13. Kapitel
Stöhnend drehte sich Hornblower in seiner Koje auf die andere Seite, das bißchen Anstrengung genügte, um wieder die verdammten Stiche in den Schläfen hervorzurufen, es half nichts, daß er sich bei jeder Bewegung möglichst vorsah. Er war ein Narr gewesen, so viel zu trinken - seit einem halben Dutzend Jahren hatte er nun zum erstenmal wieder diese dummen Kopfschmerzen. Und doch! War es etwa zu vermeiden gewesen? War denn alles andere zu vermeiden gewesen? Er konnte sich jetzt noch keine anderen Möglichkeiten vorstellen, nachdem ihn die Ereignisse einmal in ihren Strudel hineingezogen hatten. Nun rief er mit erhobener Stimme nach Brown - oh, wie das weh tat! Außerdem klang es wie ein heiseres Gekrächze. Er hörte, wie der Posten an der Tür seinen Ruf weitergab, dann richtete er sich mit unsäglicher Anstrengung auf und schlug die Beine über den Rand der Koje.
Brown sollte ihn wenigstens nicht liegend finden. »Bring mir etwas Kaffee!« sagte er, als Brown eintrat. »Aye, aye, Sir.«
Hornblower blieb auf dem Kojenrand sitzen. Oben an Deck schien Hurst gerade einem pflichtvergessenen Fähnrich ins Gewissen zu reden, jedenfalls drang seine heisere Stimme plärrend durch das Skylight zu ihm herunter. »Sie sind mir ein schönes Flittchen - hallo!« hörte man Hurst schimpfen.
»Schauen Sie sich einmal dieses Messing an! Nennen Sie das geputzt? Wo haben Sie eigentlich ihre Augen? Was hat Ihre Division die ganze letzte Stunde über getrieben? Antwort? Arme Navy, was wird aus dir, wenn man junge Maulaffen zu Vorgesetzten macht, die sich noch mit dem Marlspieker in der Nase bohren! Sie nennen sich einen Königlichen Seeoffizier?
Wissen Sie, was Sie sind? Ein Wintertag sind Sie: kurz, finster und schmutzig!« Hornblower nahm den Kaffee entgegen, den ihm Brown hereinbrachte. »Meine Empfehlung an Mr. Hurst«, krächzte er, »er möchte gütigst über meinem Skylight keinen solchen Krach vollführen.«
»Aye, aye, Sir.«
Es verschaffte ihm heute die erste Genugtuung, zu hören, wie Hurst seine zornigen Entladungen plötzlich abbrach. Er nippte mit einigem Behagen an dem kochendheißen Kaffee. Kein Wunder, daß Hurst schlechter Laune war, was der gestern erlebt hatte, konnte den stärksten Mann mitnehmen. Hornblower mußte daran denken, wie Hurst und Mound den bewußtlosen und nach Schnaps stinkenden Braun am Tor des Palastes in den Wagen gehoben hatten. Hurst war völlig nüchtern gewesen, aber die nicht gerade alltägliche Aufgabe, im Palast des Zaren einen geheimgehaltenen Attentäter unter Bewachung zu halten, war ihm offenbar doch auf die Nerven gegangen. Als Brown wieder erschien, gab er ihm die Tasse zurück, um sie ein zweites Mal füllen zu lassen. Während er darauf wartete, zog er sich das Nachthemd über den Kopf und legte es auf die Koje. Da sah er plötzlich einen Floh in hohem Bogen aus dem Ärmel springen.
Angewidert blickte er an sich herunter, richtig, sein glatter, runder Bauch war ganz mit Flohstichen bedeckt, daß er aussah, als hätte er die Pocken. Das war wirklich ein schlagender Beweis für den himmelweiten Unterschied zwischen einem Zarenpalast und einem Linienschiff Seiner Britischen Majestät.
