12. Kapitel

Galonierte Lakaien öffneten zwei weitere Flügeltüren, und dann betraten sie einen riesigen Saal, dessen Decke sich hoch über ihren Köpfen zu einer mächtigen Kuppel wölbte. Die Wände waren ganz aus Marmor und Gold. Eine zahlreiche Menge stand in Gruppen umher, Männer, deren Uniformen in allen Farben des Regenbogens leuchteten, Frauen in Hoftoiletten mit kostbarem Federschmuck und langen Schleppen.

Ordenssterne und Juwelen von unschätzbarem Wert glitzerten und strahlten im Licht unzähliger Kerzen. Hornblower und der Großmarschall traten zu einer Gruppe von Damen und Herren, die fröhlich lachten und in französischer Sprache miteinander scherzten »Ich habe die Ehre vorzustellen...«, begann Kotschubey. Die Vorstellung dauerte ziemlich lange. Da waren die Gräfin X, die Baronin Y, die Herzogin Z, lauter schöne Frauen, keck und lebenslustig die einen, müde und gleichgültig die anderen. Hornblower verbeugte sich ein um das andere Mal, und so oft er sich wieder aufrichtete, schlug ihm der Stern des Bath-Ordens gegen die Brust.

»Sie werden Gräfin Canerine zu Tisch führen, Herr Kapitän«, sagte der Großmarschall, und wieder machte Hornblower eine Verbeugung. Die Gräfin war entschieden die hübscheste von allen, sie sprühte von Jugend und Lebensfreude, unter hochgeschwungenen Brauen blickten ein paar dunkle, feucht schimmernde Augen hervor, in denen verzehrendes Feuer glomm. Ihr Gesicht war ein vollkommenes Oval, ihr Teint glich einer Rosenblüte, und das tiefe Dekollete ihrer Hoftoilette enthüllte die vollendete Schönheit ihrer schneeweißen Brust.

»Als ausländischer Gast von Rang«, fuhr der Großmarschall fort, »rangieren Sie gleich hinter den Gesandten und Ministern.

Den unmittelbaren Vortritt vor Ihnen hat der persische Gesandte, Seine Exzellenz Lorza Khan.« Dabei deutete der Großmarschall auf einen Mann, der einen diamantenbesetzten Turban trug; angesichts der Tatsache, daß Hornblower ihm zu folgen hatte, war es ein angenehmer Glückszufall, daß er in der ganzen Schar der Hofgesellschaft weitaus am leichtesten zu entdecken war. Unter dem Eindruck der ehrenvollen Behandlung, die dieser englische Kapitän augenscheinlich erfuhr, nahm das Interesse der Gäste für ihn, nach ihren Blicken zu urteilen, noch zu. Die Gräfin musterte ihn mit einem nachdenklichen Blick ihrer großen Augen. Aber der Großmarschall unterbrach dieses stumme Spiel, indem er mit der Vorstellung fortfuhr. Die Herren erwiderten Hornblowers Verbeugungen. Als die Vorstellung beendet war, geriet das Gespräch ins Stocken. Um die entstehende Pause auszufüllen, bemerkte der Großmarschall: »Seine Majestät wird die Uniform der Simonouskigarde tragen.«

Hornblower entdeckte Wychwood drüben am anderen Ende des Saales. Er trug seine Bärenmütze unter dem Arm, neben ihm stand Basse. Beide wurden soeben einer anderen Gruppe von Gästen vorgestellt. Sie nickten einander zu, dann wandte sich Hornblower etwas zerstreut zu dem Gespräch seiner eigenen Gruppe zurück. Die Gräfin befragte ihn über sein Schiff, und er versuchte, ihr etwas von der Nonsuch zu erzählen. Durch die Türen am anderen Ende kam jetzt eine Doppelreihe von Soldaten einmarschiert, alles große, junge Männer in Brustharnischen, die wie Silber glänzten - und wahrscheinlich wirklich aus Silber waren - und silbernen Helmen, von denen weiße Federn wallten. »Die Kavaliergarde«, erklärte die Komtesse, »alles junge Leute aus dem Adel.«

Sie fand augenscheinlich großen Gefallen an ihnen. Nun reihten sie sich in Abständen von zwei bis drei Metern entlang der Wände auf, und jeder, der seinen Platz erreicht hatte, stand unbeweglich wie eine silberne Statue. Langsam zog sich die Menge aus der Mitte des Raumes zurück und ließ dort einen freien Raum. Hornblower hätte gern gewußt, wo der Rest seiner Offiziere geblieben war, er blickte sich suchend um und entdeckte eine weitere Menge uniformierter Gestalten auf der Galerie, die sich in Höhe des ersten Stockes auf drei von den vier Seiten des Saales um die Kuppel zu ihren Häupten herumzog. Von dort aus durften wohl die kleineren Leute dem Treiben der Großen hier unten zusehen. Er sah Hurst und Mound an der Balustrade lehnen, und hinter ihnen redete Somers, seinen flachen Hut in der Hand, lebhaft gestikulierend auf ein Dreigespann hübscher Mädchen ein, die sich ganz schwach vom vielen Lachen aneinander festhielten. Der Himmel mochte wissen, in welcher Sprache dieser Somers sich verständlich zu machen suchte, aber wie immer er es anfing, er machte sich offenbar beliebt.

Hornblower war aber vor allem in Sorge wegen Braun. Dabei fiel es ihm unendlich schwer, einen klaren Gedanken zu fassen.

