3. Kapitel

Hornblower saß in seinem Wohnzimmer im ›Goldenen Kreuz‹ . Ein gutes Feuer prasselte im Kamin, und auf dem Tisch, an dem er saß, standen nicht weniger als vier Leuchter mit brennenden Wachskerzen. Dieser ganze Luxus, das Appartement mit dem eigenen Wohnzimmer, das Feuer, die Wachskerzen, schmeckte Hornblower immer noch wie eine verbotene Frucht. Er war so lange arm gewesen, hatte sein ganzes Leben lang so genau rechnen, so ängstlich sparen müssen, daß jede Großzügigkeit im Geldausgeben eine seltsam zwiespältige Empfindung in ihm weckte, die aus Freude und Schuldbewußtsein gemischt war. Morgen stand sicher mindestens eine halbe Krone allein für Licht auf seiner Rechnung. Hätte er sich mit einer gewöhnlichen Talgfunzel begnügt, dann wäre er mit zwei Pennies ausgekommen. Auch das Feuer kostete mindestens einen Schilling. Außerdem konnte man sich darauf verlassen, daß diese Wirte alles nahmen, was sie bekommen konnten, wenn sie einen sichtlich gutgestellten Gast vor sich hatten, einen Ritter des Bath-Ordens, der mit Diener reiste und einen eigenen Zweispänner besaß. Es war vorauszusehen, daß der Betrag der Rechnung morgen näher bei zwei Guineen lag als bei einer. Hornblower fühlte nach seiner Brusttasche, um sich zu vergewissern, ob der dicke Packen Pfundnoten noch da war, der dort steckte. Er konnte es sich ja auch leisten, täglich zwei Guineen auszugeben. Beruhigt beugte er sich wieder über die Notizen, die er während der Unterredung mit dem Staatssekretär des Auswärtigen gemacht hatte. Sie waren ohne Ordnung oder System, Wellesley hatte einen Punkt nach dem anderen erwähnt, wie ihm die Dinge einfielen, und er hatte die Punkte alle der Reihe nach aufgeschrieben. Offenbar wußte im Augenblick nicht einmal das Kabinett, ob die Russen gegen Bonaparte zu Felde ziehen würden oder nicht. Nein, so war es falsch ausgedrückt. Man mußte den Satz umdrehen:

Niemand wußte, ob Bonaparte gegen Rußland zu Felde ziehen würde oder nicht. Bei aller feindseligen Stimmung gegen die Franzosen, so bitter diese Gefühle auch allem Anschein nach waren, dachte der Zar nicht daran zu kämpfen, wenn er nicht mußte, das hieß, wenn Bonaparte ihn nicht angriff. Es war sogar anzunehmen, daß er sich auf alle möglichen Zugeständnisse einließ, wenn er den Kampf vermeiden konnte. Das galt wenigstens für den Augenblick, solange er noch im Begriff stand, seine Armee aufzubauen und von Grund auf neu zu organisieren.

»Eigentlich kann man sich schwer vorstellen, daß Boney so verrückt sein sollte, einen Zusammenstoß zu provozieren«, hatte Wellesley gesagt, »da er doch so ziemlich alles, was er will, kampflos bekommen kann.« Wenn es aber doch zum Krieg kam, dann war es natürlich wichtig, daß England in der Ostsee mit ausreichenden Seestreitkräften vertreten war. »Gesetzt den Fall, es gelingt Boney, Alexander aus Rußland zu verjagen, dann sollten wir ihn aufnehmen«, sagte Wellesley. »Wir haben dann immer eine nützliche Verwendung für ihn.«

Diese Fürsten im Exil wirkten wie Galionsfiguren, sie waren zum mindesten nützliche Wahrzeichen oder Richtpunkte für alle Widerstandsaktionen, die auch in den von Bonaparte überrannten Ländern nicht zum Schweigen kamen. Im Lauf der Zeit hatte England schon die Herrscher Siziliens, Sardiniens, der Niederlande, Portugals und Hessens unter seine schützenden Fittiche genommen, sie alle bewirkten, daß in der Brust ihrer früheren Untertanen, die nun unter den Fußtritten des Tyrannen stöhnten, der Funke der Hoffnung nicht erlosch.

