wurde der Lärm der Beschießung und des Abwehrfeuers. Diebitsch und Clausewitz kamen ihnen an der Brücke entgegen und gingen mit ihnen zur Kirche. Als sie an den Erdbefestigungen vorüberkamen, die den Ort nach der Landseite zu umgaben, warf Hornblower einen Blick auf die russischen Artilleristen, die dort ihre Geschütze bedienten, lauter kräftige, bärtige Gestalten, die in der heißen Sonne ihren Dienst mit nacktem Oberkörper taten. Ein Offizier ging von Geschütz zu Geschütz durch die Batterie, um der Reihe nach jedes Stück einzeln zu richten.

»Wir haben bei unserer Artillerie leider nur wenige Leute, die wir selbständig ihre Geschütze richten lassen können«, sagte Clausewitz. Das Dorf zeigte schon starke Spuren der Beschießung. In den Wänden und Dächern der dürftigen Gehöfte klafften überall große Löcher. Als sie sich der Kirche näherten, schlug gerade eine abprallende Kugel in deren dicke Wand. Es gab eine Wolke von umherfliegenden Steinsplittern, und dann stak das Geschoß in der Ziegelmauer wie eine Pflaume im Kuchen. Im nächsten Augenblick fuhr Hornblower herum, weil er hinter sich ein dumpfes Krachen hörte. Da mußte er sehen, wie seine beiden Fähnriche stumm den kopflosen Leichnam des Matrosen anstarrten, der noch vor einer Sekunde dicht hinter ihnen hergegangen war. Eine Kugel hatte die Erdbefestigung überflogen und seinen Kopf in Atome zerschmettert. Sein Rumpf war gegen die Fähnriche geschleudert worden. Somers betrachtete voll Ekel die Spritzer von Blut und Gehirnmasse auf seiner weißen Hose.

»Los! Weiter!« sagte Hornblower.

Von der Galerie unter der Kuppel konnten sie das Werk der Belagerer überblicken. Der im Zickzack geführte Laufgraben war schon so weit gediehen, daß er die Stellung der Verteidiger halbwegs erreicht hatte. Der Kopf der Sappe war fast ständig in eine Wolke von Staub und Dreck gehüllt, so wütend war das Feuer, das die Russen darauf unterhielten. Leider war die Hauptschanze, die das Betreten des Dorfes verwehrte, bereits in erbärmlichem Zustand. Ihre Wälle waren schon so zusammengeschossen, daß sie nur noch Erdhaufen glichen, ein Geschütz lag halb begraben neben seiner zerschmetterten Lafette, das andere schoß immer noch, eine kleine Gruppe verbissener Kämpfer bildete seine Bedienung. Die französischen Schanzen lagen alle hinter einem Rauchschleier, der von der brescheschießenden Batterie stammte und das ganze Gelände einhüllte. Aber dieser Schleier war doch nicht dicht genug, um eine Infanteriekolonne zu verbergen, die jetzt von hinten kam und auf den ersten Parallelgraben zumarschierte.

»Sie lösen die Grabenbesatzung mittags 12 Uhr ab«, erklärte Clausewitz. »Wo sind Ihre Schiffe, Monsieur?«

»Dort kommen sie«, sagte Hornblower.

Langsam kamen die Kanonenboote über die silbern glitzernde Wasserfläche einhergekrochen. Mit ihren festgemachten Segeln und den häßlichen, dickbauchigen Leichtern an beiden Seiten boten sie einen abenteuerlichen Anblick. Die langen, schwerfälligen Riemen, ein Dutzend an jeder Seite, nahmen sich aus wie die Beine einer Wasserspinne auf einem Teich, allerdings bewegten sie sich nicht so schnell wie diese, denn die Seeleute, die sie bedienten, konnten sie bei aller Anstrengung nur unendlich langsam Schlag für Schlag durchs Wasser holen.