Als Brown mit der zweiten Tasse Kaffee zurückkam, fluchte Hornblower immer noch über den allerhöchsten kaiserlichen Schmutz und über die lästige Aufgabe, sich von dem Ungeziefer, gegen das er so besonders empfindlich war, wieder zu befreien. »Hör mit dem blödsinnigen Grinsen auf«, fuhr er Brown an, »sonst fliegst du ins Loch! Dann bin ich gespannt, ob du dort auch noch grinst.« Brown grinste gar nicht, alles, was man gegen seinen Gesichtsausdruck einwenden konnte, war, daß er allzu betont nicht grinste. Was Hornblower so an ihm reizte, war die Überzeugung, daß dieser Brown jetzt die väterlich überlegene Gemütsverfassung genoß, die sich bei einem Mann mit freiem Kopf jedesmal einstellte, wenn er mit einem von Kopfschmerzen gequälten Mitmenschen zu tun hat.
Das übliche Sturzbad stellte Hornblowers Gleichgewicht einigermaßen wieder her, er zog frische Unterwäsche an, befahl Brown, seine ganzen Sachen zu desinfizieren, und ging dann an Deck. Der erste, der ihm dort begegnete, war Wychwood. Der hatte ganz trübe Augen und litt offenbar noch viel schlimmer unter Kopfschmerzen als er selbst. Aber die scharfe Morgenluft dieser russischen Breiten wirkte herrlich erfrischend und belebend. Die gewöhnliche Frühroutine des Schiffsdienstes, der Anblick der Männer, die reihenweise mit Sand und Steinen das Deck scheuerten, das lustige Plätschern des Wassers auf den Decksplanken, alles das brachte Behagen und weckte zugleich die Lebensgeister.
»Ein Boot hält auf uns zu, Sir«, meldete ein Fähnrich dem wachhabenden Offizier.
Es war die gleiche Pinaß, die sie gestern an Land gebracht hatte. Sie brachte diesmal einen Seeoffizier mit einem französisch geschriebenen Brief:
Seine Exzellenz der Minister der Kaiserlichen Marine erlaubt sich, dem Kommodore Sir Hornblower seine ergebensten Empfehlungen zu übermitteln.
Seine Exzellenz hat angeordnet, daß ein Wasserfahrzeug heute vormittag elf Uhr längsseit der Nonsuch liegen soll Ein vornehmer Standesherr, Monsieur le Comte du Nord, hat den Wunsch zum Ausdruck gebracht, eines der Schiffe Seiner Britischen Majestät zu besichtigen. Seine Exzellenz bittet daher, heute vormittag zehn Uhr zusammen mit dem Comte du Nord die Gastfreundschaft Sir Hornblowers durch einen Besuch auf der Nonsuch in Anspruch nehmen zu dürfen.
Hornblower zeigte Wychwood diesen Brief, und der bestätigte sofort seinen Verdacht.
»Das ist natürlich Alexander«, sagte er. »Er führte schon als Zarewitsch den Namen Comte du Nord, wenn er auf dem Kontinent reiste. Aber er kommt inkognito, deshalb entfällt das Zeremoniell für regierende Fürsten.«
»Ja«, sagte Hornblower trocken. Es wurmte ihn ein bißchen, daß ihm dieser Landsoldat dienstliche Ratschläge gab, um die er nicht gefragt war. »Aber ein Kaiserlicher Marineminister steht im Rang unseres Ersten Lords der Admiralität, das bedeutet neunzehn Schuß Salut und alles, was sonst dazu gehört.
Fähnrich der Wache! Bestellen Sie dem Kommandanten meine Empfehlung, ich wäre ihm besonders verbunden, wenn er die Güte hätte, an Deck zu kommen.«
Bush pfiff leise durch die Zähne, als er die Nachricht hörte, dann flog sein Blick sogleich über Deck und Takelage. Sein Schiff sollte für den kaiserlichen Besuch in tadellosem Zustand sein.