»Sehr viel hängt von Schweden ab«, lautete eine andere Bemerkung Wellesleys. »Niemand kann erraten, was Bernadotte im Sinn hat. Die Eroberung Finnlands durch die Russen hat überdies in Schweden viel böses Blut gemacht. Wir versuchen jetzt, ihnen klarzumachen, daß Bonaparte dennoch die schlimmere Bedrohung für sie darstellt, weil er am Eingang zur Ostsee sitzt, während die Russen nur den nördlichen Zipfel beherrschen. Aber es ist bestimmt nicht angenehm für Schweden, sich in diesem Augenblick vor die Wahl zwischen Rußland und Bonaparte gestellt zu sehen.« Das war auch wirklich eine richtige Zwickmühle, wie immer man die Lage ansah. - Schweden wurde von einem Kronprinzen regiert, der noch vor drei Jahren französischer General gewesen und überdies durch Heirat irgendwie mit Bonaparte verwandt war, Dänemark und Norwegen waren dem Tyrannen schon zum Opfer gefallen, Finnland eben von den Russen erobert und die ganze Südküste der Ostsee von den Truppen Bonapartes überschwemmt »Er hat große Truppenlager in Danzig und Stettin«, hatte Wellesley erklärt. »Außerdem stehen süddeutsche Verbände landeinwärts gestaffelt bis in die Gegend von Berlin, von den Preußen, Österreichern und seinen sonstigen Verbündeten gar nicht zu reden.«

Europa lag ja nun Bonaparte zu Füßen, so stand es ihm frei, die Heere seiner früheren Gegner für die eigenen Absichten dienstbar zu machen. Wollte er gegen Rußland Krieg führen, dann würde sich seine Armee allem Anschein nach zu einem wesentlichen Teil aus ausländischen Kontingenten zusammensetzen: Italienern, Süddeutschen, Preußen und Österreichern, Holländern und Dänen.

»Wie man mir berichtet, sollen sogar Spanier und Portugiesen darunter sein«, hatte Wellesley gesagt. »Ich will nur hoffen, daß ihnen der jüngst vergangene Winter in ihren polnischen Quartieren recht gut bekommen ist. Wie ich höre, sprechen Sie Spanisch?« Hornblower sagte: »Ja.«

»Auch Französisch?«

»Ja.«

»Russisch?«

»Nein.«

»Deutsch?«

»Nein.«

»Schwedisch? Polnisch? Litauisch?«

»Nein.«

»Das ist schade. Aber die meisten gebildeten Russen sprechen besser Französisch als Russisch, so sagt man mir wenigstens.

Wenn es zutrifft, dann müssen sie allerdings - nach den Russen zu urteilen, die ich selbst kennengelernt habe - ihre Muttersprache sehr schlecht beherrschen. Zudem haben wir einen schwedischen Dolmetscher für Sie - ja richtig, Sie müssen mit der Admiralität noch vereinbaren, unter welchem Dienstgrad er in der Besatzungsrolle geführt werden soll - so heißt es doch seemännisch richtig, nicht wahr?« Diese kleine Stichelei sah Wellesley ähnlich. Der frühere Generalgouverneur von Indien, jetzt Staatssekretär für Auswärtige Angelegenheiten, war ein Edelmann von blauestem Blut und dazu ein Weltmann von feinstem Schliff. Mit den paar hingeworfenen Worten hatte er seine erhabene Unwissenheit in allen seemännischen Angelegenheiten und damit natürlich auch seine hochmütige Nichtachtung für diese Dinge zu verstehen gegeben.

Gleichzeitig hatte er damit diese ungehobelte Teerjacke da seine weltmännische Überlegenheit fühlen lassen, wobei es ihm wenig verschlug, daß besagte Teerjacke zufällig sein eigener Schwager war. Hornblower wurmte dieses Gehaben, und da er sich immer noch in einem Zustand überhöhten Selbstbewußtseins befand, unternahm er es, Wellesley einen Gegenhieb zu versetzen. »Sie stellen doch in jedem Beruf ihren Mann, Richard«, meinte er ganz ruhig. Es tat dem vornehmen Herrn sicher gut, sich daran zu erinnern, daß die Teerjacke immerhin aus verwandtschaftlichen Gründen das Recht hatte, ihn beim Vornamen zu nennen. Außerdem mochte er an dem Wort ›Beruf‹ zu kauen haben - als ob so etwas für ihn überhaupt in Frage käme! »Leider nicht in dem Ihrigen, lieber Hornblower.