Das kam wohl von der geistigen Abgespanntheit, die ihn nach seiner Rede von vorhin befallen hatte, dazu kam das Stimmengewirr, das bunte Geglitzer um ihn her und nicht zuletzt die schwülen Blicke der jungen Gräfin neben ihm. Er mußte sich eisern zusammenreißen, um bei der Sache zu bleiben, auf die es jetzt ankam. Die Pistole in Brauns Gurt - der Ausdruck finsterer Entschlossenheit in seinem Gesicht - die Galerie dort oben. Verstattete man ihm nur einen Augenblick ungestörten Nachdenkens, dann fügten sich diese Teilbilder zu einem sinnvollen Ganzen.

»Der Prinz von Schweden wird zusammen mit seiner Kaiserlichen Majestät Einzug halten«, hörte er die Gräfin neben sich sagen.

Der Prinz von Schweden! Das war Bernadotte, der Gründer einer neuen Dynastie, der Mann, der den König Gustav vom Thron verdrängt hatte. Und für Gustav hatte Braun sein Leben und sein Vermögen geopfert. Alexander hatte Finnland erobert, und Bernadotte hatte zu seinen Gunsten darauf verzichtet. Braun hatte wahrhaftig allen Grund, diese beiden Männer, Alexander und Bernadotte, grimmiger zu hassen als irgendeinen anderen Menschen auf der Welt. Und der gleiche Braun trug in diesem Augenblick eine Doppelpistole mit gezogenen Läufen und Blättchenzündung bei sich, bei der es keinen Versager gab und die auf fünfzig Meter Fleck schoß. Hornblower musterte die Galerie mit einem Blick. Dort stand er, am entferntesten Ende, unauffällig zwischen zwei Säulen versteckt. Es mußte etwas geschehen, und zwar sofort! Der Großmarschall plauderte gerade leutselig mit einigen Höflingen, aber nun gab es keine Rücksicht. Hornblower ließ die Gräfin einfach stehen und platzte unter Mißachtung aller gesellschaftlichen Formen in seine Unterhaltung. Er hatte nur noch einen Gedanken, einen Wunsch.

»Ganz ausgeschlossen«, sagte der Großmarschall mit einem Blick auf die Uhr. »Seine Kaiserliche Majestät und Seine Königliche Hoheit betreten in dreieinhalb Minuten den Saal.«

»Ich bedaure es selbst unendlich«, sagte Hornblower, »es tut mir außerordentlich leid, aber es ist unvermeidlich - eine Sache von höchster Dringlichkeit, Sie müssen mir gestatten...«

Hornblower tanzte vor Ungeduld von einem Fuß auf den anderen. Sein ganzes Gehaben unterstrich die Dringlichkeit seiner Bitte. Der Großmarschall erwog unterdessen, ob es nicht doch vielleicht besser sei, die unliebsame Unterbrechung einer Hofzeremonie in Kauf zu nehmen, als sich diesem Mann zu versagen, der nach dem Eindruck, den man bei der Unterredung von vorhin gewinnen mußte, wahrscheinlich das Ohr des Zaren besaß. »Verlassen Sie den Saal durch jene Tür dort, Sir«, sagte er schließlich zögernd und deutete dabei nach dem Ausgang, den er meinte. »Aber ich bitte Sie sehr darum, Sir, jedes Aufsehen zu vermeiden, wenn Sie den Saal wieder betreten.«

Hornblower hastete davon, er wand sich eilig durch die Gruppen der Gäste, um zu der bezeichneten Tür zu gelangen, und war gleichzeitig bemüht, niemand lästig zu fallen. Endlich war er am Ziel und schlüpfte hinaus. Mit einem verzweifelt suchenden Blick sah er sich um. Dort links, die breite Treppe mußte zur Galerie führen. Er faßte seinen Säbel an der Scheide, damit er ihm nicht zwischen die Beine kam, und stürmte dann, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, hinauf. Auf der Treppe kamen ihm ein paar Lakaien entgegen, aber sie hatten nur einen flüchtigen Blick für ihn. Auf der Galerie drängten sich die Menschen, allerdings waren die Toiletten nicht so schön, die Uniformen nicht so glänzend wie unten. Ohne Aufenthalt eilte Hornblower weiter dem Ende zu, wo er soeben Braun hatte stehen sehen. Er machte möglichst lange Schritte und bemühte sich doch, so auszusehen, als schlenderte er genießerisch durch die Menge. Da war Mound! Auch er hatte ihn gesehen, das war gut - Hornblower hatte keine Zeit, sich zu erklären, er hätte nicht gewagt, auch nur ein Wort zu verlieren, dafür warf er ihm einen Blick zu, mit dem er sein Anliegen auszudrücken versuchte, so gut er es vermochte. Hoffentlich verstand ihn Mound und folgte ihm. Nun hörte er, wie unten die Flügeltüren aufgerissen wurden; mit einem Schlag verstummte das Gemurmel der Unterhaltung und eine laute, harte Stimme verkündete:

»L'Empereur, l'Imperatrice, le Prince Royal de Suede!«

Da stand Braun zwischen den beiden Säulen und starrte hinunter. Er hatte die Hand an der Hüfte, er zog die Pistole! Es gab nur noch eine einzige Möglichkeit, seine Absicht zu durchkreuzen, ohne Lärm und Aufsehen zu erregen. Hornblower riß seinen Säbel aus der Scheide - es war der Säbel im Wert von hundert Guineen mit dem goldenen Griff, das Geschenk der patriotischen Stiftung, seine Klinge war scharf wie ein Rasiermesser - und führte einen raschen Hieb nach dem Gelenk der Hand, die die Pistole hielt. Der Hieb durchschnitt die Sehnen der getroffenen Hand, ihre Finger öffneten sich kraftlos, und die Pistole schlug dumpf auf den teppichbedeckten Fußboden.