»Wie können wir aber Wasser nehmen?« fragte er schließlich ganz kleinlaut, »und gleichzeitig für den Empfang des Zaren gerüstet sein? Was muß er von uns denken? Könnte nicht der Verband zuerst Wasser nehmen?«
»Der Zar ist ein vernünftig denkender Mensch«, sagte Hornblower heiter. »Wir zeigen ihm die Mannschaft beim Dienst. Er kann zwar das Kreuzstag nicht vom Außenklüverbaum unterscheiden, aber er weiß es sicher zu würdigen, wenn wir ihm tüchtige Seeleute bei der Arbeit vorführen. Fangen wir also ruhig mit dem Wassernehmen an, während er an Bord ist.«
»Und das Essen?« fragte Bush. »Wir müssen ihm doch etwas anbieten, Sir.« Hornblower mußte über die Sorgen seines Kommandanten lachen. »Wir werden ihm schon etwas anbieten.«
Es war für Hornblowers eigenwilliges Wesen bezeichnend, daß seine Laune um so besser wurde, je größer in den Augen der anderen die Schwierigkeiten waren. Der einzige Mensch, der es fertigbrachte, Hornblower die Laune zu verderben, war Hornblower selbst. Das Kopfweh war jetzt vollständig verflogen, er konnte schon wieder lächeln, wenn er an den anstrengenden Vormittag dachte, der ihm bevorstand. Er frühstückte mit großem Appetit, dann legte er wieder seine Gala an und ging an Deck. Dort sah er Bush immer noch geschäftig umhereilen, die ganze Besatzung stak bereits in sauberen Blusen und Hosen, an Steuerbord war eine Fallreepstreppe mit schneeweißen Strecktauen ausgebracht, die Seesoldaten hatten ihr Lederzeug frisch geweißt und blitzblank poliert, und die Hängematten waren in mathematisch ausgerichteten Reihen verstaut.
Erst als der Fähnrich der Wache einen herannahenden Kutter meldete, merkte Hornblower, daß er doch ein bißchen aufgeregt war. Als er die Meldung hörte, stockte ihm ein wenig der Atem.
Er mußte daran denken, daß die nächsten paar Stunden den Ablauf des Weltgeschehens vielleicht auf Jahre hinaus entscheidend beeinflussen konnten.
Die Pfiffe der Bootsmannsmaaten schrillten durch das Schiff, die Besatzung trat in Musterungsdivisionen an, und die Offiziere standen mit Epauletten und Säbeln vor der Front. Hornblower stand an der Querreling seines Achterdecks und sah auf seine Männer hinunter. Britische Seeleute in Paradeaufstellung konnten natürlich, was Straffheit und Einheitlichkeit anbetraf, niemals die preußische Garde ausstechen. Wollte man sie nach deren Beispiel erziehen, dann mußte man ihnen genau die Eigenschaften austreiben, die ihnen ihren hohen Wert verliehen.
Allein diese Reihen kluger, selbstbewußter Gesichter, die hier standen, mußten auch so, wie sie waren, auf jeden denkenden Menschen einen nachhaltigen Eindruck machen. »Leg aus!« kommandierte Bush.
Wieder trillerten die Pfeifen, dann enterten die Toppsgasten wie ein regelmäßiger, bergauffließender Strom die Wanten empor, sie stoppten auch nicht ab, als es nach unten hängend über die Püttings ging, und stiegen, alles geübte Athleten, Hand über Hand weiter in die Bramwanten. Zuletzt liefen sie wie Seiltänzer an den Handpferden auf die Rahen hinaus und standen dort unbeweglich, sobald sie ihren Platz erreicht hatten.