Ich habe mich nie in all diesen Ausdrücken zurechtgefunden und kann Backbord und Steuerbord oder Luv und Lee noch immer nicht unterscheiden. So etwas muß man eben als Schuljunge lernen, genau wie hie, haec, hoc.«

Es war anscheinend nicht so einfach, die erhabene Selbstzufriedenheit zu durchstoßen, die den edlen Marquis wie ein Panzer umgab. Hornblower ließ diese Episode auf sich beruhen und wandte sich wieder ernsteren Dingen zu. Die Russen hatten in Reval und Kronstadt eine ganz anständige Flotte liegen, sie mochte etwa vierzehn Linienschiffe zählen, und Schweden hatte beinahe ebensoviel. In den deutschen und pommerschen Häfen wimmelte es von französischen Kaperschiffen, und es war eine der wichtigsten Aufgaben, die Hornblower zu übernehmen hatte, die englische Schiffahrt vor diesen Wölfen der See schützen zu helfen. Der Handel mit Schweden war ja für England lebenswichtig, denn von hier aus der Ostsee kamen die unentbehrlichen Nachschubgüter für die Seefahrt, auf die man für die Aufgaben der Seeherrschaft nicht verzichten konnte: Teer und Terpentin, Fichtenstämme für die Masten, Tauwerk und Schiffsbauholz, Harz und Leinöl. Wenn sich Schweden mit Bonaparte gegen Rußland verbündete, dann ging der schwedische Anteil an diesem Handel, das war mehr als die Hälfte, verloren, und England mußte sich mit dem Rest begnügen, den es in Finnland und Rußland zusammenkratzen konnte, immer vorausgesetzt, daß es gelang, die Ladungen der schwedischen Flotte zum Trotz sicher durch die Ostsee zu geleiten und irgendwie durch den Sund zu schaffen, obgleich Bonaparte Herr der dänischen Inseln war. Dabei brauchte Rußland selbst diese Güter dringend für die eigene Flotte und mußte auf die eine oder andere Weise dazu bestimmt werden, dennoch so viel abzulassen, wie England nötig hatte, um seine Flotte seetüchtig und einsatzbereit zu halten.

Es erwies sich jetzt als günstig, daß England den Finnen nicht zu Hilfe geeilt war, als sie von Rußland angefallen wurden.

Hätte man sich damals anders entschlossen, dann bestünde jetzt viel weniger Aussicht, daß Rußland Bonaparte den Krieg erklärte. Geschickte Diplomatie, die sich auf Machtmittel stützen konnte, brachte es vielleicht fertig, Schweden vor einem Bündnis mit Bonaparte zu bewahren, die Sicherheit des Ostseehandels wiederherzustellen und womöglich sogar freien Zugang zu den norddeutschen Küsten zu verschaffen, der es ermöglichte, Vorstöße gegen die Verbindungslinien Napoleons zu unternehmen. Kam zu diesem Druck noch das Wunder, daß Bonaparte einen Rückschlag erlitt, dann mochte sich sogar Preußen bereit finden, zu seinem bisherigen Gegner überzutreten. Hornblowers weitere Aufgabe bestand also darin, daß er dazu beitrug, einerseits das altüberlieferte Mißtrauen der Schweden gegen Rußland zu zerstreuen, und andererseits Preußen zum Bruch seines erzwungenen Bündnisses mit Frankreich zu ermutigen. Dabei durfte es jedoch unter keinen Umständen zu einer Gefährdung des Ostseehandels kommen.

Ein einziger falscher Schritt konnte unabsehbares Unheil heraufbeschwören.

Hornblower legte seine Notizen auf den Tisch und starrte mit blicklosen Augen gegen die Wand des Zimmers. Da war die Ostsee mit ihrem Nebel, ihrem Eis und ihren Untiefen, dazu die russische Flotte, die schwedische Flotte, die französischen Kaperschiffe, der Ostseehandel, das russische Bündnis und die Haltung Preußens. Es ging um hohe Politik, um lebenswichtige Handelsstraßen. In den nächsten paar Monaten standen das Schicksal Europas, die ganze Weltgeschichte auf des Messers Schneide, und er, er hatte in diesem Drama die Verantwortung.

