15. Kapitel
Zur Erkundung der Einfahrt in das Frische Haff herrschten heute nacht die günstigsten Witterungsverhältnisse, die man sich vorstellen konnte. Der Himmel war bedeckt, so daß die Sommernacht nicht zu hell war, obgleich die Sonne hier zu dieser Jahreszeit ja kaum unter den Horizont ging. Dazu wehte eine steife Brise - die Korvette, von der Hornblower eben von Bord gegangen war, hatte schon längst ein Reff in ihre Marssegel gesteckt. Steifer Wind und der dazugehörige steile Seegang brachten den Vorteil, daß man viel weniger Gefahr lief, Wachbooten zu begegnen, Wachbooten, die von Landsoldaten besetzt waren und an der Balkensperre, die Hornblower auskundschaften wollte, scharf Ausguck haltend auf und ab ruderten.
Aber der steile Seegang machte auch Hornblower erheblich zu schaffen. Der Kutter, in dessen Achterplicht er saß, stampfte wie wild und schien bald auf dem Kopf, bald auf dem Heck zu stehen. Der Gischt der Spritzer jagte ohne Unterbrechung über das Fahrzeug hin, so daß zwei Mann ständig ausösen mußten.
Unbarmherzig bahnte sich das Spritzwasser seinen Weg durch alle Öffnungen seines Bootsmantels, so daß er bald ganz durchnäßt war und jämmerlich fror. Die Kälte, aber auch das heftige Arbeiten des Bootes lenkten seine Gedanken unwillkürlich auf die Seekrankheit, und bald war ihm ebenso übel wie unbehaglich zumute. In der Dunkelheit konnte er weder Vickery unterscheiden, der neben ihm an der Pinne saß, noch Brown, der die Schot bediente. Der Gedanke, daß sie sein Elend und seine Blässe wenigstens nicht sehen konnten, gab ihm einen armseligen Trost. Zum Unterschied von anderen Opfern der Seekrankheit, denen er begegnet war, konnte er nicht seekrank sein, ohne sich fortwährend über seinen Zustand Rechenschaft zu geben, auch jetzt kam ihm das mit einem bitteren Gefühl zu Bewußtsein. Aber dann hielt er sich als Ergebnis seiner unausgesetzt bohrenden Selbstanalyse sogleich entgegen, daß er sich darüber nicht wundern dürfe, da er ja keinen Augenblick leben könne, ohne sein eigenes Verhalten kritisch zu beobachten. Er wechselte seinen Platz in der Achterplicht und hüllte sich dichter in seinen Mantel. Die deutschen und französischen Truppen, die Pillau verteidigten, ahnten noch nichts von der Nähe eines englischen Geschwaders.
Vor noch nicht einer Stunde war er in der Dunkelheit mit den beiden Korvetten aufgekommen, die Nonsuch und die Kanonenboote hatte er draußen hinter der Kimm zurückgelassen. Wenn der Festungskommandant in Königsberg ein Herz für seine Leute hatte, dann mochte er wohl zögern, ehe er in dieser stürmischen Nacht ein Wachboot mühsam an der Sperre auf und ab rudern ließ, und selbst wenn er sich zu einem solchen Befehl entschlossen hätte, bestand immer noch alle Aussicht, daß sich der als Bootssteuerer abgeteilte Unteroffizier um seine Ausführung drückte. Das Verhältnis zwischen den Franzosen, die die höheren Stellen bekleideten, und den Deutschen, die ihnen unterstellt waren, war ja gewiß alles andere als herzlich.
Vom Ausguck am Bug kam ein leiser Warnruf, Vickery gab darauf etwas Luvruder und brachte den Kutter höher an den Wind. Das Boot stieg auf den nächsten Wellenkamm, und als es eben wieder einsetzte, tauchte dicht neben der Bordwand etwas Dunkles auf, das im stäubenden Gischt nur undeutlich auszumachen war.
»Eine Ankertrosse, Sir«, meldete Vickery. »Da ist auch schon die Sperre - recht voraus!«
In dem wogenden Gewässer voraus tauchte ein schwacher Schatten auf. »Bringen Sie mich längsseit«, sagte Hornblower.
Vickery drehte in den Wind und ließ das Luggersegel bergen, der Kutter schor an der Balkensperre entlang. Da der Wind nicht genau in der Längsrichtung der Sperre stand, hatte der Kutter, da wo er jetzt lag, etwas Lee. Auf der gegenüberliegenden Seite brachen sich die steilen Seen laut klatschend an den Balken, diesseits dagegen gab es einen schmalen, ruhigen Streifen. Aber auch hier war alles mit treibendem Gischt bedeckt, der in der Dunkelheit dieser wolkenverhangenen Nacht weiß leuchtete.
Der Bugmann hatte seinen Haken in eine Ankertrosse der Sperre geschlagen, und zwar gerade dort, wo sie an dem Balken fest war. Ungeachtet der Spritzer, die ihn stechend trafen, ließ Hornblower seinen Mantel fallen, suchte einen sicheren Stand und sprang dann entschlossen ab. Als er auf der Sperre landete, brach gerade eine See darüber hin und durchnäßte ihn bis auf die Haut. Er mußte sich verzweifelt mit Händen und Füßen festklammem, um nicht hinuntergewaschen zu werden. Im nächsten Augenblick saß er rittlings auf einem riesigen, schwimmenden Baumstamm, von dem nur ein kleiner Teil über Wasser ragte. Natürlich hatten die Franzosen die dicksten und schwersten Bäume ausgesucht, um die Hafeneinfahrt zu schützen, was hier eine leichte Aufgabe war, weil ihnen ja das reichste Holzland von ganz Europa zur Verfügung stand und außerdem der bequeme Wasserweg den Transport ganz wesentlich vereinfachte. Auf allen vieren kroch er nun auf dem Stamm entlang und klammerte sich dabei auf seinem rollenden, stampfenden Rosse fest, wie ein Nachtmahr auf seinem Opfer.
Ein junger Toppsgast, auch ein Mann wie Vickery zum Beispiel, hätte es vielleicht fertiggebracht, sich aufrecht auf diesem Balken zu bewegen, jedenfalls besser als Hornblower selbst, der aber wollte sich, was diese Sperre betraf, nur auf seine persönlichen Feststellungen verlassen. Meldungen aus zweiter Hand genügten ihm nicht. Endlich gelangte er an die Ankertrosse, das war die stärkste Trosse, die er in seinem Leben gesehen hatte. Sie hatte mindestens dreißig Zoll Umfang - die dickste Trosse auf Nonsuch hatte nur neunzehn Zoll. Mit tastenden Händen untersuchte er das Ende des Stammes, während ihn das eisige Wasser bis auf die Haut durchnäßte, und fand dort auch gleich, was er erwartet hatte, nämlich eine der Ketten, die den Balken, auf dem er saß, mit dem nächsten verband. Das war eine zweizeilige Ankerkette mit einer Bruchfestigkeit von schätzungsweise hundert Tonnen, die mit schweren Krampen am Stamm befestigt war. Als er weiter suchte, entdeckte er sogleich eine zweite, und es war anzunehmen, daß es unter Wasser noch einige weitere gab, im ganzen vielleicht vier oder fünf. Selbst ein Linienschiff, das mit voller Fahrt vor dem Wind gegen diese Sperre brauste, war kaum in der Lage, sie zu durchbrechen, dagegen zog es sich bei einem solchen Unterfangen bestimmt die schwersten Unterwasserschäden zu. Durch Spritzer und Dunkelheit konnte er gerade noch das Ende des anschließenden Balkens und dessen Ankertrosse erkennen, die Lücke war knappe zehn Fuß breit.
Der Wind, der beinahe an der Sperre entlang wehte, hatte sie natürlich so weit nach Lee auseinandergezogen, als die Verbindungsketten gestatteten. Die Balken und die Ankertrossen bildeten zusammen ein fischgrätenförmiges Gerippe, und die Ankertrossen standen zum Brechen steif.
Hornblower kroch auf seinem Stamm wieder zurück, richtete sich auf und sprang nach dem Boot. In der Dunkelheit und bei den ungleichen Bewegungen, die Balken und Boot in dem kurzen Seegang vollführten, war es schwer, den richtigen Augenblick zum Absprang zu wählen. Er landete deshalb recht ungeschickt auf dem Dollbord und hing mit einem Bein im Wasser. Vickery holte ihn binnenbords, ohne noch viel auf Würde und Zeremoniell zu achten. »Lassen Sie das Boot nach Lee sacken«, befahl Hornblower, »und dann möchte ich, daß an jedem Balken gelotet wird.«
Vickery führte das Boot sehr geschickt. Nach dem Absetzen hielt er den Bug mit ein paar gleichmäßig pullenden Riemen im Wind und manövrierte sich an einer Ankertrosse nach der anderen vorbei, während das Boot langsam nach Lee trieb.