Als Hornblower dieses Schauspiel beobachtete, erlebte er einen Widerstreit der verschiedensten Empfindungen. Im ersten Augenblick kam es ihm unwürdig vor, daß seine Männer, die Auslese der englischen Marine, hier zur Belustigung eines asiatischen Despoten wie Tanzbären ihre Kunststückchen vorführen mußten. Als aber dann jeder Mann auf seinem Platz stand, als wäre ein vom Wind hochgewirbelter Haufen dürrer Blätter mitten auf der Luftreise in vollendeter Ordnung erstarrt, da stellte die ästhetische Befriedigung über diesen Anblick alle Einwände eines empfindlichen Selbstbewußtseins in den Schatten. Hoffentlich war Alexander vernünftig genug, um angesichts dieser Vorführung die Überzeugung zu gewinnen, daß man von solchen Männern in jeder Lage alles verlangen konnte, daß sie in dunkler Nacht, bei heulendem Sturm und tobender See, wenn das Bugspriet gen Himmel ragte und die Rahnocken sich tief dem unsichtbaren Gischt entgegenneigten, dort oben genauso sicher und unerschrocken ihre Pflicht taten wie in diesem Augenblick. Der Bootsmann spähte verstohlen über die Steuerbordreling und gab nun mit dem Kopf ein kaum merkliches Zeichen. Eine Anzahl Offiziere kam hintereinander die Fallreepstreppe herauf. Die Bootsmannsmaaten setzten ihre Pfeifen an die Lippen, der Tambourmajor der Seesoldaten schnalzte im Stillgestanden mit den Fingern der an der Hosennaht liegenden Hand, worauf die sechs Trommler den ersten dröhnenden Wirbel schlugen.
»Präsentiert das Gewehr!« kommandierte Hauptmann Norman, und die fünfzig Gewehre der Seesoldaten mit fünfzig aufgepflanzten Bajonetten wurden von fünfzig scharlachroten Schultern gerissen und kamen genau vor fünfzig Reihen blankgeputzter Knöpfe zu stehen, während die gezogenen Säbel ihrer drei Offiziere sich in graziösem Bogen zum militärischen Gruß senkten. Alexander betrat, gefolgt von zwei Adjutanten, langsamen Schrittes das Deck; neben ihm ging der Marineminister, dem diese Begrüßung offiziell zugedacht war.
Er grüßte mit der Hand am Hut, während die Pfeifen mit einem letzten Schnepper erstarben, die Trommeln ihren vierten Wirbel beendeten, während vom Vorschiff her der erste Schuß des Saluts donnerte und die Pfeifer und Trommler der Seesoldaten ihr ›Eichenfest sind unsere Schiffe‹ spielten. Hornblower trat grüßend vor.
»Guten Morgen, Kommodore«, sagte der Marineminister.
»Gestatten Sie mir, daß ich Sie Monsieur le Comte du Nord vorstelle.« Wieder grüßte Hornblower und bemühte sich dabei nach Kräften, gleichgültig dreinzusehen, obwohl er sich, angesichts dieser seltsamen Vorliebe Alexanders für das Inkognito, zwingen mußte, ein Lächeln zu unterdrücken.
»Guten Morgen, Kommodore«, sagte Alexander. Hornblower hörte überrascht, daß er einigermaßen englisch sprach.
»Ich hoffe, unser kurzer Besuch bereitet Ihnen nicht zu viele Ungelegenheiten.«
»Jedenfalls stehen sie in keinem Verhältnis zu der Ehre, die Sie damit meinem Schiff erweisen, Sir«, sagte Hornblower und war sich dabei im unklaren, ob die Anrede ›Sir‹ für einen Zaren inkognito wohl die richtige sei. »Bitte, stellen Sie Ihre Offiziere vor«, sagte Alexander. Hornblower ließ einen nach dem anderen vortreten, sie grüßten und verbeugten sich so steif und gezwungen, wie es von jungen Offizieren, die sich dem Zaren aller Reußen gegenübersahen, nicht anders zu erwarten war, vor allem dann nicht, wenn dieser Zar auch noch inkognito erschien.
»Sie können jetzt mit den Vorbereitungen zur Wasserübernahme beginnen, Herr Kapitän«, sagte Hornblower zu Bush. Dann wandte er sich wieder an Alexander. »Wollen Sie das Schiff eingehender besichtigen, Sir?«
»Sehr gern«, sagte Alexander.