Hornblower fühlte, wie sein Puls rascher wurde und seine Muskeln sich spannten, die alten, wohlbekannten Erscheinungen, wenn Gefahr im Verzuge war. Fast ein Jahr war vergangen, seit er sie zum letzten Male verspürt hatte, das war damals gewesen, als er die große Admiralskajüte der Victory betrat, um das Urteil des Kriegsgerichts entgegenzunehmen, das auf Tod lauten konnte. Diese Aussicht auf Gefahren und der Gedanke an das ungeheuerliche Gewicht seiner Verantwortung bereiteten ihm ausgesprochenes Unbehagen. Derartiges hatte er sich nicht träumen lassen, als er heute mittag fröhlich und guter Dinge hier ankam, um seine Befehle entgegenzunehmen. Dafür brachte er nun Barbara und ihre Liebe zum Opfer, dafür verzichtete er auf das Leben eines Grundherrn, auf die Ruhe und den Frieden seines neugegründeten Heims.

Aber noch während er in ratloses, fast verzweifeltes Brüten versunken an seinem Tisch saß, meldeten sich erst leise, dann immer lauter die Probleme und Aufgaben, die ihn erwarteten mit ihrem verlockenden Zauber. Die Admiralität gab ihm freie Hand, in dieser Hinsicht konnte er sich also nicht beklagen.

Reval fror im Dezember zu, Kronstadt oft schon im November.

Solange diese Häfen zu waren, mußte er sich einen Stützpunkt weiter südlich wählen. Wie war es mit Lübeck? Gab es dort überhaupt Eis? Jedenfalls war es am besten, wenn... Plötzlich sprang Hornblower auf und schob den Stuhl zurück.

Wahrscheinlich wußte er gar nicht, was er tat, aber er brachte es einfach nicht zuwege, im Sitzen schöpferisch zu denken, oder höchstens so lange, wie er den Atem anhalten konnte. Dieser Vergleich war deshalb besonders treffend, weil bei ihm die Symptome einer langsamen Erstickung auftraten, wenn er einmal gezwungen war, im Sitzen scharfe Gedankenarbeit zu leisten. Da stieg nämlich jedesmal sein Blutdruck, und gleichzeitig befiel ihn eine wilde körperliche Unrast.

Heute abend zwang ihn, Gott sei Dank, niemand, sitzenzubleiben. Er hatte den Stuhl zurückgeschoben und konnte nun ungehindert auf und ab gehen, immer vom Tisch zum Fenster und dann wieder zurück zum Tisch, die Strecke war mindestens ebenso lang, wie die auf dem Achterdeck manches seiner Schiffe, und dabei gab es hier obendrein weniger Hindernisse. Kaum hatte er seine Wanderung begonnen, da öffnete sich leise die Zimmertür, und Brown, den das Geräusch des Stuhlrückens herbeigerufen hatte, steckte durch den Spalt vorsichtig seinen Kopf herein. Der Kapitän hatte also begonnen, auf und ab zu wandern, das hieß, daß er bestimmt noch sehr lange nicht schlafen ging.