»Somers, Gerard!« sagte Hornblower in scharfem Ton, »kommen Sie endlich klar mit Ihrer Signalstation? Machen Sie den Block dort am Gesims fest! Los, los, oder wollen Sie sich den ganzen Tag dabei aufschießen?« Die Fähnriche und Matrosen machten sich eifrig an die Arbeit, oben auf der Galerie eine Signalstation einzurichten. Die Blöcke wurden an das Gesims gelascht, das sich höher oben befand, und die Flaggleinen eingeschoren. Der russische Stab verfolgte diese Hantierungen mit gespannten Blicken. Inzwischen schlichen die Kanonenboote, angetrieben von ihren langen Riemen, entsetzlich langsam näher. Von Hornblowers erhöhtem Standpunkt aus konnte man sehen, wie sie von der leichten, schräg von vorn kommenden Brise merklich abgetrieben wurden, so daß sie sich fast wie Dwarsläufer durchs Wasser zu bewegen schienen. Beim Gegner drüben schenkte ihnen anscheinend kein Mensch auch nur die leiseste Beachtung. Die Armeen Bonapartes hatten zwar die unumschränkte Herrschaft über ganz Europa von Madrid bis Smolensk inne, aber sie hatten bis jetzt offenbar noch wenig Gelegenheit gehabt, mit englischen Kanonenbooten Bekanntschaft zu machen. Das Feuer der schweren Batterie donnerte ohne Unterlaß auf die russischen Erdwerke und zerpflügte sie so, daß sie mehr und mehr zusammensanken. Die Russen aber erwiderten das Feuer mit verbissener Ausdauer. Die Harvey und die Math krochen so tief in die Bucht hinein, daß sie zuletzt ganz dicht unter Land waren.

Hornblower konnte durchs Glas winzige Gestalten auf ihrem Vorschiff erkennen und schloß daraus, daß sie nun gleich ankern wollten. Die Riemen arbeiteten krampfhaft, erst die eine Seite, dann wieder die andere - Hornblower bekam auf seiner Galerie richtiges Herzklopfen. Er konnte sich so gut vorstellen, wie Mound und Duncan dort auf ihren Achterdecks Befehl auf Befehl an ihre Rudermannschaften gaben. Ihre Manöver sahen wirklich aus wie die Bewegungen eines aufgespießten Käfers.

Sie waren offenbar im Begriff, ihre Fahrzeuge mit Hilfe der Riemen an die Stelle zu bringen, wo der zweite Anker fallen mußte. Lagen beide Anker richtig, dann konnten sie ihr Schiff durch Fieren und Holen der Trossen herumholen, um ihre Mörser auf jeden beliebigen Punkt eines möglichst großen Bogens richten zu können. Clausewitz und sein Stab sahen verständnislos zu, sie konnten sich nicht erklären, was diese ganzen Manöver bedeuten sollten. Hornblower aber sah, wie drüben die Heckanker fielen, und beobachtete dann kleine Gruppen von Männern an Deck, die an den Spills arbeiteten.

Jetzt begannen die Kanonenboote sich kaum wahrnehmbar zu drehen, einmal nach der einen, dann wieder nach der anderen Seite, je nachdem die beiden Kommandanten mit Hilfe bestimmter Objekte an Land ihre Richtung verbesserten.

»Harvey meldet klar«, sagte Hornblower, das Glas am Auge.

Die Scheibe des Blocks, der über seinem Kopf hing, quietschte vernehmlich, als die Leine mit dem Verstandensignal hindurchlief. Plötzlich schoß vom Bug der Harvey ein dicker Rauchballen hoch. Auf diese Entfernung konnte Hornblower den Flug der Granate natürlich nicht verfolgen, er wartete voll Unruhe und zwang sich, das ganze Gebiet rund um die Batterie im Auge zu behalten, damit er den Aufschlag unter keinen Umständen verpaßte. Aber er sah nichts, gar nichts. Zögernd ließ er den Kegel heißen, der ›Nicht beobachtet‹ bedeutete, und die Harvey feuerte sogleich ihren zweiten Schuß. Diesmal sah er den Aufschlag, einen kleinen Vulkan von Rauch und Sprengstücken. Er lag ganz wenig jenseits der Batterie. »Weit, Sir«, sagte Somers. »Ja, geben sie das an Harvey.