Er blieb noch auf dem Achterdeck stehen, um sich den Beginn der Vorbereitungen anzusehen. Die Toppsgasten ergossen sich aus den Riggen wieder an Deck. Gegen die Sonne blinzelnd, sah Alexander bewundernd zu, wie ein halbes Dutzend Seeleute an den Kreuzpardunen und am Kreuzmarsfall heruntergerutscht kamen und auf dem Achterdeck, unmittelbar neben ihm, glatt auf ihren Füßen landeten. Angefeuert von ihren Unteroffizieren, rannten die Leute hier- und dorthin, jeder mit irgendeinem Auftrag. Das Schiff glich einem aufgestörten Ameisenhaufen, nur daß mehr Ordnung herrschte und der Sinn des ganzen Treibens besser zu erkennen war. Die Luken wurden abgedeckt, die Pumpen klargemacht, an den Rahnocken wurden Taljen angeschlagen, und an der Backbordseite wurden Fender ausgebracht. Alexander staunte über eine Halbkompanie Seesoldaten, die hintereinander an einem Ende aufgereiht waren und damit in einer Art plattfüßigen Gleichtakts längsdeck holten. »Die sind beides zur gleichen Zeit, Sir, Soldaten und Seeleute«, sagte Hornblower in einem etwas geringschätzigen Tonfall, während er seinen Besuch nach unten führte.
Alexander war ein Mann von sehr hohem Wuchs, er war noch einen oder zwei Zoll größer als Hornblower und mußte sich vor den niedrigen Decksbalken der unteren Decks gewaltig in acht nehmen, während er mit seinen kurzsichtigen Augen voll Interesse um sich sah. Hornblower führte ihn im unteren Batteriedeck nach vom, dort gab es nicht mehr als fünfeinhalb Fuß Stehhöhe. Er zeigte ihm den Fähnrichsraum, die Deckoffiziersmesse und überhaupt alles, was es sonst im Seemannsleben an unerfreulichen Begleitumständen gab. So ließ er zum Beispiel eine Gruppe Matrosen Hängematten empfangen und aufhängen, dann mußten sich die Männer hineinlegen, damit Alexander sich ein Bild davon machen konnte, was es hieß, sich mit einem Schlafplatz von zweiundzwanzig Zoll Breite begnügen zu müssen. Dazu gab er eine anschauliche Schilderung, wie es in einem solchen Deck bei Sturm aussah, wenn die Hängematten mit den wie Heringe zusammengepferchten Schläfern ins Schwingen gerieten und gegeneinander geworfen wurden. Das breite Grinsen der Seeleute, die diese Vorführung veranstalteten, mochte Alexander davon überzeugen, daß Hornblower mit seiner Schilderung nicht übertrieb, darüber hinaus aber sagte es ihm wohl auch etwas über den Geist, der diese Männer beseelte, verriet es ihm etwas von dem gewaltigen Unterschied zwischen ihnen und den stumpfen und unwissenden Bauern, die er in den Gliedern seiner Regimenter zu sehen gewohnt war.
Sie warfen einen Blick in die Luke, um die Arbeitsgruppe zu beobachten, die unten im Raum mit den Wasserfässern hantierte, um auch die unteren Lagen derselben zum Auffüllen klarzumachen. Dabei schlug ihnen der Brodem aus dem Orlopdeck entgegen, in dem sich der Geruch von Bilgewasser, Käse und Masse Mensch zu einer unbeschreiblichen Mischung vereinigte. »Sie haben sicher lange gedient, Kommodore?« fragte Alexander. »Neunzehn Jahre, Sir«, gab Hornblower zur Antwort. »Und wieviel von dieser Zeit haben Sie auf See zugebracht?«
»Sechzehn Jahre, Sir. Neun Monate war ich als Gefangener in Spanien und sechs Monate in Frankreich.«
»Ich habe von Ihrer Flucht aus Frankreich gehört. Sie haben viele Gefahren auf sich genommen, um zu diesem Seemannsleben zurückzukehren.« Alexanders hübsche Stirn zog sich in nachdenkliche Falten. Er grübelte wohl darüber nach, wie man sechzehn Jahre seines Lebens unter solchen Bedingungen leben und dabei doch geistig und körperlich gesund bleiben konnte. »Wann sind Sie zu Ihrem jetzigen Dienstgrad befördert worden?«
»Kommodore bin ich erst seit zwei Monaten, Sir, aber als Kapitän habe ich ein Rangdienstalter von neun Jahren.«
»Und davor?«
»Davor war ich sechs Jahre Leutnant und vier Jahre Fähnrich.«
»Was, vier Jahre? Vier volle Jahre haben Sie in einem Loch gewohnt wie dem Fähnrichsraum, den Sie mir gezeigt haben?«
»Nicht ganz so angenehm, Sir. Ich war nämlich die meiste Zeit auf einer Fregatte unter Sir Edvard Pellew. Auf einem Linienschiff wie diesem sind die Verhältnisse nicht so eng wie auf einer Fregatte.«
Hornblower hatte Alexander die ganze Zeit genau beobachtet.