Brown war ein kluger Mensch, der sich auch bei der Bedienung seines Herrn immer von seinem gesunden Menschenverstand leiten ließ. Deshalb machte er jetzt die Tür leise wieder zu und wartete volle zehn Minuten, ehe er das Zimmer betrat. Bis dahin war nämlich Hornblower mit seiner Wanderung gut in Zug gekommen, und dann hatte sich auch der Strom seiner Gedanken ein Bett gegraben, aus dem er nicht mehr so leicht abzulenken war. So war Brown imstande, einzutreten, ohne seinen Herrn zu stören, es war sogar nur sehr schwer festzustellen, ob Hornblower seine Anwesenheit überhaupt zur Kenntnis nahm oder nicht. Nun stimmte er seine Bewegungen genau auf das regelmäßige Hin und Her des Kapitäns ab, so konnte er rasch und unauffällig an den Tisch treten und die Wachslichter putzen, die schon begonnen hatten, zu tropfen und schrecklich zu stinken, und schnell noch frische Kohle aufs Feuer schütten, das schon zu einem Haufen glühender Asche zusammengesunken war. Dann schlüpfte er wieder aus dem Zimmer und machte sich auf eine lange Wartezeit gefaßt. Sein Kapitän war sonst ein sehr rücksichtsvoller Herr und dachte gar nicht daran, seinen Diener bis spät nachts aufbleiben zu lassen, nur damit er ihn beim Zubettgehen zur Verfügung hatte. Das wußte Brown genau, und deshalb fand er auch nichts dabei, wenn er heute ausnahmsweise einmal vergessen hatte, ihn zu entlassen. Hornblower aber wanderte ohne Unterlaß mit regelmäßigen, gemessenen Schritten in seinem Zimmer auf und ab, der eine Wendepunkt lag zwei Zoll von der Wandvertäfelung unter dem Fenster, der andere war so berechnet, daß er beim Wenden mit der Hüfte leicht die Tischkante streifte. Russen und Schweden, Geleitzüge und Kaperschiffe, Stockholm und Danzig, all das gab ihm eine Fülle von Stoff zum Nachdenken. In der Ostsee war es kalt, das hieß, daß er für wirksamen Schutz zu sorgen hatte, damit seine Besatzungen gesund blieben. Vor allem aber mußte eines geschehen, und zwar, sobald der Verband zusammentrat. Er mußte sich vergewissern, daß auf jedem Fahrzeug wenigstens ein Offizier war, der Signale rasch und richtig geben und ablesen konnte. Klappte der Signaldienst nicht, dann war die beste Disziplin umsonst und die klügste Organisation ein Schlag ins Wasser. Dann konnte er sich das Plänemachen von vornherein ersparen. Und dann diese Kanonenboote! Sie hatten den Nachteil...

Hier sah sich Hornblower durch ein Klopfen an der Tür plötzlich roh unterbrochen.

»Herein!« rief er kurz und ungnädig.

Langsam öffnete sich die Tür, auf der Schwelle stand Brown und neben ihm mit verängstigter Miene der Wirt in seiner grünen Schürze. »Was ist denn los?« herrschte Hornblower die beiden an. Jetzt, da seine Achterdeckswanderung unterbrochen war, merkte er auf einmal, daß er sehr müde war. Er hatte ja auch allerlei erlebt, seit ihn seine Pächter heute morgen als neuen Gutsherrn von Smallbridge begrüßt hatten, und die Müdigkeit in den Beinen verriet ihm, daß er hier zwischen Tisch und Fenster eine ordentliche Wegstrecke zurückgelegt hatte.

Brown tauschte noch ein paar Blicke mit dem Wirt, bis sich dieser endlich ein Herz faßte:

»Die Sache ist die«, begann er aufgeregt, »auf Nummer vier, genau unter diesem Zimmer, wohnt Seine Lordschaft, Sir. Seine Lordschaft sind etwas reizbar, Sir, halten zu Gnaden, Sir. Und Mylord sagte, nichts für ungut, Sir, also er sagte, um zwei Uhr morgens könnte er von jedem verlangen, daß er aufhörte, über seinem Kopf spazierenzugehen. Mylord meinte...«

»Zwei Uhr morgens?« warf Hornblower fragend ein. »Es geht schon auf drei, Sir«, erlaubte sich Brown taktvoll zu bemerken.

»Jawohl, Sir, als er zum zweitenmal läutete, schlug es gerade halb. Er sagte, wenn Sie wenigstens mit den Sachen herumwürfen oder ein Lied sängen, dann wäre es nicht halb so schlimm. Aber immer nur dieses Auf und Ab, Auf und Ab, Sir - Seine Lordschaft meinten, man müsse dabei immer an den Tod und an das Jüngste Gericht denken. Es sei ebenso arg regelmäßig und eintönig. Als seine Lordschaft das erstemal läuteten, habe ich gesagt, wer Sie sind, Sir. Aber jetzt...«

Hornblower, der sich von der Flut seiner Gedanken hatte fortspülen lassen, war indessen allmählich wieder auf dem festen Boden der Wirklichkeit gelandet. Er sah die aufgeregten Gesten des armen Wirts, der zwischen dem Zornteufel des unbekannten Lords im unteren Stockwerk und den Hochseeträumen des Kapitäns z. S. Horatio Hornblower im oberen in einer bösen Klemme saß, und mußte darüber lächeln...