Fassungslos vor Schreck fuhr Braun herum. Er sah zuerst hinunter auf sein verwundetes Handgelenk, aus dem das Blut hervorspritzte, und dann starrte er Hornblower an. Der setzte ihm im gleichen Augenblick die Spitze seines Säbels auf die Brust. Er konnte ihn mit einer einzigen Bewegung durchbohren und töten, und sein Gesichtsausdruck ließ offenbar keinen Zweifel darüber, daß er im Fall der Not keinen Augenblick zögern würde, es auch zu tun. Braun gab nämlich keinen Laut von sich und machte keine Bewegung. Da merkte Hornblower, daß jemand neben ihm stand. Gott sei Dank, das war Mound.

»Kümmern Sie sich weiter um ihn!« flüsterte Hornblower.

»Unterbinden Sie ihm das Handgelenk und schaffen Sie ihn irgendwie von hier weg.« Er warf einen Blick über die Balustrade in den Saal hinunter. Durch die gegenüberliegende Flügeltür hielten die Hoheiten soeben ihren Einzug. Da war Alexander in seiner hellblauen Uniform, der große, dunkle Mann mit der gewaltigen Nase, der neben ihm ging, mußte Bernadotte sein. Dann folgte eine Anzahl Damen, zwei von ihnen hatten Kronen auf dem Haupt, das waren natürlich die Zarin und die Zarinmutter, die übrigen trugen einen Schmuck von Straußenfedern. Braun hätte sich wirklich keinen leichteren Schuß wünschen können. Rings in dem weiten Saal erwies der versammelte Hof seine Ehrenbezeigung, die Herren mit einer tiefen Verbeugung, die Damen mit dem Hofknicks. Als sich alles gleichzeitig wieder erhob, da hatte Hornblower den Eindruck, als wogten alle die Straußenfedern, Juwelen und bunten Uniformen dort unten wie ein Meer kostbarer Blüten.

Aber er riß sich von dem wunderbaren Schauspiel gleich wieder los, steckte seinen Säbel in die Scheide, hob die Pistole auf und barg sie in seinem Hosengurt. Mound war nicht wiederzuerkennen. Seine ewig müde Gleichgültigkeit war wie weggeblasen, und er bewegte sich plötzlich so flink wie eine Katze. Im Nu hatte er Braun, der sich gegen ihn stemmte, mit einem festen Griff seiner langen Arme umfaßt. Hornblower zog sein Taschentuch und drückte es Mound in die Hand, mehr zu helfen hatte er keine Zeit. Er wandte sich ab und eilte über die Galerie zurück, um wieder nach unten zu gelangen. Auch die niedrigen Chargen hier oben hatten ihre Verbeugungen und Hofknickse hinter sich und begannen eben erst, sich umzusehen und die unterbrochene Unterhaltung wiederaufzunehmen. Ein Glück, daß im kritischen Augenblick alles auf die Hoheiten geachtet hatte und kein Mensch für andere Vorgänge Augen und Ohren besaß. Hurst und Somers wollten sich gerade wieder ihren Damen zuwenden, als Hornblower plötzlich vor ihnen stand. »Gehen Sie rasch dort hinten zu Mound«, sagte er, »er braucht Ihre Hilfe.« Dann eilte er die Treppe hinunter, fand sogleich die Tür zum Empfangssaal und drängte sich an den Lakaien vorbei, die dort Wache hielten. Ein Blick zeigte ihm die Gruppe, die er vorhin verlassen hatte, auf einem Umweg schob er sich wieder zu ihr durch und nahm seinen Platz neben der Gräfin ein. Die Hoheiten hielten Garde, wobei sie Persönlichkeiten von Rang und Namen in der üblichen Form durch eine kurze Anrede auszeichneten. Schon nach wenigen Minuten waren sie bei Hornblower angelangt. Der Großmarschall stellte ihn vor, und Hornblower machte der Reihe nach vor jeder der Fürstlichkeiten und vor Bernadotte eine tiefe Verbeugung. Dabei wirbelte ihm von der eben überstandenen Aufregung der Kopf, und die ganze Szene mutete ihn an wie ein böser Traum.

»Wir freuen Uns, Kapitän Hornblower kennenzulernen«, sagte Alexander lächelnd. »Wir haben alle von seinen Taten gehört.«

»Eure Majestät sind zu gütig«, würgte Hornblower hervor. Im nächsten Augenblick waren die Hoheiten weitergegangen, Hornblower wandte sich der Gräfin zu und begegnete ihrem Blick, der jetzt wieder etwas nachdenklich Prüfendes hatte. Die Tatsache, daß ihn der Zar durch einige persönliche Worte ausgezeichnet hatte, bestärkte sie offenbar in ihrer Vermutung, daß er irgendwie besonderen Einfluß besaß. »Werden Sie sich lange in Rußland aufhalten?« fragte sie ihn. Solange ihm die Nachwirkungen seines Erlebnisses noch so stark mitspielten, fiel es ihm unendlich schwer, sich auf irgendeinen Gegenstand zu sammeln. Nur den einen Wunsch hatte er jetzt: sich niedersetzen und ungestört ausruhen zu dürfen. Dabei mußte er nun seinem Verstand sozusagen mit der Peitsche eine höfliche Antwort abtrotzen. Und als ihm gar die Herren der Gesellschaft mit Fragen über die britische Flotte und über das Seewesen im allgemeinen zuzusetzen begannen, da gab er sich zwar alle Mühe, vernünftige Auskünfte zu geben, aber es kam doch nicht mehr viel dabei heraus. Diener rollten lange, mit blitzendem Gold- und Silbergeschirr überladene Anrichtetische herein.