Er konnte ihm ansehen, daß ihm das Gesehene und Gehörte einen ziemlich starken Eindruck gemacht hatte, und erriet auch ungefähr, was Alexander jetzt dachte. Es waren bestimmt nicht so sehr die elenden Lebensbedingungen an Bord, die den Zaren beschäftigten - wenn er von seinem eigenen Volk auch nur die leiseste Ahnung hatte, dann mußte er wissen, daß dort die große Masse noch unter wesentlich schlechteren Verhältnissen lebte.
Nein, ihm machte viel mehr die Tatsache zu schaffen, daß augenscheinlich auch unter solchen Bedingungen tüchtige Offiziere herangebildet werden konnten.
»Ja, es wird wohl so sein müssen«, bemerkte Alexander schließlich mit einem Seufzer. Damit gab er für eine kurze Sekunde die menschlich warmherzige Seite seines Wesens zu erkennen, die ihm das Gerücht von jeher zugeschrieben hatte.
Als sie wieder an Deck kamen, war das Wasserfahrzeug bereits längsseit. Einige Leute der Nonsuch waren drüben und halfen den Russen bei der Arbeit, andere Gruppen bewegten in munterem Gleichtakt die Pumpen, und die langen, schlangengleichen Segeltuchschläuche pulsten bei jedem ihrer Schläge. Auf dem Vorschiff wurde unter Absingen eines Shantys das Feuerholz bündelweise an Deck gehievt.
»Dank Ihrer Großzügigkeit, Sir«, sagte Hornblower, »sind wir nötigenfalls in der Lage, vier Monate die See zu halten, ohne einen Hafen anzulaufen.« In Hornblowers Kajüte war für acht Personen zum Lunch gedeckt, nämlich für Hornblower selbst, Bush, die zwei ältesten Wachoffiziere und die vier Russen. Bush trat beim Anblick der ungastlichen Tafel vor Aufregung der Schweiß auf die Stirn. Noch im letzten Augenblick hatte er Hornblower beiseite gezogen und ihn vergeblich bestürmt, wenigstens neben dem gewöhnlichen Bordessen einiges von den noch vorhandenen Kajütbeständen servieren zu lassen. Er konnte sich die fixe Idee, daß man dem Zaren unter allen Umständen etwas besonders Gutes vorsetzen müsse, einfach nicht aus dem Kopf schlagen. Jeder jüngere Offizier, der einmal in die Lage kam, einen Admiral bewirten zu müssen, konnte sich alle Beförderungsträume in den Schornstein schreiben, wenn es ihm etwa einfiel, dem hohen Herrn nichts als ein Stück Fleisch aus der Mannschaftsküche vorzusetzen. Bush aber konnte sich keinen anderen Maßstab denken als den, der für die Einladung von Admiralen galt.
Der Zar sah sich interessiert die verbeulte Zinnterrine an, die Brown vor Hornblowers Platz auf den Tisch setzte.
»Erbsensuppe, Sir«, erklärte Hornblower. »Eines der Lieblingsgerichte des Seemanns.«
Carlin begann nach alter Gewohnheit, sein Hartbrot an der Tischkante auszuklopfen. Als er sich über sein Tun Rechenschaft gab, hielt er erschrocken inne, machte aber dann gleich mit schuldbewusstem Gesicht weiter. Er dachte nämlich an Hornblowers ausdrücklichen Befehl, daß jeder sich genauso benehmen sollte, als ob niemand Besonderer anwesend wäre.