Es kostete ihn sogar Mühe, nicht laut herauszuplatzen. Man konnte sich ja dieses ganze lustige Zwischenspiel so hübsch ausmalen: Den cholerischen Aristokraten dort unten, dazu den Wirt, der eine heillose Angst davor hatte, es mit einem der beiden wohlhabenden und einflußreichen Gäste zu verderben, und, um allen Verwicklungen die Krone aufzusetzen, Brown, der sich, solange es irgendwie tragbar schien, standhaft und hartnäckig gegen jeden Versuch zur Wehr setzte, die Gedankenarbeit seines Herrn zu stören. Hornblower bemerkte, wie die beiden Männer auf sein Lächeln hin sichtlich erleichtert aufatmeten, und darüber mußte er nun wirklich hellauf lachen.

Gewiß, er war in letzter Zeit recht reizbar gewesen, und sicherlich hatte Brown deshalb auch jetzt einen Ausbruch erwartet, von dem armen Wirt ganz zu schweigen, der sich ohnehin bei einem Gast keine andere Reaktion vorstellen konnte. - Diese Wirte erwarteten gar nichts anderes, als daß die Gäste, die ihnen das Schicksal zuführte, wegen jeder Kleinigkeit einen Koller bekamen. Hornblower mußte daran denken, daß er Brown erst heute morgen ohne jeden Anlaß aufgefordert hatte, ihm den Buckel herunterzurutschen. Aber Brown war eben doch nicht ganz so gewitzt, wie es den Anschein hatte, denn heute früh, als das geschehen war, da hatte er, Hornblower, sich noch als ein zum Landleben und zum Ziviltragen verurteilter Seeoffizier herumärgern müssen, heute Abend dagegen war er Kommodore mit einem Verband, der darauf wartete, daß er seinen Stander setzte. Konnte es da noch etwas geben, was ihm die Laune verdarb? Diesen Wandel der Dinge hatte Brown nicht in Rechnung gesetzt. »Versichern Sie Seine Lordschaft meiner Hochachtung«, sagte er, »und bestellen Sie ihm, daß der Unglücksmarsch augenblicklich aufgehört hat. Brown, ich möchte zu Bett gehen.«

Der Wirt eilte froh und erleichtert die Treppe hinunter, Brown aber nahm einen der Leuchter - die Kerze war bis auf einen kurzen Stummel niedergebrannt - und leuchtete seinem Herrn ins Schlafzimmer voran. Hornblower schälte sich aus seinem Rock mit den schweren, goldgestickten Epauletten, den Brown eben noch rechtzeitig auffing, ehe er zu Boden fiel. Schuhe, Hemd und Hose folgten, und dann fuhr Hornblower in das prachtvolle Nachthemd, das auf dem Bett ausgelegt war. Dieses Nachthemd war aus schwerer, chinesischer Seide mit Brokatborten und Falbeln am Hals und an den Ärmeln. Barbara hatte mit Hilfe ihrer Freunde in der Ostindischen Kompanie eigens eine Bestellung in den Fernen Osten geschickt, um es zu bekommen. Der in ein Tuch gewickelte heiße Ziegelstein, der im Bett lag, hatte sich zwar schon erheblich abgekühlt, dafür hatte sich seine Wärme aber höchst angenehm auf das ganze Bett verteilt und bot Hornblower ein freundliches Willkommen, als er sich wohlig hineinkuschelte.

»Gute Nacht, Sir«, sagte Brown und löschte das Licht. Da stürzte die Finsternis aus den Ecken des Zimmers hervor, und zugleich mit ihr eilte eine Fülle wilder Traumgesichter herbei.

Ob im Schlaf oder im Wachen - Hornblower hatte am nächsten Morgen keine Ahnung -, jedenfalls verfolgten ihn auch für den Rest der Nacht die tausend Schwierigkeiten dieser bevorstehenden Ostseeunternehmung, bei der für ihn wieder einmal Leben, Ruf und Selbstachtung auf dem Spiele standen.