Brown stand mittschiffs, er wahrte trotz der verrückten Bewegungen des Bootes sein Gleichgewicht und lotete dabei mit dem unhandlichen, dreißig Fuß langen Peilstock. Man mußte schon ein kräftiger Mann sein, um mit diesem Ding bei solchem Wind zu hantieren, aber bei einigem Geschick ging das Loten damit viel schneller und geräuschloser vonstatten als mit dem gewöhnlichen Handlot. Vier Faden - dreieinhalb - vier - die Sperre lag genau quer zum Fahrwasser, wie zu erwarten war.
Das Luvende befand sich nur etwa zweihundert Meter - rund eine Kabellänge - vom Pillauer Ufer. Hornblower starrte angestrengt in die Dunkelheit, er hätte darauf schwören mögen, daß es hier an diesem Ende noch einen zweiten Sperrteil gab, der den ersten überlappte, so daß jedes einlaufende Schiff wenden mußte, um die geknickte Sperrlücke zu passieren. Die schweren Geschütze von Pillau konnten jedes Fahrzeug, das hier mit feindlichen Absichten eindringen wollte, bei diesem Manöver mühelos versenken oder zum mindesten in Brand schießen. Sie erreichten das Lee-Ende der Sperre. Von hier bis zur Landzunge, der Nehrung - um dieses merkwürdige deutsche Wort dafür zu gebrauchen -, die das Haff auf eine Strecke von zwanzig Meilen von der Ostsee schied, war das Wasser frei von Hindernissen. Diese offene Strecke mochte etwa eine Viertelmeile breit sein, aber sie war für die Schiffahrt unbenutzbar. Brown fand mit seinem Peilstock ein paarmal zehn Fuß Wasser, dann ging die Tiefe weiter auf acht, auf sechs Fuß zurück.
Vickery legte Hornblower plötzlich die Hand auf den Arm und zeigte nach dem Land. Dort war an einer Stelle ein besonders dunkler Schatten zu erkennen, das Wachboot, das durch die Untiefen herauskam, um den Dienst an der Sperre zu übernehmen.
»Klar bei Riemen!« befahl Hornblower. »Nehmen Sie Kurs nach See.« Die Schäfte der Riemen waren mit Tausendbeinen bekleidet, damit sie in den Dollen möglichst wenig Geräusch verursachten. Die Männer legten sich ins Zeug, und der Kutter kroch langsam nach See hinaus, während das Wachboot seinen Kurs beibehielt. Als der Abstand zwischen den beiden Booten groß genug war, daß man ein Segel nicht mehr erkennen konnte, ließ Hornblower Segel setzen, und dann ging es am Wind zurück zur Lotus. Hornblower wurde in seinem nassen Zeug willenlos von Frost geschüttelt. Es nutzte ihm nichts, daß er sich seiner Weichlichkeit bitter schämte. Wie, wenn Vickery merkte, daß sein Kommodore wegen einer nassen Jacke mit den Zähnen klapperte? Einem abgehärteten Seemann durfte das nichts ausmachen. Natürlich fanden sie die Lotus in dieser Finsternis nicht auf Anhieb. Das war nicht anders zu erwarten, aber er ärgerte sich doch darüber. Der Kutter mußte wenden und noch einen Schlag nach Luv machen, ehe sie endlich den Schatten des Schiffes in der Dunkelheit auftauchen sahen. Als der Anruf von drüben zu hören war, formte Brown aus seinen Händen ein Sprachrohr und erwiderte: »Kommodore!«
Vickery brachte den Kutter in Lee der Lotus. Als er längsseit schor, stieg Hornblower gleich die niedrige Bordwand empor.
Auf dem Achterdeck bat ihn Vickery um weitere Befehle.
»Setzen Sie sich von Land ab, Mr. Vickery«, sagte Hornblower, »und stellen Sie sicher, daß die Raven uns folgt.
Bei Anbruch der Dämmerung müssen wir außer Sicht von Land sein.«
In Vickerys winziger Kajüte begann Hornblower, unterstützt von dem umsichtigen Brown, sein nasses Zeug auszuziehen.
Dabei versuchte er, sein müdes Gehirn auf das Problem anzusetzen, dessen Lösung er finden mußte. Brown brachte ein Handtuch zum Vorschein, damit frottierte Hornblower etwas Leben und Wärme in seine durchgefrorenen Glieder. Da klopfte Vickery und trat sogleich ein. Er hatte sein Schiff auf den richtigen Kurs gebracht und kam nun nachsehen, ob sein Kommodore auch alles hatte, was er brauchte. Hornblower hatte sich eben die Beine frottiert und richtete sich auf. Dabei krachte sein Kopf heftig gegen einen Decksbalken. Auf dieser kleinen Korvette gab es nur knappe fünf Fuß Stehhöhe. Hornblower erleichterte sich durch einen kräftigen Fluch.
»Unter dem Skylight ist ein Fuß mehr Platz, Sir«, bemerkte Vickery diplomatisch.
Das Skylight maß zwei zu drei Fuß; wenn Hornblower genau darunter stand, konnte er sich gerade noch aufrichten, aber auch hier streifte sein Haar schon die Scheiben des Oberlichtes.
Außerdem aber schwang neben dieser Öffnung an einem Haken im Decksbalken die Lampe. Hornblower machte nur eine etwas unvorsichtige Bewegung, berührte sie mit seiner nackten Schulter, und schon ergoß sich das warme, stinkende Öl aus ihrem Behälter über sein Schlüsselbein. Da stieß er einen zweiten Fluch aus.
»Sie bekommen sofort heißen Kaffee, Sir«, sagte Vickery.
Aber diese Sorte Kaffee hatte Hornblower schon seit Jahren nicht mehr gekostet. Er bestand aus einem Aufguß von gebrannter Brotrinde, dem nur ein leiser Hauch von Kaffeegeschmack anhaftete - aber er wärmte wenigstens.
Hornblower trank ihn und gab Brown die leere Tasse zurück, dann nahm er sein trockenes Hemd vom Bodenstück des Zwölfpfünders neben ihm und kämpfte damit, bis er glücklich drinnen war. »Haben Sie noch Befehle, Sir?« fragte Vickery.
Hornblower stand mit vorgebeugtem Kopf, um sich nicht noch einmal an den Decksbalken zu stoßen, und sagte nur langsam: »Nein.« Er wollte dabei nichts von seiner Mißstimmung und Enttäuschung heraushören lassen, fürchtete aber, daß ihm diese Absicht mißlungen war. Es verdroß ihn, zugeben zu müssen, daß ein Angriff auf das Frische Haff so gut wie keine Aussichten auf Erfolg bot, und doch sagten ihm Klugheit, gesunder Menschenverstand und seemännischer Instinkt deutlich genug, daß es so war. Man konnte die Balkensperre weder durchbrechen noch umfahren, zum mindesten verfügte er über keine Schiffe, die dazu imstande waren. Jetzt bereute er die großen Worte, die er ganz unnötigerweise Bush gegenüber gebraucht hatte, als er von der dankbaren und wichtigen Aufgabe sprach, das Haffgebiet von See aus zu überfallen. Das war wirklich eine gute Lehre für ihn, weil er offenbar immer noch nicht wußte, daß man am besten den Mund hielt. Der ganze Verband brannte darauf, an den Feind zu kommen, und er mußte ihn nun enttäuschen, mußte absegeln, ohne das geringste ausgerichtet zu haben. In Zukunft wollte er seine Lippen doppelt versiegeln, seine ungebärdige Zunge dreifach im Zaum halten, denn wenn er nicht so leichtfertig mit Bush geredet hätte, dann wäre aus der Aufgabe des Planes nicht annähernd so viel Schaden entstanden, wie es jetzt der Fall war. Bush hatte die kommende Unternehmung natürlich mit seinen Offizieren besprochen, was ihm ja nicht verboten war. War es da ein Wunder, wenn alles vor Erwartung fieberte und jeder gespannt den großen Taten des »kühnen Draufgängers« Hornblower (er hatte nur ein höhnisches Grinsen für ihn übrig) entgegensah, dessen mutige und erfinderische Unternehmungen in aller Munde waren.