Jetzt war auch Duncan auf der Math mit seinem Ankermanöver fertig und meldete ›klar‹ . Die nächste Granate der Harvey schlug genau in die Mitte der Batterie, und gleich darauf traf die Math an dieselbe Stelle. Nun nahmen beide Kommandanten die Batterie planmäßig unter Feuer, und ihre Granaten hagelten ohne Unterlaß auf sie hernieder. Man sah zwischen ihren Wällen fast ohne Pause eine Qualm- und Erdfontäne nach der anderen aufspritzen. Die Batterie war ein einfaches, rechteckiges Erdwerk ohne Traversen oder innere Unterteilung, so daß sie jetzt, nachdem der Gegner die Möglichkeit gefunden hatte, über den Umfassungswall hinwegzuschießen, ihrer Besatzung keinen Schutz mehr bot.

Diese setzte ihr Feuer nur noch wenige Sekunden fort, dann aber sah Hornblower, wie die Bedienungen von den Geschützen wegrannten, so daß das Innere der Batterie den Anblick eines aufgestörten Ameisenhaufens bot. Eine der dicken, dreizehnzölligen Granaten landete als Volltreffer auf der Brustwehr. Als der Rauch sich verzogen hatte, zeigte es sich, daß der ganze Wall an dieser Stelle eingeebnet war, so daß die Batterie nun auch von den Beobachtern unten im Dorf eingesehen werden konnte. In der breiten Lücke sah man die Mündung eines aus der Lafette geworfenen Belagerungsgeschützes, die nun hilflos gen Himmel zeigte - für die Verteidiger ein besonders tröstlicher Anblick. Das war aber erst der Anfang. Lücke auf Lücke wurde nun in die Erdwälle gerissen, und das ganze Innere war bald mit Granattrichtern förmlich gepflastert. Einmal gab es eine viel stärkere Explosion als sonst, und Hornblower sagte sich, daß da soeben ein Lager von Bereitschaftsmunition in die Luft gegangen sein mußte - das war das kleine Pulvermagazin, das in jeder Batterie unterhalten wurde und ständig von hinten Nachschub erhielt. Die Verteidiger zu seinen Füßen hatten neuen Mut gefaßt, und alle Geschütze entlang der ganzen bedrohten Frontlinie begannen wieder zu feuern. Anscheinend war es auch ein Schuß aus dem Dorf, der die Mündung des vorher aus der Lafette gehobenen Rohres traf und das schwerbeschädigte Geschütz noch einmal nach hinten schleuderte. »Signal: Feuer einstellen!« befahl Hornblower.

Dreizehn-Zoll-Granaten waren eine Munition, die in der Ostsee nicht so ganz einfach zu beschaffen war, es hatte deshalb keinen Zweck, sie gegen einen Gegner zu verschwenden, der schon zum Schweigen gebracht und wenigstens zeitweise außer Gefecht gesetzt war.

Da setzten auch bereits die Gegenmaßnahmen des Angreifers ein, mit denen er gerechnet hatte. Eine Batterie Feldartillerie kam dort in schärfstem Tempo einen Hang herunter. Es waren sechs Geschütze, die auf diese Entfernung aussahen wie Spielzeug und in abenteuerlichen Sprüngen hinter ihren Protzen hergeholpert kamen. Die Niederung war immer noch recht naß und weich, der Sommer war ja eben erst angebrochen und hatte das Land noch nicht ausgetrocknet. So sank die Artillerie bald bis an Knie und Achsen im Dreck ein und kam nur noch langsam vorwärts. »Signal: Zielwechsel«, befahl Hornblower.

Leider gab es keine Möglichkeit, die Aufschläge an dem neuen Ziel zu beobachten, die Kanonenboote beschossen nämlich jetzt den Raum unmittelbar hinter der Anhöhe. Es war also Zufallssache, ob sie dort eine gute Wirkung erzielten oder nicht, aber Hornblower konnte sich denken, daß der Park und die Nachschublager einer Armee von sechzigtausend Mann, die im Begriff war, alle Mittel der Belagerungstechnik anzuwenden, nicht nur räumlich sehr ausgedehnt waren, sondern auch von Menschen wimmelten. Da konnten schon ein paar Granaten eine ungeahnte Wirkung erzielen. Die erste Feldbatterie näherte sich jetzt dem Strand, die Bedienungen machten kehrt, so daß die Geschütze zuletzt in sauberen Abständen dastanden und mit der Mündung auf die Kanonenboote zeigten. »Harvey meldet ›Zielwechsel‹ «, rief Gerard.