Hornblower zwang sich dazu, seine Umgebung genau zu beobachten, um auf keinen Fall gegen die Hofetikette zu verstoßen. Die Hoheiten hatten an der einen Seite des Saales Platz genommen, die Zarin und der Zar in Armsesseln, die Prinzen und Prinzessinnen auf Stühlen. Alle übrigen Gäste mußten sorgfältig darauf bedacht sein, ihnen bei ihren Bewegungen und Verrichtungen stets zugewandt zu bleiben. Es galt nämlich als verabscheuungswürdiges Verbrechen, den Fürstlichkeiten den Rücken zu kehren. Nun begannen die Leute, sich an den Büfetts zu bedienen, und dabei konnte Hornblower mit dem besten Willen nichts von einer Rangordnung entdecken.

Dort stand auch der persische Gesandte, einen goldenen Teller in der Hand, und kaute mit vollen Backen, also war jedenfalls auch er berechtigt, sich etwas zu holen. Das war wohl das seltsamste Diner, das er je mitgemacht hatte! Alles, mit Ausnahme der Hoheiten, stand herum, und ausgerechnet die Hoheiten rührten offenbar keinen Bissen an.

»Darf ich Ihnen meinen Arm anbieten, Gräfin?« sagte er, als auch die Umstehenden sich nach dem Büfett hin in Bewegung setzten. Alle diese Höflinge verstanden sich anscheinend dank langer Übung auf die Kunst, im Stehen und mit dem Hut unter dem Arm eine Mahlzeit einzunehmen. Die Sache war nämlich alles andere als einfach. Man war immer in Gefahr, über den lose herabhängenden Säbel zu stolpern, und dabei drückte die im Gurt steckende Pistole ganz infernalisch in die Seite. Die Lakaien an den Büfetts verstanden kein Französisch, deshalb kam die Gräfin Hornblower zu Hilfe. »Das hier ist Kaviar«, erklärte sie ihm, »und dies ist Wodka, unser Volksgetränk. Sie werden mir sicher bestätigen, daß das eine wunderbar zum anderen paßt.«

Und ob die Gräfin recht hatte! Das graue, unappetitlich aussehende Zeug schmeckte geradezu köstlich. Dann nippte Hornblower vorsichtig an seinem Wodka, in seinem überreizten Zustand merkte er jedoch gar nicht, wie scharf dieser Schnaps war. Eins war jedenfalls sicher: Kaviar und Wodka paßten herrlich zusammen. Als ihn nun der Alkohol angenehm zu durchwärmen begann, entdeckte er, daß er entsetzlich hungrig war. Auf dem Büfett standen alle erdenklichen Speisen, die einen wurden in Wärmeschüsseln heiß gehalten, die anderen waren kalt. Unter Anleitung der Gräfin ging Hornblower nun diesen Herrlichkeiten kräftig zu Leibe. Da war etwas besonders Gutes, anscheinend gedünstete Pilze, dann gab es Scheiben von geräuchertem Fisch, einen undefinierbaren Salat, mehrere Sorten Käse, Eier in warmer und kalter Zubereitung, eine Art Ragout aus Schweinefleisch. Dazu konnte man alle möglichen Sorten Schnaps trinken. Hornblower aß und trank mit Genuß.

Da kehrten alsbald auch seine Lebensgeister zurück, er beteiligte sich lebhaft an der Unterhaltung und fühlte sich seiner freundlichen Tischdame immer herzlicher verpflichtet. Das war wohl eine sonderbare Art zu dinieren, aber Hornblower gestand sich doch, daß er noch nie so vortreffliche Dinge gekostet hatte.

Von dem vielen Schnaps begann ihm schon der Kopf zu wirbeln, das war ein Gefahrsignal, er kannte es nur zu genau, aber er dachte nicht daran, sich wie sonst darüber zu ärgern. Er hielt nur mitten im Lachen inne, um nicht einen allzu ausgelassenen Eindruck zu machen. Rings um sich hörte er lachende, plaudernde Stimmen, sah er blitzende Lichter. Hatte er sich je in einer Gesellschaft wohler gefühlt? - Der Mann, der vor einer Stunde Brauns Handgelenk durch einen Säbelhieb zerschlagen hatte, war das nicht ein ganz anderer gewesen?