Ernüchtert befaßte er sich noch einmal mit der vorgefundenen Lage. Zwischen Nehrung und Balkensperre war schließlich Wasser genug, daß eine Flottille von Schiffsbooten passieren konnte. Auf diesem Wege konnte er drei oder vier Barkassen ins Haff schicken, die jede im Bug einen Vierpfünder trugen und zusammen hundertfünfzig Mann an Bord hatten.
Höchstwahrscheinlich kamen sie des Nachts ungesehen an der Sperre vorbei. Waren sie erst einmal im Haff, dann hatten sie den Vorteil der Überraschung für sich und konnten in aller Eile der Küstenschiffahrt schweren Schaden zufügen.
Wahrscheinlich konnten sie Tausende von Tonnen Schiffsraum vernichten, aber der Plan hatte einen Haken - sie kamen nie wieder heraus. Denn dazu war nachher die Ausfahrt viel zu scharf bewacht, am Ende der Sperre wimmelte es sicher von Kanonenbooten, die, auch wenn sie von Landsoldaten bemannt waren, die englische Bootsflottille durch ihre Überzahl einfach erdrücken mußten. Sein Verband konnte es sich aber nicht leisten, hundertfünfzig ausgebildete Seeleute - das war ein Zehntel der gesamten Besatzung - einzubüßen. Machte er jedoch das Kommando kleiner, dann war das ganze Unternehmen wahrscheinlich für die Katz.
Nein, die Zerstörung einer Anzahl von Küstenfahrzeugen war gewiß keine hundertfünfzig Seeleute wert. Es war Zeit, daß er sich diesen Gedanken aus dem Kopf schlug. Er fuhr in die trockene Hose, die ihm Vickery zur Verfügung gestellt hatte, als wollte er diesen Entschluß damit versinnbildlichen. Da, er war eben mit einem Bein drin, mit dem anderen noch draußen, kam ihm plötzlich der rettende Gedanke. Im Hemd, das eine Bein nackt, das andere bis zum Knöchel in der Hose, hielt er inne und rief: »Mr. Vickery, geben Sie schnell noch einmal die Karte her!«
»Aye, aye, Sir«, gab Vickery zur Antwort Auch aus seiner Stimme klang plötzlich erregte Spannung, als wäre sie der Widerhall dessen, was nun plötzlich aus Hornblowers Worten zu hören war. Vickery mußte genau gemerkt haben, was in ihm vorging, und Hornblower gab sich darüber Rechenschaft. Als er seinen Hosengurt zuschnallte, nahm er sich nochmals mit besonderem Nachdruck vor, sorgfältiger auf seine Redeweise zu achten, weil ihm alles daran lag, in den Augen der Welt »der große Schweiger« zu bleiben, als der er bisher gegolten hatte. Er starrte auf die Karten, die Vickery vor ihm ausgebreitet hatte, und war sich dabei bewußt, daß dieser sein Gesicht studierte. Deshalb nahm er sich sehr zusammen, um seine Entscheidung ja durch nichts zu verraten.
Als er zu seinem Entschluß gekommen war, sagte er nichts als:
»Danke sehr« und bemühte sich dabei nach Kräften um einen möglichst beiläufigen Tonfall. Da fiel ihm plötzlich der alte, lange vergessene Laut ein, der so wunderbar unverbindlich klang, er räusperte sich und machte ohne Ausdruck oder Betonung »Hahm«. Das gefiel ihm offenbar nicht übel, denn er ließ sich gleich noch einmal besonders ausführlich vernehmen:
»Haaa, hm.« Dann freute er sich königlich über Vickerys fassungslosen Blick. Als er am nächsten Morgen in seiner Kajüte auf der Nonsuch seinen versammelten Kommandanten den Angriffsplan auseinandersetzte, fand er eine leise Genugtuung darin, ihre Gesichter zu beobachten. Alle, vom ersten bis zum letzten, waren sie auf dieses Kommando versessen, sie drängten sich geradezu danach, Leben und Freiheit an eine Aufgabe zu setzen, die jedem im ersten Augenblick als hirnverbrannte Tollheit erscheinen mußte. Die beiden Korvettenkapitäne brannten auf Beförderung zum Fregattenkapitän, die Leutnants hofften Korvettenkapitäne zu werden.
»Das Kommando bekommt Mr. Vickery«, sagte Hornblower und hatte wieder Gelegenheit, das Spiel der verschiedenen Empfindungen auf den Gesichtern seiner Zuhörerschaft zu studieren. Da in einem solchen Fall jeder der Anwesenden ein Recht darauf hatte, zu erfahren, warum die Wahl nicht auf ihn gefallen war, fügte er noch ein paar erläuternde Worte hinzu.
»Die beiden Kommandanten der Kanonenboote sind unersetzlich, wir haben im Geschwader keinen anderen Leutnant, der es ihnen in der Handhabung dieser Erfindungen des Teufels gleichtun könnte. Warum Kapitän Bush unabkömmlich ist, brauche ich nicht zu erklären. Mr. Vickery hat mit mir zusammen bereits die Sperre erkundet und kennt also die örtlichen Verhältnisse besser als Mr. Cole, der sonst als zweiter für dieses Kommando in Frage käme.«
Es konnte nicht schaden, wenn er Cole mit einer solchen Erklärung zu beruhigen trachtete, vor allem kam nichts Gutes heraus, wenn die Leute errieten, daß er Cole nur so lange Vertrauen schenkte, als er ihn unter den Augen hatte - der arme, alte Cole, er war mit seiner gebeugten Haltung, seinen grauen Haaren schon fast zu alt für seinen Posten und klammerte sich doch gegen alle Wahrscheinlichkeit immer noch an die Hoffnung, eines Tages Kapitän zur See zu werden. Hornblower hatte das peinliche Gefühl, daß Cole seine Entschuldigung durchschaute, und mußte sich mit der Binsenwahrheit trösten, daß man im Kriege nicht so ängstlich auf die Gefühle anderer Menschen Rücksicht nehmen kann. Er beeilte sich, zum nächsten Punkt zu kommen.
»Nachdem diese Frage erledigt ist, meine Herren, wäre ich Ihnen für Vorschläge dankbar, welche Offiziere Mr. Vickery für das Unternehmen unterstellt werden sollen. Ich bitte Mr. Vickery selbst, den Anfang zu machen, da ihn diese Angelegenheit am nächsten angeht.«
Als auch diese Einzelheit geklärt war, galt es, die vier Boote für das Unternehmen vorzubereiten - es waren die Barkaß und der Kutter der Nonsuch und die Kutter von Lotus und Raven. In den Bug der Barkaß wurde ein Vierpfünder gesetzt, die Kutter erhielten je einen Dreipfünder, außerdem wurden die Boote mit Lebensmitteln, Wasser, Munition und leicht entzündlichen Stoffen zum Inbrandsetzen der Prisen ausgerüstet. Die für das Unternehmen abgeteilten Mannschaften traten an und wurden gemustert, die Matrosen mit Pistole und Entermesser, die Seesoldaten mit Muskete und Bajonett. Am Abend kam Vickery noch einmal auf die Nonsuch um sich endgültig über den künftigen Treffpunkt zu vergewissern. »Ich wünsche Ihnen viel Glück«, sagte Hornblower. »Danke, Sir«, antwortete Vickery.
Er sah Hornblower offen in die Augen.
»Ich habe Ihnen so viel zu verdanken, Sir«, fügte er unvermittelt hinzu. »Sie brauchen mir nicht zu danken, danken Sie lieber sich selbst«, erwiderte Hornblower kurz angebunden.
Es ging ihm ausgesprochen gegen das Gefühl, von dem jungen Vickery einen Dank dafür entgegenzunehmen, daß er sein Leben in Gefahr brachte. Er rechnete sich aus, daß er heute einen Sohn in Vickerys Alter haben könnte, wenn er als Fähnrich geheiratet hätte.
Bei Dunkelwerden lief das Geschwader auf Land zu. Der Wind hatte etwas nördlicher gedreht und wehte immer noch als steife Brise, der Himmel war zwar nicht so bedeckt wie die Nacht zuvor, aber man konnte doch damit rechnen, daß die Boote ungesehen durchschlüpften. Hornblower beobachtete, wie sie ablegten, es schlug gerade zwei Glasen auf der Mittelwache.
Als sie im Grau der Nacht verschwanden, wandte er sich ab.