Hornblower hatte sogar mit Bestrafung gedroht, falls jemand diesen Befehl vergessen sollte, und Carlin wußte genau, daß er solche Drohungen nie aussprach, ohne daß es ihm damit wirklich Ernst war. Alexander sah zuerst Carlin ein bißchen zu und wandte sich dann mit einem fragenden Blick an Bush, der neben ihm saß. »Mr. Carlin klopft die Maden aus seinem Hartbrot«, erklärte Bush ernst und gewichtig. »Wenn man leise klopft, kommen sie ganz von selber heraus, sehen Sie, so, Sir.«
»Sehr interessant«, sagte Alexander, aber er aß doch nichts von dem Brot. Einer seiner Adjutanten machte selbst den Versuch, sah die fetten Maden mit ihren schwarzen Köpfen zum Vorschein kommen und brach dann, wenigstens nach dem Tonfall zu urteilen, in eine Reihe russischer Flüche aus, so ziemlich die ersten Worte, die er seit seinem Anbordkommen hören ließ. Nach diesem wenig verheißungsvollen Beginn kosteten die Gäste mit einigem Mißtrauen ihre Suppe. Aber Erbsensuppe war, wie Hornblower schon gesagt hatte, mit das Beste, das die Navy zu bieten hatte. Jedenfalls ließ der Adjutant, dem die Maden solche Flüche entlockt hatten, gleich nach dem ersten Löffel einen Ausruf der Anerkennung hören, leerte rasch seinen Teller und bat dann gleich um einen zweiten. Als nächsten Gang gab es nur dreierlei Fleisch, nämlich gepökeltes Rindfleisch, gepökelte Ochsenzunge und gepökeltes Schweinefleisch. Dazu wurde eingelegter Kohl gereicht.
Alexander sah sich die drei Schüsseln genau an und entschied sich dann klugerweise für die Zunge. Der Marineminister und die beiden Adjutanten nahmen sich auf Hornblowers Rat von jeder Sorte etwas, und Hornblower, Bush und Hurst legten ihnen persönlich vor. Der anfänglich so schweigsame und jetzt so gesprächige Adjutant kaute sein Salzfleisch mit echt russischem Appetit, obgleich ihn seine Vertilgung einen harten Kampf kostete. Jetzt servierte Brown den Rum.
»Das Blut in den Adern unserer Flotte, Sir«, sagte Hornblower, während Alexander den Inhalt seines Glases betrachtete. »Meine Herren! Sie werden freudig und herzlich einstimmen, wenn ich rufe: Es lebe der Zar aller Reußen! Vive l'Empereur!«
Alle, außer Alexander, erhoben sich und taten stehend Bescheid. Kaum hatten sie wieder Platz genommen, da war Alexander seinerseits auf den Beinen: »Der König von Großbritannien!«
Der eine der Adjutanten erlitt wieder einmal Schiffbruch mit seinem Französisch, als er den Eindruck zu schildern versuchte, den der Flottenrum auf ihn machte. Er hatte ihn hier zum ersten Male gekostet. Zuletzt brachte er sein Urteil über dieses Getränk einfach dadurch zum Ausdruck, daß er sein Glas auf einen Zug leerte und es Brown zum Nachschenken hinhielt. Als der Tisch abgeräumt war, erhob Alexander sein Glas zum zweiten Male:
»Es lebe Kommodore Sir Horatio Hornblower und die Britische Königliche Flotte!«
Als die Gläser geleert waren, warf Hornblower einen Blick in die Runde und wurde gewahr, daß seine Gäste eine formgerechte Antwort von ihm erwarteten.