Hornblower stellte seinen wunderbaren Porzellanteller zwischen all die goldenen Platten auf das Büfett zurück und wischte sich mit einer der seidenen Servietten, die dort lagen, den Mund. Er war angenehm gesättigt und hatte das erfreuliche Gefühl, ein klein wenig zu viel gegessen und gerade genug getrunken zu haben. Nun wartete er darauf, daß bald der Kaffee serviert würde, eine Tasse Kaffee war nämlich das einzige, was ihm zur Krönung seines leiblichen Wohlbefindens noch zu wünschen blieb. »Das war ein ausgezeichnetes Diner«, bemerkte er zu der Gräfin gewandt. Auf diesen Satz hin sah ihn die Gräfin mit einer unbeschreiblichen Miene an. Mit hochgezogenen Brauen öffnete sie den Mund, um etwas zu sagen, machte ihn aber gleich wieder zu. Sie lächelte zwar, sah aber gleichzeitig ganz verwirrt und unglücklich drein. Wieder wollte sie sprechen, aber diesmal wurde ihr das Wort dadurch abgeschnitten, daß sich feierlich eine neue Flügeltür öffnete, durch die alsbald zwanzig bis dreißig Diener einmarschierten, um ein doppeltes Spalier nach dem Nebensaal zu bilden. Jetzt bemerkte Hornblower auch, daß die Hoheiten ihre Plätze verlassen hatten und sich wieder zum Zug ordneten. Das Gespräch verebbte, daraus entnahm er, daß ein besonders feierlicher Augenblick gekommen war. Die einzelnen Paare bewegten sich durch den Saal wie Schiffe, die nach ihrem richtigen Platz in der Linie streben. Die Gräfin legte ihm die Hand auf den Arm, er fühlte ihren leisen Druck, offenbar wollte sie ihn führen. Wahrhaftig, da bildete sich ja hinter den Hoheiten eine richtige Prozession! Und dort ging auch schon der persische Gesandte mit einem lächelnden jungen Mädchen am Arm. Hornblower konnte seine Dame eben rechtzeitig heranführen, um hinter ihnen Anschluß zu finden.

Nach ihnen schlossen noch zwei oder drei weitere Paare auf, und schon setzte sich der Zug in Bewegung, während er ständig weiter in die Länge wuchs. Hornblower hielt seine Augen auf den persischen Gesandten gerichtet, der ihm voranging. Sie zogen durch das Spalier der Lakaien und gelangten dann in den nächsten Saal. Hier brachen die Paare wie bei einem Volkstanz abwechselnd nach rechts und links ab. Der persische Gesandte wandte sich nach links, und Hornblower wäre auch ohne die unterstützende Geste des Großmarschalls, der allen Zweifelnden zu Hilfe kam, nach rechts eingeschwenkt. Die Gesellschaft befand sich nun in einem zweiten riesigen Saal. Blitzende Kristallüster, es schienen an die hundert zu sein, hingen von der Decke und verbreiteten strahlende Helle. Eine geradezu endlose Tafel durchzog diesen Saal von einem Ende bis zum anderen - Hornblowers aus dem Gleichgewicht geratener Phantasie schien sie meilenlang zu sein. Sie war mit Goldgeschirr und blitzendem Kristall gedeckt und trug einen wundervollen Blumenschmuck.

Diese Tafel hatte die Form eines T mit sehr kurzem Querbalken.

Dort oben hatten die Hoheiten bereits Platz genommen. Von einem Ende der Tafel bis zum anderen stand hinter jedem Stuhl ein Diener in weißer Perücke. Da ging Hornblower ein Licht auf. Das richtige Diner sollte also jetzt erst beginnen. Was man drüben im Kuppelsaal geboten hatte, war nur ein zusätzlicher einleitender Imbiß gewesen. daß er das nicht gleich erfaßt hatte!

Hornblower war ganz in der Stimmung, sich über seine eigene Begriffsstutzigkeit lustig zu machen, gleichzeitig aber stöhnte er auf, wenn er dachte, daß er sich nun in seinem übersättigten Zustand noch durch das ganze kaiserliche Diner hindurchessen mußte.

Außer den Hoheiten blieben die Herren noch hinter ihren Stühlen stehen, während die Damen Platz nahmen. Der persische Gesandte gegenüber beugte sich liebenswürdig zu seiner jungen Tischdame herab, dabei nickte die Aigrette an seinem Turban und blitzten seine Diamanten. Als die letzte Dame ihren Platz eingenommen hatte, setzten sich alle Herren zugleich - das klappte nicht ganz, aber doch beinahe so gut wie ein Präsentiergriff der englischen Seesoldaten. Sofort erhob sich eine Woge allgemeiner Unterhaltung, einen Augenblick später wurde Hornblower ein goldener Suppenteller vor die Nase gestellt und eine goldene Terrine angeboten, die eine rote Suppe enthielt. Unwillkürlich blickte er die Tafel entlang. Wahrhaftig!

Hier wurden alle Gäste zu gleicher Zeit bedient - es mußten also mindestens zweihundert Diener servieren.

»Dort sitzt der französische Botschafter, Monsieur de Narbonne«, sagte die Gräfin und deutete mit den Augen auf einen hübschen jungen Mann schräg gegenüber, der zwei Plätze über dem persischen Gesandten saß. »Natürlich sind Sie ihm vom Großmarschall nicht vorgestellt worden. Dort ist der österreichische Botschafter, dann kommen die Gesandten von Sachsen und Dänemark, alles offiziell Ihre Gegner. Der spanische Botschafter kommt von Joseph Bonaparte, nicht von der Partisanenregierung, die England anerkennt, also konnten Sie auch ihm nicht gut vorgestellt werden. Ich glaube, außer uns Russen gibt es hier kaum einen Menschen, dem man Sie vorstellen könnte, ohne einen Fauxpas zu begehen.«

Vor Hornblower stand ein hoher Kelch mit einem blumigen, kühlen, goldenen Wein. Er nahm einen Schluck.