Jetzt blieb ihm nur eins: Warten. Er stellte mit Interesse fest, daß er auch heute noch ehrlich und aufrichtig vorgezogen hätte, selbst zu kämpfen, daß er lieber dort im Frischen Haff Leben, Gesundheit und Freiheit aufs Spiel gesetzt hätte, als hier draußen in Sicherheit die Erfolge der anderen abzuwarten. Er hatte sich nie für tapfer gehalten, der Gedanke, verstümmelt zu werden, war ihm gräßlich, und den Tod fürchtete er nicht viel weniger. Deshalb war es ihm jetzt wesentlich, zu erfahren, daß es doch Lagen gab, die ihm unangenehmer waren als die Gefahr.
Als so viel Zeit vergangen war, daß die Boote die Sperre passiert haben mußten - wenn sie nicht vorher in die Hände des Feindes gefallen waren -, ging Hornblower unter Deck, um bis zum Anbruch der Dämmerung noch etwas zu ruhen. Aber der Schlaf wollte nicht kommen, er konnte sich nur zwingen, auf der Koje liegenzubleiben, und mußte seine ganze Willenskraft aufbieten, sich nicht immerzu herumzuwälzen. Als sich der Himmel endlich aufzuhellen begann, trat er mit einem Gefühl wahrer Erleichterung auf das Halbdeck hinaus, ließ sich mit Genuß von der Pumpe überspülen und trank dann auf dem Achterdeck seinen Morgenkaffee. Da das Schiff über Backbordbug beigedreht lag, mußte nämlich dort die Einfahrt von Pillau zum Vorschein kommen.
Mit zunehmendem Tageslicht konnte Hornblower durch sein Glas immer mehr Einzelheiten unterscheiden. Dort lag in einer Entfernung, die vielleicht für einen Zufallstreffer noch nicht zu groß war, die gelb und grün getönte Huk, auf der der Ort Pillau stand. Der Doppelturm seiner Kirche war schon deutlich zu erkennen. Auch die Sperre, die quer über die Einfahrt lag, kam zum Vorschein, man sah dort eine Linie von Brechern und gelegentlich sogar einen der schwarzen Balken. Die dunkleren Hügel über dem Strand mußten die Batterien sein, die man zur Verteidigung der Einfahrt aufgestellt hatte. Drüben auf der anderen Seite lag der lange Strich der Nehrung, eine gelbgrüne Linie von Sanddünen, die sich in ganz geringen Höhenunterschieden hinzog, so weit, nein, viel weiter, als das Auge reichte. Innerhalb der Einfahrt selbst sah man gar nichts, nur graues Wasser, das sich hier und dort über den Untiefen des Haffs weißlich verfärbte. Das gegenüberliegende Ufer des Haffs war so weit entfernt, daß man es von Deck aus nicht mehr sehen konnte. »Kapitän Bush«, befahl Hornblower, »haben Sie die Güte, einen Offizier, der besonders gute Augen hat, mit einem Glas bewaffnet in den Topp zu schicken.«
»Aye, aye, Sir.« Hornblower beobachtete den jungen Leutnant, wie er die Riggen hocheilte.
Er enterte natürlich, so schnell er konnte, weil er das Auge des Kommodore auf sich ruhen fühlte. In den Püttingswanten hing er mit dem Rücken nach unten, dann stieg er ohne Aufenthalt weiter in die Bramwanten. Hornblower wußte, daß er das bei seiner gegenwärtigen körperlichen Verfassung nicht gekonnt hätte, er hätte im Mars eine Atempause einlegen müssen. Er wußte auch, daß seine Augen nicht mehr so gut waren wie früher, jedenfalls nicht so gut wie die des Leutnants dort. Er sah ihm weiter zu, wie er sich zuletzt auf der Bramsaling niederließ, wie er das Glas einstellte und den Horizont damit absuchte. Voll Ungeduld wartete er auf eine Meldung. Endlich hielt er es nicht mehr aus und griff nach seinem Megaphon. »Großtopp! Was sehen Sie von der Festlandküste?«
»Nichts, Sir. Zu diesig, um etwas zu unterscheiden. Ich kann auch keine Segel ausmachen.«
Vielleicht machte sich die ganze Garnison bereits über ihn lustig. Vielleicht waren ihnen die Boote geradewegs in die Hände gelaufen, und sie freuten sich jetzt zu sehen, wie das Geschwader wartete und wartete, um ein Lebenszeichen von den verlorenen Fahrzeugen und ihren Besatzungen zu erspähen.
Aber dann zwang sich Hornblower dazu, diese pessimistischen Regungen zu unterdrücken. Statt dessen versuchte er, sich vorzustellen, wie es wohl in den Batterien und in der Stadt zuging, als man bei Hellwerden plötzlich ein englisches Geschwader entdeckte, das eben außer Schußweite beigedreht vor der Einfahrt lag. Wie da wohl die Trommeln schlugen und die Trompeten schmetterten, um die Garnison in aller Eile gegen etwaige Landungsversuche in Bereitschaft zu setzen! Das war es, was die Leute im Augenblick beschäftigte. Die Besatzung samt ihrem französischen Kommandanten konnte noch keine Ahnung haben, daß die Wölfe bereits in ihren Pferch eingebrochen waren, daß englische Bootsbesatzungen dabei waren, das Haff heimzusuchen, das keinen Feind mehr gesehen hatte, seit Danzig vor fünf Jahren an die Franzosen gefallen war.
Hornblower suchte sich mit dem Gedanken an das zusätzliche Durcheinander zu trösten, das sich notwendig entwickelte, sobald der Gegner später die wirkliche Lage übersah. Dann galoppierten Meldereiter mit Befehlen nach allen Richtungen, die kleinen Boote mußten alarmiert, die Küstenfahrzeuge und Schuten angewiesen werden, schnellstens unter den Geschützen der nächsten Batterien Schutz zu suchen - sofern es welche gab.
Hornblower wäre jede Wette eingegangen, daß zwischen Elbing und Königsberg keine einzige Kanone stand, man hätte ja auch nicht sagen können, wozu.
»Topp! Können Sie immer noch nichts ausmachen?«
»Nein, Sir... Doch, Sir, von der Stadt her laufen Kanonenboote aus.« Hornblower sah sie jetzt selbst. Es war eine Flottille kleiner, zweimastiger Fahrzeuge mit Spriet-Großsegeln, wie sie bei den kleinen Pillauer Küstenfahrern üblich sind. Sie erinnerten ihn, ihrer Erscheinung nach, etwas an die Norfolk-Ewer. Wahrscheinlich war jedes dieser Schiffe mit einem schweren Geschütz, vielleicht einem Vierundzwanzigpfünder, bewaffnet, das auf dem Vordeck stand. Sie ankerten in Abständen auf den Untiefen und bildeten offenbar einen weiteren Schutz der Sperre gegen jeden Versuch, sie zu durchbrechen. Vier der Fahrzeuge überquerten das ganze Fahrwasser und ankerten dann so, daß sie das flache Gewässer zwischen Sperre und Nehrung deckten. Nachdem die Kuh gestohlen ist, machen sie die Stalltür zu, schoß es Hornblower durch den Kopf, als er dieses Manöver sah. Bei näherem Nachdenken aber wurde ihm klar, daß dieses Bild nicht stimmte.
Wenn sie schon wußten, daß ein Dieb drinnen war (was man allerdings bezweifeln konnte), dann machten sie womöglich die Tür nur deshalb zu, weil sie ihn nicht entkommen lassen wollten. Die Luft wurde rasch klarer, der Himmel begann schon, seine blaue Farbe anzunehmen, und eine wäßrige Sonne drang durch den weichenden Dunst.
»An Deck! Genau in der Mitte der Bucht ist jetzt etwas Rauch zu sehen, Sir. Ich kann nichts Genaues ausmachen, aber es ist schwarzer Rauch, Sir, und könnte von einem brennenden Schiff stammen.«
Bush schätzte die abnehmende Entfernung zwischen Schiff und Sperre und befahl aufzubrassen, um etwas nach See abzulaufen. Die beiden Korvetten machten die Bewegungen der Nonsuch mit. Hornblower fragte sich, ob er dem jungen Mound mit den Kanonenbooten nicht doch etwas zu viel zugetraut hatte.
Mound hatte am nächsten Morgen ein höchst wichtiges Zusammentreffen herbeizuführen, er war mit Math und Harvey längst außer Sicht und unter dem Horizont. Bis jetzt hatte die Besatzung von Pillau also nur drei englische Schiffe gesehen und wußte nichts von der Existenz der beiden Kanonenboote.