»Gut.«

Die Harvey schoß jetzt auf die Feldbatterie, sie brauchte etwas Zeit, bis sie sich eingeschossen hatte, außerdem bildeten Feldgeschütze, die in langer, weit auseinandergezogener Linie aufgefahren waren, kein günstiges Ziel für Mörser, auch wenn diese jetzt den Vorteil hatten, die Lage ihrer Schüsse direkt beobachten zu können. Da erschien außerdem eine zweite Batterie am Flügel der ersten, und jenseits des schmalen Ausläufers der Bucht fuhren - wie Hornblower durch sein Fernglas leicht feststellen konnte - weitere Geschütze auf, offenbar in der Absicht, die Kanonenboote unter Kreuzfeuer zu nehmen. Eine der Granaten der Harvey krepierte dicht neben einem der Geschütze und tötete allem Anschein nach dessen Bedienung bis auf den letzten Mann, das Geschütz selbst aber blieb, wie es der Zufall wollte, unbeschädigt auf seiner Lafette.

Die anderen Feldgeschütze aber hatten inzwischen ihr Feuer eröffnet. Träge verzog sich der Mündungsqualm nach ihren Salven, und drüben, jenseits der Bucht, ergriffen jetzt auch die anderen Geschütze ein, obwohl die Schußentfernung von dort für Feldgeschütze sehr groß war. Es hatte wirklich keinen Zweck, die Kanonenboote länger diesem Feuer der Landartillerie auszusetzen. Macdonald hatte zweihundert Feldgeschütze, aber es gab nur zwei Kanonenboote. »Signal: Gefecht abbrechen!« befahl Hornblower.

Nun der Befehl gegeben war, schien es Hornblower, als hätte er allzulange damit gewartet. Es dauerte eine Ewigkeit, ehe sie ihre Anker gelichtet hatten. Hornblower verging vor Sorge und Ungeduld, zumal er während des Manövers rings um die Schiffe fortwährend die Einschläge der Feldartillerie beobachten konnte.

Endlich schoben sich die langen Riemen durch die Bordwände der Leichter heraus und taten die ersten Schläge, mit denen sie die Fahrzeuge umwendeten. Die weißen Segel kletterten an den Masten empor, und dann nahmen die seltsamen Schiffe Fahrt auf. Gleich darauf waren sie auch schon außer Schußweite und befanden sich in Sicherheit. Unter Segel hatten sie natürlich eine riesige Abtrift und mußten daher so stark vorhalten, daß sie sich wieder nach Art der Dwarsläufer durchs Wasser bewegten. Als sich Hornblower endlich erleichtert abwandte, begegnete er dem Blick des Gouverneurs. Dieser hatte die ganze Zeit schweigend neben ihm gestanden und das Gefecht durch ein großes Fernrohr beobachtet, das eine geduldige Ordonnanz mit der Schulter unterstützen mußte. Der arme Mann mochte bei dem ständigen Gebücktstehen keine schlechten Rückenschmerzen bekommen haben.

»Ausgezeichnet, Sir«, sagte der Gouverneur. »Ich danke Ihnen im Namen des Zaren, ganz Rußland weiß Ihnen für diese Leistung Dank, vor allem aber die Stadt Riga.«

»Ich danke Ihnen, Exzellenz«, sagte Hornblower.

Diebitsch und Clausewitz warteten schon darauf, ihn ins Gespräch ziehen zu können. Sie wollten unbedingt gleich die nächsten Operationen mit ihm erörtern, und er mußte sie natürlich anhören. Deshalb entließ er jetzt seine Fähnriche mit dem Signalpersonal. Hoffentlich hatte Somers den warnenden Blick richtig gedeutet, den er ihm bei dessen Abmeldung zuwarf. Er mußte unter allen Umständen verhindern, daß sich die Leute an Land lettischen Schnaps verschafften. Dann nahm er das Gespräch erneut auf, das immer wieder durch das Kommen und Gehen von Ordonnanzen und durch hastige, in unverständlichen Sprachen gegebene Befehle unterbrochen wurde. Der Zweck dieser Befehle blieb nicht lange verborgen.