»Ich habe heute die Erfahrung gemacht«, sagte er, »das es nirgendwo in der Welt reizendere Menschen gibt als die Russen, und daß vor allem die russischen Frauen an Schönheit und bezaubernder Liebenswürdigkeit nicht ihresgleichen haben.«

Da traf ihn ein dunkler Blick aus den schwülen Augen der Gräfin, der ihm das Gehirn im Schädel kribbeln machte. Der goldene Suppenteller wurde weggezogen und durch einen goldenen Fleischteller ersetzt. In ein anderes Glas vor ihm wurde anderer Wein geschenkt - Champagner. Ja, genau wie der, so schienen heute abend die Gedanken in seinem Kopf zu moussieren! Sein Diener sprach ihn auf russisch an, offenbar stellte er ihm verschiedene Gerichte zur Wahl, und die Gräfin entschied für ihn, ohne ihn zu fragen.

»Da dies Ihr erster Besuch in Rußland ist«, erklärte sie, »bin ich sicher, daß Sie unsere Wolgaforellen noch nicht gekostet haben.«

Während sie sprach, nahm sie gerade selbst einen solchen Fisch von einer goldenen Platte, Hornblowers Diener reichte gleichzeitig auch ihm eine andere Platte.

»Ein Goldservice sieht zwar wunderschön aus«, sagte die Gräfin mit betrübter Miene, »aber leider werden die Speisen, die man davon ißt, sofort kalt. Ich benutze das meinige zu Hause nur, wenn ich Seine Majestät zu Gast bei mir habe. Da dies in den meisten Häusern so ist, glaube ich, daß Seine Majestät kaum je warmes Essen erhält.«

Das goldene Besteck, mit dem Hornblower seinen Fisch zerteilte, lag schwer in der Hand und kratzte eigenartig auf dem goldenen Teller. »Sie haben ein warmes Herz, Madame«, sagte er. »Ja«, entgegnete die Gräfin mit vielsagender Betonung.

Hornblower begann wieder der Kopf zu wirbeln, der Champagner mit seiner köstlichen Frische schien ihm wie geschaffen, diese Gefahr zu bannen. Er trank in durstigen Zügen.

Nach der Forelle kamen ein paar fette, kleine Vögelchen auf Toast, die förmlich auf der Zunge zergingen. Der Champagner wurde von einem anderen Wein abgelöst. Dann gab es irgendein Wildbret und danach ein Steak, das wohl ursprünglich von einem Hammel stammte, aber auf den Pegasusschwingen des Knoblauchs zu einer Vollendung gediehen war, die jeder banalen Bezeichnung Hohn sprach. Irgendwo in dieser langen Reihe erlesener Dinge tauchte ein rotes Wassereis auf, das dritte oder vierte, das Hornblower in seinem Leben zu kosten bekam.

»Ausländische Kinkerlitzchen«, sagte er sich, dabei schmeckte es ihm doch ausgezeichnet, und er hegte auch keinerlei Vorurteil gegen die fremde Küche. Vielleicht war ihm der Ausdruck ›Ausländische Kinkerlitzchen‹ wirklich nur deshalb in den Sinn gekommen, weil er an Bush denken mußte. Der würde bestimmt so etwas sagen, wenn er dieses Diner mitmachte. Oder war er etwa gar schon ein bißchen betrunken? - Die Frage war das natürliche Ergebnis seiner ständigen Selbstbeobachtung, und er erschrak so heftig über diese Möglichkeit wie ein Mann, der im Dunkeln unversehens gegen einen Laternenpfahl rennt. Hier, wo er England vertrat, durfte er sich auf keinen Fall betrinken, außerdem drohten ihm zweifellos nicht zu unterschätzende persönliche Gefahren, und er wäre ein Narr, setzte er in dieser Lage seine Denk- und Handlungsfähigkeit aufs Spiel. Hatte er nicht selbst einen Attentäter mit in den Palast gebracht? Wenn von dieser Geschichte etwas durchsickerte, konnte es ihm übel ergehen, vor allem, wenn der Zar erfuhr, daß die gezogene Pistole dieses Attentäters sein, Hornblowers, privates Eigentum war. Sein Kopf wurde noch klarer, als ihm einfiel, daß er seine jungen Offiziere ganz vergessen hatte. - Als er sie vorhin verließ, hatten sie die Aufgabe, den verwundeten Attentäter unauffällig beiseite zu schaffen, er konnte sich nicht entfernt denken, wie sie das machten.

Die Gräfin neben ihm trat ihm unter dem Tisch leicht auf den Fuß, da durchzuckte es ihn wie ein feiner elektrischer Schlag, und seine ganze, mühsam gewonnene Fassung drohte sich wieder zu verflüchtigen. Er antwortete ihr mit einem glücklichen Lächeln. Sie aber sah ihn unter halb gesenkten Lidern lange an und wandte sich dann ab, um sich mit ihrem Nachbarn zur Rechten zu beschäftigen. Das war ein taktvoller Wink für Hornblower, sich etwas mit der Baronesse zu seiner Linken zu befassen, mit der er bis dahin noch kaum ein Wort gesprochen hatte. Er stürzte sich sogleich in ein fieberhaftes Gespräch mit ihr, an dem auch der General in der fremdartigen Dragoneruniform teilnahm, der an ihrer anderen Seite saß. Er fragte ihn nach dem Admiral Keats, den er im Jahre 1807 einmal kennengelernt hatte. Wieder bot der Diener eine neue Platte. Das behaarte Handgelenk des Mannes, das beim Servieren zwischen Manschette und weißem Handschuh zum Vorschein kam, trug Flecke, die offenbar von Flohstichen herrührten. Hornblower erinnerte sich an eine Stelle in einem der Bücher über die Reiche des Nordens, die er an Bord studiert hatte. Da hieß es, das Ungeziefer würde um so schlimmer, je weiter man nach Osten käme. Der polnische Floh sei sehr lästig, der russische völlig unerträglich. Wenn er wirklich schlimmer war als der spanische, mit dem Hornblower enge Bekanntschaft gemacht hatte, dann mußte es sich allerdings um eine ganz besonders gut entwickelte Rasse handeln.