Das war gut, vorausgesetzt, daß Mound seine Befehle gewissenhaft und genau ausführte. Aber vielleicht gab es Sturm, vielleicht kam infolge einer Winddrehung so viel Brandung auf, daß der ganze Plan hinfällig wurde. Hornblower fühlte, wie ihn die Sorge wieder zu übermannen drohte, und zwang sich zu einer gelösten Haltung, um einen möglichst gelassenen Eindruck zu machen. Wenn er sich gestattete, an Deck auf und ab zu gehen, so legte er doch Wert darauf, sich nicht in einem nervösen Eilmarsch, sondern mit gemächlichen Schlenderschritten zu bewegen. »An Deck! Unter Land ist noch mehr Rauch zu sehen, Sir. Er steigt an zwei Stellen auf, es sieht aus, als ob jetzt zwei Schiffe in Brand stünden.« Bush hatte gerade Befehl gegeben, das Großmarssegel wieder back zu brassen. Als das Schiff wieder beigedreht lag, kam er zu Hornblower herüber. »Es sieht so aus, als ob Vickery schon ein paar Opfer gefunden hätte, nicht wahr, Sir?« sagte er lächelnd.
»Wir wollen es hoffen«, antwortete Hornblower.
Bush machte sich offenbar nicht die geringste Sorge. Sein verwittertes Gesicht drückte nur wilde Freude aus, wenn er daran dachte, wie Vickery jetzt unter diesen Küstenfahrern aufräumen mochte. Seine über alle Zweifel erhabene Zuversicht begann auch Hornblower wieder sicherer zu machen, bis ihm plötzlich einfiel, daß Bush sich ja gar nicht um die verschiedenen Gefahrenmomente kümmerte. Bush wußte nur, daß Hornblower den Angriff geplant hatte, das genügte ihm. Er konnte sich überhaupt nicht vorstellen, daß ein solches Unternehmen fehlschlug. Hornblower wiederum fand dieses gedankenlose Gehaben höchst aufreizend.
»An Deck! Zwei kleine Fahrzeuge kommen hoch am Wind quer über die Bucht. Sie haben Kurs auf die Stadt. Ich kann es noch nicht genau ausmachen, Sir, aber ich glaube, das zweite ist unser Kutter.«
»Es ist unser Kutter, Sir!« schrie eine andere Stimme. Jeder, der irgend abkommen konnte, hing jetzt in der Takelage.
»Das ist Montgomery«, sagte Bush. Er hatte die Zehe seines hölzernen Fußes in den Augbolzen für die Talje der achtersten Karronade gezwängt, so daß er auf dem leicht schwankenden Deck ohne Anstrengung stehen konnte. »Er hat ihn, Sir!« schrie die Stimme von oben, »unser Kutter hat ihn!«
»Eine schöne Menge Fleisch und Brot, um die Boney ärmer wird«, sagte Bush.
Wenn es gelang, der Küstenschiffahrt im Haff wirklich schwere Verluste beizufügen, dann mochte das vielleicht die Einbuße von hundertfünfzig erstklassigen Seeleuten aufwiegen.
Aber es war natürlich die Frage, ob sich die Lords der Admiralität dieser Ansicht anschlössen, wenn er für den dem Gegner zugefügten Schaden keine Beweise liefern konnte.
»An Deck! Die beiden Segel trennen sich wieder. Unser Kutter läuft vor dem Winde weg, der andere hat sein Großsegel aufgegeit, glaube ich, Sir. Es sieht aus, als ob...«
Der Leutnant unterbrach seine Meldung mitten im Satz. »Da geht er hoch!« schrie eine andere Stimme, und gleich darauf brüllten alle, die in der Takelage waren, Hurra.
»Das Fahrzeug ist explodiert!« rief der Leutnant und vergaß in der Aufregung sogar, das Wörtchen Sir hinzuzusetzen, wie es sich gehörte, wenn man mit seinem Kommodore sprach. »Da steht noch immer die Rauchsäule, sie ist so hoch wie ein Berg.
Man kann sie wohl auch von Deck aus sehen.« Natürlich konnte man das. Der dunkle, schwere Rauchpilz ragte ja hoch über die Kimm, und es dauerte erhebliche Zeit, bis er im Winde zerriß und zuletzt ganz verwehte.
»Das war bei Gott kein Fleisch und kein Brot!« rief Bush und hieb sich mit der rechten Faust in die linke Hand. »Das war Pulver! Eine ganze Schute voll Pulver. Fünfzig Tonnen Pulver!«
»Topp! Was macht der Kutter?«
»Ist in Ordnung, Sir. Die Detonation scheint ihn nicht mehr erreicht zu haben, Sir. Sein Rumpf ist von hier aus schon unter der Kimm.«
»Gebe Gott, daß er bereits dem nächsten auf den Fersen ist.«
Die Versenkung der Pulverschute war der deutlichste Beweis dafür, daß Bonaparte diesen Binnenschiffahrtsweg zum Transport militärischer Nachschubgüter benutzte. Hornblower war sich darüber klar, daß er einen Erfolg buchen konnte, auch wenn es ihm nicht gelang, Whitehall ganz davon zu überzeugen.
Er ertappte sich dabei, daß er vor Freude lächelte. Sobald ihm jedoch dieses Lächeln zu Bewußtsein kam, suchte er es zu unterdrücken, denn seine Würde verlangte, daß man ihm jetzt seine Siegesfreude ebensowenig anmerkte wie vorhin das Bangen und die Ungewißheit.
»Bleibt uns nur die Aufgabe, Vickery und seine Männer heute nacht wieder herauszuholen, Sir«, sagte Bush.
»Ja, das ist das einzige, was uns noch zu tun bleibt«, sagte Hornblower so trocken, wie er es eben fertigbrachte.
Die Zerstörung der Pulverschute war der einzige sichere Beweis für den Erfolg der Boote auf dem Haff, den man an Bord der Nonsuch während der Unternehmung selbst erhielt. Die Ausguckposten wollten zwar außerdem noch mehr als eine Rauchwolke gesehen haben, aber sie machten doch nur zögernd davon Meldung. Gegen Abend erschien, wahrscheinlich von Königsberg her, eine weitere Flottille von Kanonenbooten und ging längs der Balkensperre auf Station. Auch eine Marschkolonne war an Land einige Zeit sichtbar, die waagrechten Linien der blauen Röcke und weißen Hosen hoben sich so deutlich ab, daß man sie sogar von Deck aus leicht unterscheiden konnte. Auch diese Truppe hatte wohl die Aufgabe, die Verteidigung von Pillau zu verstärken. Die Briten hatten jedenfalls mit kräftiger und entschlossener Abwehr zu rechnen, wenn es ihnen einfiel, einen Handstreich gegen die Hafeneinfahrt zu unternehmen.
Gegen Abend stieg Hornblower wieder an Deck, er hatte sich eben in seiner Kajüte so gestellt, als äße er mit Appetit sein Dinner. Nun sah er sich wieder um, obwohl alle seine Sinne auch unter Deck so wach gewesen waren, daß ihm der Anblick nichts sagte, was er nicht schon wußte. Mit dem sinkenden Tag wurde auch der Wind etwas flauer, die Sonne ging soeben unter, aber das Tageslicht hielt mindestens noch ein paar Stunden vor.
»Kapitän Bush, ich wäre Ihnen verbunden, wenn Sie Ihre besten Richtkanoniere an die Geschütze der Steuerbord-Unterbatterie schicken würden.«
»Aye, aye, Sir.«
»Lassen Sie die Geschütze klarmachen und ausrennen, bitte.
Und dann wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie das Schiff in Schußweite der Batterien dort brächten. Ich möchte ihr Feuer auf uns ziehen.«
Die Pfeifen zwitscherten durch das Schiff, Bootsmann und Bootsmannsmaaten riefen Befehle aus, und die Leute liefen auf ihre Stationen. Ein langgedehntes, erdbebenähnliches Zittern erschütterte das Schiff, als die schweren Vierundzwanzigpfünder der Unterbatterie donnernd ausgerannt wurden.
»Sehen Sie, bitte, zu, daß die Geschützführer sich über das Ziel im klaren sind«, sagte Hornblower.
Er wußte, wie wenig man von der Unterbatterie aus durch eine Geschützpforte sehen konnte, die höchstens einen Meter über Wasser lag, und wollte doch auch nicht, daß seine Finte allzu dürftig ausfiel und vom Gegner gleich als solche durchschaut wurde. Die Männer an der Leebraß des Großmarssegels holten willig längsdeck und braßten das mächtige Segel herum, so daß die Nonsuch an den Wind kam und allmählich Fahrt aufnahm. »Etwas Steuerbord«, sagte Bush zum Rudergänger. »Ein bißchen voller! So, stütz! Recht so, wie's jetzt geht!«
»Recht so, wie's jetzt geht, Sir«, wiederholte der Rudergänger.