Kurz darauf marschierten zwei Regimenter Infanterie mit aufgepflanztem Bajonett durch die Ortschaft, besetzten die Erdwerke und stürmten von da mit Hurragebrüll über das Vorfeld. Die schweren Belagerungsgeschütze, die sie sonst hoffnungslos zusammenkartätscht hätten, waren verstummt, und Hornblower sah, daß der Ausfall fast ohne Widerstand bis zu den Belagerungswerken vordrang. Die Männer stürmten die Brustwehren, drangen in die Deckungen ein und begannen sofort, die Sandsäcke und Schanzkörbe auseinander zu reißen, aus denen die ganzen Anlagen gebaut waren. Französische Infanterie erschien zu spät auf dem Schauplatz, um die völlige Zerstörung der niedergekämpften Batterie zu verhindern. Im Feuer der russischen Artillerie hätte sie das allerdings auch dann nicht vermocht, wenn sie rechtzeitig eingegriffen hätte. In einer knappen Stunde war das Werk getan, der Laufgraben auf weite Strecken eingeebnet, die Werkzeuge waren weggenommen, die Schanzkörbe auf einen Haufen zusammengetragen und angezündet.

»Ihnen, Monsieur, haben wir zu verdanken«, sagte Clausewitz, » daß der Gegner in seinen Belagerungsarbeiten einen Rückschlag erlitten hat, der ihn vier Tage kostet.«

Vier Tage - und die Franzosen hatten noch den ganzen Rest des Jahres vor sich um die Verteidigungsanlagen weiter zu zerschlagen! Er und die Russen hatten hier die gleiche Pflicht: sie so lange zu halten, als es ging. Es war etwas bedrückend, sich vorzustellen, daß sie hier unter Mühen und Opfern versuchten, ein kleines Außenwerk zu halten, während Bonaparte gleichzeitig mit unwiderstehlicher Gewalt in das Herz Rußlands vorstürmte. Und doch, das Spiel mußte zu Ende gespielt werden. Als Hornblower sich von seinen Gastgebern trennte, fühlte er sich müde und niedergeschlagen. Ein schwarzer Schatten lag über allem Geschehen und verdunkelte selbst das bißchen Freude, das ihm sein Angriffserfolg bereiten mochte - dieser großartige Erfolg von ganzen vier gewonnenen Tagen. Die Pfeifen trillerten, als er auf seiner Nonsuch eintraf, Kapitän Bush, der Erste Offizier und der Wachhabende Offizier empfingen ihn am Fallreep.

»Guten Abend, Kapitän Bush. Wollen Sie die Güte haben, Mr. Duncan und Mr. Mound durch Signal sofort zu mir an Bord zu rufen.«

»Jawohl, Sir.« Bush blieb wortlos vor Hornblower stehen, er wandte sich nicht ab, um den Befehl auszuführen. Endlich stieß er hervor: »Mound ist tot.«

»Was sagen Sie da?«

»Einer der letzten Schüsse von der Küste hat ihn in Stücke gerissen, Sir.« Bush versuchte zwar, seinen eisernen Gesichtsausdruck auch jetzt beizubehalten, aber man sah ihm doch an, daß er tief erschüttert war. Dabei hatte er Mound längst nicht so liebgewonnen wie Hornblower selbst. Über diesem brach nun die ganze Flut der Reue und des Zweifels zusammen, seine schlimmen Ahnungen hatten ihn nicht getrogen! Hätte er nur die Kanonenboote früher aus dem Gefecht gezogen! Hatte er nicht leichtfertig Menschenleben aufs Spiel gesetzt, als er das Gefecht noch fortsetzte, nachdem die Feldartillerie das Feuer zu erwidern begann? Mound war einer der besten jungen Offiziere gewesen, die ihm das Glück als Untergebene geschenkt hatte.

Sein Tod bedeutete nicht nur für ihn selbst, sondern für ganz England einen schweren Verlust. Noch bitterer empfand er aber den rein persönlichen Schmerz um diesen jungen Menschen.

Der Gedanke an die grausame Endgültigkeit des Todes hatte etwas unsagbar Bedrückendes. Hornblower war von Qual und Elend ganz benommen, als Bush wieder das Wort nahm. »Darf ich Duncan und den Ersten Offizier der Harvey an Bord rufen, Sir?«

»Ja, bitte, tun Sie das, Kapitän Bush.«