In diesem Palast gab es bestimmt Hunderte, nein Tausende von Bediensteten, und Hornblower konnte sich gut denken, wie eng aufeinander diese Leute hausten. Er hatte nicht umsonst zwanzig Jahre lang auf menschenüberfüllten Schiffen einen unablässigen Kampf gegen das Ungeziefer geführt und wußte genau, wie schwer es war, seiner Herr zu werden. Während ein Teil seines geistigen Ich mit dem Dragonergeneral ein Gespräch über die Grundsätze führte, nach denen man in der englischen Marine die Auslese unter den Offizieren traf und ihr Rangdienstalter festsetzte, verweilte er mit dem anderen bei dem flohzerstochenen Diener und sagte sich, daß er es wesentlich vorziehen würde, nicht von einem solchen Mann bedient zu werden. Allmählich verebbte sein Gespräch, und er wandte sich wieder zur Gräfin. »Interessiert sich Monsieur etwa besonders für Bilder?« fragte sie. »Natürlich«, gab Hornblower höflich zur Antwort.

»In diesem Palast befindet sich eine ganz hervorragende Gemäldegalerie. Haben Sie sie schon gesehen?«

»Nein, ich habe noch nicht das Vergnügen gehabt.«

»Wenn sich die Hoheiten zurückgezogen haben, kann ich sie Ihnen zeigen. Das heißt, wenn Sie nicht vorziehen, sich am Kartenspiel zu beteiligen.«

»O nein, ich sehe viel lieber die Bilder an«, sagte Hornblower und fand, daß sein Lachen wenigstens für die eigenen Ohren etwas zu laut klang.

»Erwarten Sie mich also bei der Tür dort am anderen Ende des Saales, wenn die Hoheiten gegangen sind. Ich werde Sie führen.«

»Das ist reizend von Ihnen, Madame.«

Am Kopfende des Tisches wurden Trinksprüche gewechselt.

Zuerst trank man auf den Prinzen von Schweden, dazu mußte sich alles erheben. Und nachher konnte kein richtiges Gespräch mehr in Gang kommen, weil die Folge der Trinksprüche immer neue Unterbrechungen verursachte. Ein riesiger, mit einer gewaltigen Stimme begabter Hofbeamter, der hinter dem Sessel des Zaren stand, kündete die einzelnen Redner an - Stentor in der Gestalt des Herakles, dachte Hornblower, und freute sich über seine klassische Ader. Zu den Trinksprüchen wurde musiziert, nicht durch ein Orchester, sondern durch einen Männerchor, der a capella sang und anscheinend aus Hunderten von Stimmen bestand, die den ganzen, riesigen Raum dröhnend erfüllten. Hornblower hörte mit der leisen, aber wachsenden Gereiztheit zu, die sich bei solchen Gelegenheiten des völlig Unmusikalischen bemächtigt. Es war eine Erlösung für ihn, als die Musik endlich aufhörte und die ganze Tischgesellschaft sich wieder erhob, während sich die Hoheiten durch eine Tür nahe dem Kopfende der Tafel zurückzogen. Kaum hatte sich diese Tür hinter ihnen geschlossen, da verließen auch die Damen, geführt von Madame Kotschubey, durch die entgegengesetzte Tür den Saal. »A bientot«, lächelte die Gräfin, als sie ihn verließ.

Die Männer scharten sich in Gruppen an der Tafel zusammen, während die Diener mit Kaffee und Likören hereingeeilt kamen.

Wychwood, die Bärenmütze immer noch unter dem Arm, kam zu Hornblower herum. Sein Gesicht war röter als je, und die Augen standen ihm womöglich noch weiter aus dem Kopf als sonst.

»Wenn Rußland kämpft, gehen die Schweden mit«, sagte Wychwood mit heiserer Flüsterstimme. »Ich habe das unmittelbar von Basse, der den ganzen Tag bei Bernadotte war.«

Dann ging er weiter, und Hornblower hörte, wie er etwas höher oben am Tisch eine Gruppe uniformierter Herren mit seinem fabelhaften Französisch beglückte. Im Saal herrschte eine unerträgliche Hitze, die wohl von der Unzahl brennender Kerzen herrührte. Schon begannen einzelne Herren, sich durch die Tür zu entfernen, die vorhin auch die Damen benutzt hatten.

Hornblower leerte seine Tasse, erhob sich und nahm den Dreimaster von den Knien wieder unter den Arm. Der Saal, den er nun betrat, mußte das Gegenstück zu dem anderen sein, in dem der kaiserliche Empfang stattgefunden hatte, er besaß nämlich die gleiche Kuppel und hatte auch die gleichen Abmessungen. Hornblower entsann sich der beiden Kuppeln, die er gesehen hatte, als der Wagen beim Palast vorfuhr. Aber hier standen überall Stühle und Sofas und Tische. An einem der Tische saß bereits eine Gruppe bejahrter Damen beim Kartenspiel, und zwei ältere Paare spielten miteinander Puff.