Dann verpflanzte er seinen Priem durch ein gymnastisches Kunststück seiner Gesichtsmuskeln aus der Backe in den Mund und traf damit im nächsten Augenblick genau in den Spucknapf, der neben dem Ruder an Deck stand, ohne seine Aufmerksamkeit vom Luvliek des Großmarssegels und vom Kompaß in seinem Gehäuse abzuwenden.
Die Nonsuch näherte sich also stetig der Einfahrt und den Batterien. Sich freiwillig beschießen zu lassen, war immerhin eine kitzlige Aufgabe. Nicht weit von den Batterien zeigte sich Rauch wie von einem Feuer. Das waren vielleicht nur die Kochöfen der Besatzung, aber es konnte auch sehr gut eine der Essen sein, in denen man die Kugeln glühend zu machen pflegte. Bush dachte an diese Möglichkeit, mit der man beim Kampf gegen Landbatterien immer rechnen mußte, und brauchte nicht darauf aufmerksam gemacht zu werden. Jeder verfügbare Mann stand klar mit Feuereimern, jede Pumpe und jeder Schlauch waren angeschlagen. Jetzt schätzte er die Entfernung nach Augenmaß.
»Etwas näher heran, bitte, Kapitän Bush«, sagte Hornblower anfeuernd, weil er sah, daß sie noch nicht in Schußweite waren.
Steuerbord vorn, etwa zwei Kabellängen entfernt, sah man in dem kurzen, steilen Seegang eine Wasserfontäne aufspritzen.
»Noch immer nicht nah genug, Kapitän Bush«, sagte Hornblower. Unter gespanntem Schweigen lief das Schiff weiter. Da sprang plötzlich Steuerbord achtern eine ganze Gruppe von Wassersäulen auf, eine davon so dicht am Schiff, daß dem guten Bush infolge einer Laune von Wind und Wellen eine ordentliche Ladung Wasser ins Gesicht klatschte. »Tod und Teufel!« spuckte der und wischte sich die Augen. Was war das?
Wie konnte diese Batterie schon so dicht am Schiff liegen?
Außerdem war in ihrer Nähe auch kein Mündungsqualm zu sehen. Hornblower ließ sein Glas nach der Seite wandern und mußte plötzlich einen Kloß hinunterwürgen. Da war ja noch eine ganz andere Batterie, und die hatte soeben gefeuert. Sie lag etwas weiter links, und er hatte von ihrem Vorhandensein bis zu diesem Augenblick nichts geahnt. Offenbar waren ihre Wälle schon dicht genug mit Gras bestanden, so daß sie auch scharfer Beobachtung entgingen. Aber die Leute hatten sich Gott sei Dank etwas zu früh verraten. Hätte der Kommandeur dort die Geduld gehabt, noch zehn Minuten zu warten, dann wäre die Nonsuch ohne Zweifel in eine schwierige Lage gekommen.
»Genug, Kapitän Bush«, sagte Hornblower.
»Voll und bei«, befahl Bush dem Rudergänger, dann erhob er seine Stimme: »Leebrassen!«
Die Nonsuch luvte auf und kehrte nun ihre Steuerbordbreitseite den Batterien zu. Sie lag hart am Wind, und die weitere Annäherung vollzog sich daher erheblich langsamer.
Hornblower erklärte dem Fähnrich der Wache genau die Lage der neu entdeckten Batterie und befahl ihm dann, hinunterzusausen und sie den Geschützführern als Ziel anzuweisen. »Besser Luv halten«, knurrte Bush den Rudergänger an. »Besser Luv halten, Sir.«
Einige Sekunden später sprangen wieder ringsum die Fontänen auf, und gleichzeitig hörte man das Geheul der sausenden Geschosse. Erstaunlich, daß sie noch nicht getroffen waren, ja, erstaunlich, aber nur so lange, bis Hornblower einen Blick in die Takelage warf und im Kreuzmarssegel zwei elliptische Löcher entdeckte. Dennoch war die Schießerei kümmerlich, wenn man sich vor Augen hielt, daß, nach dem Mündungsqualm zu urteilen, mindestens zwanzig schwere Geschütze auf sie feuerten. Hornblower machte sich eine genaue Notiz über die Lage der Batterien, denn man konnte nie wissen, wie einem eine solche Kenntnis zugute kam.
»Feuer eröffnen, wenn ich bitten darf, Herr Kapitän«, sagte Hornblower. Ehe er noch seine abschließende Höflichkeitsformel ganz ausgesprochen hatte, wiederholte Bush bereits seinen Befehl mit voller Lungenkraft durch das Megaphon. Der Stückmeistersmaat, der als Befehlsübermittler am Großluk stand, gab das Kommando in die Unterbatterie weiter. Nun entstand eine kurze Pause, über die Hornblower sehr befriedigt war, weil sie ihm bewies, daß die Geschützführer sich Mühe gaben, genau zu zielen, und nicht einfach darauflosschossen, wenn der Feuerbefehl kam. Endlich rollte die Breitseite los, daß das Schiff erzitterte. Dicker Qualm wallte auf und verzog sich nach Lee. Hornblower erkannte durch das Glas, wie der Sand rings um die maskierte Batteriestellung aufspritzte.
Wieder und wieder brüllten die siebzehn Vierundzwanzigpfünder auf. Der Rückstoß und das Rollen der schweren Lafetten ließen das Deck unter Hornblowers Füßen erzittern. »Ich danke Ihnen, Kapitän Bush«, sagte Hornblower.
»Sie können jetzt über Stag gehen.«
Bush sah ihn von der Seite an. Die Kampfbegeisterung hatte ihn so gepackt, daß er einen Augenblick Bedenkzeit brauchte, um den neuen Befehl zu verarbeiten.
»Aye, aye, Sir«, bestätigte er schließlich. Darm hob er sein Megaphon: »Feuer einstellen! Klar zum Wenden!«
Der Befehl wurde an die Geschütze weitergegeben, augenblicklich erstarb der Lärm der Batterie, so daß das für den Rudergänger bestimmte »Rhe!« unnötig laut klang.
»Rund achtern!« brüllte Bush.
Die Nonsuch richtete sich auf und wälzte sich schwerfällig mit schlagenden Segeln auf den anderen Bug.
Da spritzten Steuerbord vorn wieder Wassersäulen auf, diesmal standen sie ganz dicht zusammen. Ohne die überraschende Wendung hätten die Schüsse sehr wahrscheinlich getroffen - und Hornblower läge womöglich als verstümmelte Leiche mit zerrissenen Eingeweiden auf dem Achterdeck. Aber die Nonsuch war schon durch den Wind, und die Achtersegel begannen sich zu füllen.
»Rund vorn!« donnerte Busch. Als die Männer an den Leebrassen längs Deck liefen, begann auch der Vortopp zu ziehen, und bald hatte das Schiff auf dem neuen Bug wieder Fahrt aufgenommen. »Haben Sie weitere Befehle, Sir?« fragte Bush. »Nein danke, für den Augenblick nicht.«
Mit Steuerbordhalsen beim Wind liegend, entfernte sich die Nonsuch nun rasch von der Küste und näherte sich wieder der Stelle, wo die Korvetten abwechselnd back- und vollbrassend auf ihr Flaggschiff gewartet hatten. An Land glaubten sie jetzt wohl voll Begeisterung, einen ernsthaften Angriff abgeschlagen zu haben, der eine oder andere schwatzhafte Kanonier mochte sogar darauf schwören, er hätte mit eigenen Augen die schweren Treffer beobachtet, die sie dem unerwünschten englischen Eindringling beibrachten. Nach Lage der Dinge mußten sie selbstverständlich annehmen, daß der Gegner irgendwo in der Nähe noch ein anderes verzweifeltes Unternehmen zu beginnen gedachte. »Fähnrich!« sagte Hornblower.
Nun stieg eine Reihe bunter Flaggen nach der anderen zu den Rahen der Nonsuch empor. Es war für den Signalfähnrich eine ausgezeichnete Übung, den Vers: »The curfew tolls the knell of parting day« mit einer möglichst niedrigen Zahl von Flaggengruppen an den Empfänger zu übermitteln. Als das Geben beendet war, stand der Signalfähnrich mit gezücktem Kieker klar, um die Antwort der Raven abzulesen.
»The -«, las er, »1ow-, aber das müßte doch ›blowing‹ heißen.