»Die Flotte«, sagte er, »Schutzherrin der Freiheit in der ganzen Welt, treuester Freund oder härtester Gegner! Wenn der Zwingherr Europas darauf sinnt, seine Herrschaft durch offene Gewalt oder durch Winkelzüge zu erweitern, dann findet er stets die Flotte als Hindernis in seinem Weg. Die Flotte drückt dem Tyrannen langsam die Kehle zu. Die Flotte hat ihm Schlag um Schlag versetzt, sie läßt den aufgeblähten Koloß, den er sein Reich nennt, ununterbrochen zur Ader, sie bringt ihn mit Gewißheit eines Tages zu Fall. Mag sich der Tyrann zu Lande eines ununterbrochenen Siegeszuges rühmen, so trifft ihn doch auf See ohne Unterlaß die Vernichtung. Das Werk der Flotte ist es, daß ihn seine Siege nur schwächen, daß er, ein zweiter Sisyphus, immer von neuem beginnen muß, seinen Felsblock den Hang empor zu wälzen, einem Gipfel zu, den er nie erreichen wird. Denn der Felsen wird ihn eines Tages in seinem Sturz zerschmettern. Möge dieser Tag nicht mehr zu fern sein!«
Als Hornblower endete, hörte man die anderen Tischgäste erregt miteinander flüstern. Er war wieder in gehobener Stimmung, die Gelegenheit zu dieser Ansprache hatte ihn etwas überrascht, obgleich er eigentlich den ganzen Tag, seit er von dem bevorstehenden Besuch des Zaren wußte, auf eine Möglichkeit gehofft hatte, ihm noch einmal die Vorteile der britischen Bundesgenossenschaft vor Augen zu führen. Alexander war noch jung und empfänglich für Eindrücke. Man mußte sich an sein Gefühl genauso wenden wie an seinen Verstand.
Hornblower warf einen heimlichen Blick auf den Zaren, um zu ergründen, ob er seinen Zweck erreicht hatte. Alexander saß tief in Gedanken da und hatte die Augen auf den Tisch gesenkt.
Plötzlich hob er den Blick und sah Hornblower lächelnd an. Da packte diesen eine Woge jauchzenden Triumphes, er war felsenfest davon überzeugt, daß sein Plan gelungen war. Er hatte mit Vorbedacht zum Lunch gewöhnliche Schiffskost gereicht, er hatte Alexander gezeigt, wie die Flotte lebte, wie sie schlief, wie sie arbeitete. Wenn der Zar den Heldenruhm der englischen Flotte kannte - und er mußte ihn kennen -, dann war dieses anschauliche Bild von den Härten des Seemannslebens, das er ihm entworfen hatte, nichts als ein besonders feinfühliger Appell an seine edelsten Regungen. Hornblower besaß ein Einfühlungsvermögen, das ihm solche Zusammenhänge verriet.
Er hätte wohl nicht zu sagen vermocht, wie diese Wirkung zustande kam, aber er war seiner Sache doch sicher. In Alexander mußte sich immer stärker der Wunsch regen, den Männern zu helfen, die Ruhm und Erfolg mit einem solchen Preis erkauften, und umgekehrt mußte er sich auch wünschen, diese zähen Kämpfer auf seiner Seite zu wissen.
Alexander traf Anstalten zum Aufbruch. Sein Adjutant goß in aller Eile noch sein fünftes Glas Rum hinunter. Es versetzte ihn im Verein mit seinen vier Vorgängern in einen so gehobenen Zustand, daß er nachher, auf dem Achterdeck angelangt, Bush den Arm um den Nacken schlang und ihn mit brüderlicher Herzlichkeit auf den Rücken klopfte. Dabei klingelte und klapperte die lange Reihe der Orden und Medaillen auf seiner Brust, als hämmerten ein paar Kesselflicker an ihren Töpfen und Pfannen herum. Bush war durch dieses Benehmen höchst peinlich berührt, weil er sich von der ganzen Besatzung beobachtet fühlte. Deshalb versuchte er, sich aus der Umarmung zu befreien, aber seine Bemühungen hatten wenig Erfolg.
Hochrot im Gesicht, gab er den Befehl zum Paradieren und seufzte sichtlich erleichtert auf, als Alexander endlich die Fallreepstreppe hinunterstieg und sein Adjutant ihm wohl oder übel folgen mußte.