Am gegenüberliegenden Ende erblickte er sofort die Gräfin. Sie saß mit ausgebreiteter Schleppe auf einer Couch, hielt ihre Kaffeetasse in der Hand und plauderte lebhaft mit einer anderen Dame. Jeder Zug ihres feinen Gesichts drückte mädchenhafte Unschuld aus. Nach der großen Zahl derer zu urteilen, die sich hier bereits eingefunden hatten, traf in diesem Saal offenbar die ganze Hofgesellschaft zusammen. Wie es schien, durften jetzt auch die paar hundert anderen Gäste hier erscheinen und sich unter die ›Spitzen der Gesellschaft‹ mischen, die dem Empfang von der Galerie aus hatten zusehen müssen und dann auch getrennt und etwas weniger üppig gespeist hatten. Da kam der junge Mound auf ihn zugeschlendert. In seiner mageren Schlaksigkeit sah er wirklich aus wie ein großes Fohlen. »Wir haben ihn oben in einem Nebenzimmer, Sir«, meldete er. »Er wurde uns vom Blutverlust ohnmächtig, und wir mußten ihm den Arm abbinden, um die Blutung zum Stehen zu bringen.

Zum Verbinden haben wir Somers' Hemd benutzt. Somers und Mr. Hurst bewachen ihn jetzt.«

»Hat irgend jemand davon erfahren?«

»Nein, Sir, wir haben ihn ungesehen in den Raum geschafft.

Dann habe ich ein paar Glas Schnaps über seinen Rock geschüttet, jetzt riecht er so, daß ihn jeder für betrunken hält.«

Mound war offenbar gut zu gebrauchen, wenn es auf Findigkeit und rasches Handeln ankam, das hatte Hornblower schon immer vermutet. »Sehr gut.«

»Je eher wir ihn hier wegbringen, desto besser ist es, Sir«, sagte Mound mit der Schüchternheit im Ton, die einem jungen Offizier wohl ansteht, wenn er einem älteren Vorschläge macht.

»Sie haben ganz recht«, sagte Hornblower, »nur...«

Hornblower mußte wieder blitzschnell überlegen. Auf keinen Fall war es möglich, jetzt gleich, unmittelbar nach dem Diner, zu verschwinden. Das wäre höchst unhöflich gewesen, und außerdem saß dort drüben die Komtesse, aller Wahrscheinlichkeit nach hatte sie die Szene genau beobachtet.

Machten sie sich jetzt gleich nach dieser Unterredung davon, und brach er obendrein seine Verabredung mit ihr, dann schöpfte sie sicher Verdacht. Abgesehen davon aber hatte er dann mit der Rachsucht einer Frau zu rechnen, die sich mißachtet fühlte. Es war also ausgeschlossen, sich sofort zu entfernen. »Wir müssen noch mindestens eine Stunde bleiben«, sagte er, »das verlangt der Anstand von uns. Gehen Sie zurück, und suchen Sie die Festung noch so lange zu halten.«

»Aye, aye, Sir.«

Aus jahrelanger Gewohnheit wollte Mound bei diesen Worten auf militärische Art zusammenfahren, gebot sich jedoch im letzten Augenblick Einhalt - wiederum ein Beweis für seine Geistesgegenwart. Er nickte nur mit dem Kopf und ging dann weg, als hätten sie etwa über das Wetter gesprochen.

Hornblower aber begab sich auf etwas trägen Beinen zur Gräfin.

Sie lächelte ihm entgegen.

»Prinzessin«, sagte sie, »haben Sie Commander Hornblower schon kennengelernt?... Prinzessin von Stolp.«

Hornblower verbeugte sich. Die Prinzessin war eine ältere Dame, der man die märchenhafte Schönheit ihrer Jugend noch deutlich ansehen konnte. »Der Kommodore«, fuhr die Gräfin fort, »hat den Wunsch ausgedrückt, die Gemäldegalerie zu sehen. Wollen Sie mitkommen, Prinzessin?«

»Ach nein, danke«, sagte die Prinzessin. »Ich fürchte, ich bin für Gemäldegalerien zu alt. Aber geht doch, Kinder, geht ruhig ohne mich!« Aber die Gräfin erhob Einspruch: »Ich möchte Sie nicht gern allein hier lassen.«

»Ich darf mich sogar in meinem Alter noch rühmen, daß ich nie lange allein bleibe, Gräfin. Laßt mich also ruhig hier zurück.

Viel Vergnügen, Kinder.« Hornblower verbeugte sich wieder, dann nahm die Gräfin seinen Arm, und sie verließen langsam den Saal. Während die Diener beiseite traten, um ihnen den Weg frei zu geben, drückte sie seinen Arm heftig an sich. »Die italienischen Bilder des Cinquecento sind am anderen Ende der Galerie«, sagte die Gräfin, als sie auf den breiten Korridor hinaustraten, »oder wollen Sie lieber die modernen Maler zuerst sehen?«

»Ganz wie Madame wünschen«, sagte Hornblower.

Wenn man erst die Repräsentationsräume des Palastes durch irgendeine Tür verlassen hatte, dann glaubte man in einem Kaninchenbau zu sein. Da gab es enge Gänge, unzählige Treppen und endlose Zimmerfluchten. Das Gemach, in das ihn die Gräfin führte, lag im ersten Stock. Als sie den kostbar eingerichteten Salon betraten, verschwand ein verschlafenes Dienstmädchen, das sie offenbar dort erwartet hatte, im Nebenzimmer. Und fünf Minuten später rief ihn die Gräfin in das gleiche Nebenzimmer.