Nein, es heißt ›lowing‹, ich weiß aber nicht, was das bedeuten soll. Herd, Herd. Zwei - fünf. Das bedeutet›Wind‹und ein s dazu. Das gibt›Winds‹ . Slo-.«
Cole auf der Raven kannte also die Elegie von Gray, und der Signalgeber war ein findiger Kopf, weil er für ›wind‹(winden) das Codesignal für›wind‹benutzt hatte. daß er auch für›lea‹(Flur) das Codesignal für›lee‹ (Lee) gebrauchte, hatte Hornblower nicht anders erwartet. Er sparte auch damit wieder eine Flagge.
»The lowing heard winds slowly over the lea, Sir«, meldete zuletzt der Fähnrich mit völlig verdutztem Gesicht. »Sehr gut, Signal verstanden.«
Diese ungezählten Signale zwischen dem Linienschiff und den Korvetten mußten von Land aus zu sehen sein und wurden wahrscheinlich mit höchster Spannung beobachtet. Hornblower gab noch ein weiteres Signal unter dem Anruf der Lotus. - »The ploughman homeward plods his weary way«, bekam aber als Antwort nur ein verlegenes ›Signal unverständlich‹ .
Anscheinend war Purvis, der Erste Offizier der Lotus der heute dort das Kommando hatte, kein besonders heller Kopf, vielleicht fehlte es ihm auch an literarischer Bildung. Was mochte er wohl jetzt über ihn und seinen Einfall denken? Selbst Hornblowers Phantasie reichte nicht aus, sich das auszumalen, aber er mußte bei dem Gedanken doch lächeln.
»Widerrufen Sie das Signal«, befahl er, »und geben Sie statt dessen: ›Sofort Anzahl der rothaarigen, verheirateten Besatzungsmitglieder melden‹ .« Hornblower wartete, bis die Antwort kam. Wie nett wäre es gewesen, hätte Purvis ihn nicht beim Wort genommen, sondern das Kunststück fertiggebracht, in seiner Antwort eine glückliche Mischung von Ehrerbietung und Witz zu finden, obwohl sich beides im allgemeinen schlecht miteinander vertrug. Statt dessen gab er nichts als die trockene Zahl Fünf.
Nach diesem Zwischenspiel wandte sich Hornblower wieder der eigentlichen Aufgabe zu.
»Signal an beide Korvetten«, befahl er, » ›Scheinangriff gegen Sperre, Feuergefecht vermeiden‹ «
Er beobachtete, wie die beiden Fahrzeuge im schwindenden Tageslicht anliefen, als hätten sie die Absicht, ernsthaft anzugreifen. Dann schwenkten sie herum, luvten bis in den Wind und fielen wieder ab. Zweimal sah Hornblower, wie sich drüben ein Ballen Rauch löste, und hörte gleich darauf den dumpfen Donner eines Vierundzwanzigpfünders. Das waren die Kanonenboote, die feststellen wollten, ob sie den Gegner schon in Reichweite hatten. Als es zum Erkennen der Flaggen gerade noch hell genug war, gab er das Signal: ›In einer halben Stunde Unternehmung abbrechen‹ . Nun hatte er wirklich alles getan, um die Aufmerksamkeit des Gegners auf dieses Ende des Haffs und seinen einzigen Ausgang zu lenken. Die Führung an Land mußte aus seinem Verhalten den sicheren Schluß gezogen haben, daß seine Handelskrieg führenden Boote versuchen würden, hier wieder herauszukommen. Wahrscheinlich erwarteten sie einen Durchbruchsversuch beim ersten Morgengrauen, den die großen Schiffe durch einen Angriff von außen unterstützten. Er hatte dazu getan, was er konnte, nun blieb ihm nur noch übrig, zur Koje zu gehen und den Rest der Nacht ruhig zu verschlafen - das heißt, sofern er dazu imstande war.
Er war es natürlich nicht, solange er das Schicksal von hundertfünfzig tüchtigen Seeleuten in der Schwebe wußte und solange sein eigener Ruf als Glückskind und findiger Kopf auf dem Spiel stand. Eine halbe Stunde nach dem Zubettgehen begann es ihn zu reuen, daß er nicht lieber drei jüngere Offiziere zu einem Dauerwhist befohlen hatte und mit ihnen bis zum Morgengrauen durchspielte. Er ging mit dem Gedanken um, aufzustehen und das nachzuholen. Aber dann wußte natürlich gleich das ganze Schiff, daß er umsonst versucht hatte, Schlaf zu finden. Aus diesem Grund gab er seine Absicht wieder auf, drehte sich schicksalergeben auf die andere Seite und zwang sich liegenzubleiben, bis ihn der dämmernde Morgen aus seiner Haft befreite. Als er an Deck kam, verwischte der perlmutterne Dunst des Ostseemorgens die verschwommenen Umrisse aller in Sicht befindlichen Objekte noch mehr. Alle Anzeichen deuteten auf einen schönen Tag, der Wind war mäßig und hatte noch etwas nördlicher gedreht. Bush war schon an Deck - Hornblower wußte das, ehe er selbst nach oben ging, weil er ihn mit seinem Holzbein über seinem Kopf herumstapfen hörte. Als er ihn dann vor sich sah, konnte er nur hoffen, daß man ihm selbst die schlaflose Nacht und die Sorge nicht ebenso deutlich anmerkte wie Bush. Sein Aussehen hatte wenigstens die Wirkung, daß Hornblower sich zusammennahm und seine eigenen Besorgnisse zu verbergen suchte, während er Bushs Morgengruß erwiderte. »Ich hoffe, mit Vickery ist alles in Ordnung, Sir«, sagte Bush. Allein die Tatsache, daß Bush es nach so vielen unter ihm verbrachten Dienstjahren wagte, Hornblower um diese Morgenstunde anzusprechen, war das sicherste Zeichen dafür, wie groß seine Besorgnis war. »Dem fehlt nichts«, sagte Hornblower schroff. »Vickery hilft sich aus jeder Klemme.«
Diese Feststellung war völlig aufrichtig. Noch während Hornblower sie aussprach, wurde ihm klar - es war übrigens nicht das erstemal -, daß seine Sorge und seine Unruhe in diesem Fall wirklich durch keine Tatsachen begründet waren. Er selbst hatte alles getan, was überhaupt möglich war. Wie gründlich hatte er die Karten studiert, wie sorgfältig das Barometer beobachtet - wie sich jetzt erwies, mit bestem Erfolg!
Müßte er in diesem Augenblick eine Wette eingehen, dann würde er auf jeden Fall darauf setzen, daß Vickery in Sicherheit war, er würde ihm sogar mindestens eine Chance von drei zu eins einräumen. Aber all das konnte ihn dennoch nicht von seiner Sorge befreien. Was ihn jetzt absurderweise ruhig machte, war vielmehr der Anblick des beunruhigten Bush.
»Bei diesem Wind kann nicht viel Brandung gewesen sein, Sir«, begann der wieder. »Natürlich nicht.«
Über diesen Punkt hatte er heute nacht mindestens fünfzigmal nachgedacht, jetzt aber versuchte er so zu tun, als sei es höchstens einmal gewesen. Der Dunst hatte sich inzwischen so weit aufgelöst, daß man das Land gerade noch unterscheiden konnte. Die Kanonenboote lagen noch alle an der Sperre verteilt, und man sah ein verspätetes Wachboot daran entlangrudern.
»Unsere beiden Kanonenboote haben günstigen Wind, Sir«, sagte Bush, »eigentlich müßten sie Vickery um diese Zeit schon aufgenommen haben, dann wären sie jetzt auf dem Weg hierher.«
»Ja.«
Bush warf einen prüfenden Blick nach oben, um sicherzustellen, daß die Ausguckposten auf Station waren und auch gut aufpaßten. Die Stelle, wo Mound mit den Kanonenbooten Vickery und seine Männer aufnehmen sollte, lag etwa zwölf Meilen von Pillau an einer Stelle der Nehrung, jener langgestreckten, schmalen Landzunge, die das Haff von der Ostsee trennte. Vickery sollte im Schutz der Dunkelheit an der Nehrung landen, die Boote liegenlassen, die Landzunge überqueren und eine Stunde vor Dämmerung mit Mound zusammentreffen. Die Kanonenboote mit ihrem geringen Tiefgang liefen auf den Untiefen wenig Gefahr, sie konnten ihre Boote an den Strand schicken, um Vickery abzuholen. Die vier Boote Vickerys waren natürlich verloren, aber das war ein billiger Preis für die Zerstörungen, die er inzwischen angerichtet haben mußte. Jedenfalls hoffte Hornblower, daß Vickery auf der Nehrung selbst keinem Widerstand begegnete, zu diesem Zweck hatte er am vergangenen Abend vor Pillau demonstriert, und außerdem kam der Gegner wahrscheinlich gar nicht auf den Gedanken, daß es Vickery einfallen könnte, seine Boote im Stich zu lassen. Aber auch wenn die Nehrung besetzt sein sollte, so konnte die Besatzung bei deren Länge von fünfzehn Meilen doch höchstens aus einer dünnen Kette von Wachen und Zollbeamten bestehen, die Vickery mit seinen hundertfünfzig entschlossenen Männern jederzeit mit Leichtigkeit durchbrach.
Wenn alles planmäßig verlaufen war, dann mußten die Kanonenboote allerdings jeden Augenblick in Sicht kommen.
Die nächsten Minuten brachten also die Entscheidung.
»Geschützfeuer im Haff hätten wir gestern nicht hören können, Sir«, begann Bush von neuem. »Das war bei der herrschenden Windrichtung ausgeschlossen. Sie konnten immerhin im Haff irgendwelchen bewaffneten Fahrzeugen begegnet sein.«
»Diese Möglichkeit bestand allerdings«, sagte Hornblower.
»Segel in Sicht!« rief da der Ausguck im Topp. »Zwei Segel backbord querab! Die Kanonenboote, Sir!«
Vielleicht kamen sie unverrichteterdinge zurück, aber es war sehr unwahrscheinlich, daß sie dann so pünktlich in Sicht gekommen wären. Bush hatte ein breites Grinsen aufgesetzt, alle seine Zweifel waren verflogen.
»Vielleicht könnten Sie ihnen entgegenlaufen, Kapitän Bush«, sagte Hornblower.
Es stand mit seiner Würde als Kommodore nicht in Einklang, wenn er jetzt, da die Schiffe eben einander ansichtig wurden, gleich eine Anfrage heißen ließ, damit man sie auf der Harvey ablas, sobald die Flaggen durch ein Fernrohr zu erkennen waren.
Aber die Nonsuch lief ja ohnehin gute fünf Knoten, das muntere Geplätscher ihrer Bugwelle war deutlich zu hören, und die Harvey machte ebensoviel. Er brauchte also nur noch ein paar kurze Minuten zu warten.
»Harvey heißt ein Signal, Sir«, meldete der Fähnrich. Er las die Flaggen ab und blätterte dann eilig im Signalbuch.
» ›Seeleute an Bord‹ , Sir.«
»Sehr gut. Machen Sie: ›Kommodore an Kommandant: Kommen Sie mit Mr. Vickery zur Meldung an Bord‹ .«
Jetzt hatte das Warten bald ein Ende. Als die beiden Schiffe in Rufweite waren, drehten sie bei. Die Gig der Harvey klatschte zu Wasser und kam stampfend herüber zur Nonsuch. Dann kam, zusammen mit Mound, ein todmüder Vickery über das Seefallreep an Bord. Er war ganz grau im Gesicht, und die dunklen Ringe unter seinen Augen zeigten deutlich, daß er drei Nächte hintereinander kein Auge zugetan hatte. Hornblower bot ihm einen Stuhl an, sobald sie in seiner Kajüte angelangt waren, und er nahm Platz. »Nun?« begann Hornblower. »Ich möchte Sie gern zuerst hören, Vickery.«
»Der Vorstoß nahm einen ausgezeichneten Verlauf, Sir«, begann dieser. Dabei holte er einen Zettel aus der Tasche, auf dem er offenbar Notizen gemacht hatte. »Das Passieren der Sperre am Abend des 15. machte keine Schwierigkeiten, wir haben dabei vom Feind nichts gesehen. In der Morgendämmerung des 16. standen wir vor der Mündung des Pregel, dort nahmen und zerstörten wir den Friedrich aus Elbing, ein Küstenfahrzeug von etwa zweihundert Tonnen, sieben Mann Besatzung, mit einer Ladung Roggen und lebender Schweine. Das Schiff wurde angezündet, die Besatzung im eigenen Boot an Land geschickt. Dann nahmen wir den Blitz auch aus Elbing, etwa hundert Tonnen mit einer Ladung Korn.
Das Schiff wurde gleichfalls verbrannt. Dann die Charlotte von Danzig. Ein vollgetakeltes Schiff von vierhundert Tonnen mit fünfundzwanzig Mann Besatzung und Stückgutladung, bestehend aus Truppenbedarf: Zelten, Tragbahren, Hufeisen und zehntausend Gewehren mit Bajonetten. Auch dieses Schiff wurde verbrannt. Ferner den Ritter zu Pferde eine Pulverschute von etwa siebzig Tonnen, diese sprengten wir in die Luft.«
»Ich glaube, das haben wir gesehen«, sagte Hornblower. »Das war doch der Kutter der Nonsuch?
»Jawohl, Sir, das war an diesem Ende des Haffs alles. Wir liefen dann nach Westen ab und nahmen das Weiße Roß aus Kolberg mit zweihundert Tonnen. Dieses Schiff trug vier Sechspfünder und wollte sich zur Wehr setzen, aber Montgomery enterte über den Bug, da streckten sie die Waffen.
Wir hatten zwei Verwundete. Das Schiff haben wir verbrannt.
Dann kam die...«
»Wieviel waren es zusammen?«
»Eine Bark, Sir, elf Küstensegler und vierundzwanzig Binnenschuten, alle zerstört.«
»Ausgezeichnet«, sagte Hornblower. »Und dann?«
»Dann wurde es schon ziemlich dunkel, Sir. Ich ankerte im Nordteil des Haffs und blieb dort bis gegen Mitternacht liegen.
Dann lief ich zur Landzunge hinüber. Dort trafen wir an Land auf zwei Soldaten, die wir gefangennahmen. Das Überqueren der Nehrung war dann ganz einfach. Wir brannten ein Blaufeuer ab und nahmen mit der Harvey Verbindung auf. Um zwei Uhr wurde mit der Einschiffung begonnen, um drei Uhr, als es eben zu dämmern begann, war ich als letzter an Bord. Ehe ich mich einschiffte, begab ich mich noch einmal zu den Booten zurück und steckte sie in Brand, Sir.«
»Noch besser.«
So hatte also der Feind nicht einmal die Genugtuung, als Entgelt für die furchtbaren Schläge von der Hand Vickerys wenigstens vier englische Kriegsschiffsboote erbeutet zu haben.
Hornblower wandte sich jetzt an Mound. »Ich habe nichts Besonderes zu melden, Sir. Diese Gewässer sind zweifellos sehr flach. Ich konnte jedoch den vereinbarten Treffpunkt ohne Schwierigkeit erreichen. Als ich Mr. Vickery und sein Kommando an Bord hatte, geriet ich auf Grund, da mein Schiff mit dem zusätzlichen Gewicht von fast hundert Mann um etwa einen Fuß tiefer ging. Aber ich kam schnell wieder frei. Ich ließ die Leute von Bord zu Bord laufen, um das Schiff zum Schlingern zu bringen, und setzte dabei alle Segel back. Da waren wir gleich los.«
»Schön.«
Hornblower beobachtete Mounds ausdrucksloses Gesicht und lächelte insgeheim über seine studierte Gleichgültigkeit.
Zwischen all den Untiefen im Dunklen den Weg zu dem vereinbarten Treffpunkt zu finden, war ein seemännisches Meisterstück. Hornblower wußte sehr genau, welches Maß von Seemannschaft zur Durchführung einer solchen Aufgabe gehörte, aber es entsprach nicht der Tradition, überwundene Schwierigkeiten besonders zu betonen. Ein weniger zuverlässiger Offizier hätte die Tatsache, daß er mit seinem Schiff festgekommen war, vielleicht verschwiegen. Es sprach für Mound, daß ihm so etwas nicht in den Sinn kam.
»Ich werde Sie beide auf Grund Ihrer Leistungen der besonderen Aufmerksamkeit der Admiralität empfehlen«, sagte Hornblower und bemühte sich dabei nach Kräften, den hochtrabenden Ton zu unterdrücken, der sich in seiner Rede hartnäckig geltend machen wollte. »Nach meinem Dafürhalten haben Sie sich hervorragend bewährt. Ich brauche natürlich von jedem von Ihnen sofort einen schriftlichen Bericht.«
»Aye, aye, Sir.«
Seit er selbst Kommodore war, bekam Hornblower nachträglich mehr Verständnis für seine eigenen Vorgesetzten von früher, über deren geschwollene Redeweise er sich damals oft genug geärgert hatte. Jetzt gebrauchte er die gleichen hochtrabenden Redensarten - weil ihm das nämlich half, die ausgestandene Angst zu verleugnen.