1. Kapitel
Kapitän zur See Horatio Hornblower saß in seiner Sitzbadewanne und betrachtete angewidert seine über den Rand hängenden Beine. Sie waren dünn und behaart und erinnerten ihn an die Beine der Spinnen, die er in Mittelamerika gesehen hatte. Es fiel ihm schwer, seinen Gedanken eine andere, erfreulichere Richtung zu geben, während er in dieser lächerlichen Badewanne saß und seine Beine so aufdringlich dicht vor der Nase hatte - sie hingen unten heraus, oben ragte sein Oberkörper aus dem Wasser, so daß eigentlich nur die Mitte von den Hüften bis oberhalb der Knie eingetaucht war. Dabei mußte man sich fast wie ein Taschenmesser zusammenklappen.
Hornblower fand es aufreizend, auf diese Weise baden zu müssen, wollte aber seiner Gereiztheit nicht nachgeben. Nicht mehr denken! Keine Vergleiche mehr mit den unzähligen herrlichen Bädern an Bord, wo ihn die Deckwaschpumpe mit unbegrenzten Mengen erfrischenden Seewassers übersprudelt hatte! Er griff zu Seife und Waschfleck und begann sich heftig abzuseifen, soweit sich sein Körper über Wasser befand. Dabei schwappte eine Menge über und spritzte auf die gewichsten eichenen Dielen seines Ankleidezimmers. Nicht schön für das Dienstmädchen! Nun, wenn schon - in seiner augenblicklichen Stimmung fand Hornblower geradezu einen Genuß darin, anderen Unannehmlichkeiten zu bereiten.
Ungeschickt stand er in seiner Badewanne auf und spritzte dabei wieder nach allen Seiten um sich. Er seifte und wusch noch die Körpermitte, dann rief er nach Brown, der sofort aus dem Schlafzimmer erschien. Ein Diener mit größerer Erfahrung hätte vielleicht die Laune seines Herrn erraten und in diesem Fall eine oder zwei Sekunden gezögert, um ihm Gelegenheit zu einem herzhaften Donnerwetter zu geben. Brown legte Hornblower ein angewärmtes Handtuch um die Schultern und verhinderte geschickt, daß die Zipfel eintauchten, als sein Herr nun aus dem schmutzigen Seifenwasser herausstieg und unter Hinterlassung einer Spur von Tropfen und nassen Fußstapfen durchs Zimmer schritt. Hornblower trocknete sich ab und starrte dabei finsteren Blicks ins Schlafzimmer hinüber auf den Anzug, den Brown dort für ihn bereitgelegt hatte.
»Herrlicher Morgen, Sir«, bemerkte Brown. »Rutsch mir den Buckel herunter!« erwiderte Hornblower. Jetzt mußte er sich in diese verfluchten braunblauen Klamotten und in die Lackstiefel hineinzwängen und dazu den dummen goldenen Uhranhänger tragen. Er hatte den Anzug noch nie angehabt, schon bei der Anprobe war er ihm zuwider gewesen. Seine Frau war begeistert, aber das verschlug nichts; ihm, Hornblower, war dieses Zeug nun einmal ein Greuel, und daran konnte sich seiner Lebtage nichts ändern. Es half nichts - er mußte hinein! Sein Widerwillen hatte ein doppeltes Gesicht, einmal war es ein einfaches, blindes Gefühl ohne jede Überlegung, zum anderen wurde er von der Vorstellung genährt, daß ihm der Anzug miserabel zu Gesicht stand, daß er darin nicht nur gewöhnlich, sondern geradezu albern aussah. Mit Todesverachtung zog er das Zwei-Guineen-Hemd über den Kopf und schlüpfte dann mit unendlicher Mühe in die engen braunen Hosen, die ihm an den Beinen saßen wie eine Haut. Endlich war er drin, und Brown war eben hinter ihn getreten, um die Gürtelschnalle anzuziehen, da merkte er, daß er die Strümpfe vergessen hatte. Die Hosen wieder ausziehen hieß seinen Fehler eingestehen, das aber wollte er unter keinen Umständen. Als ihm daher Brown diesen Vorschlag machte, erntete er nur einen neuen, kräftigen Fluch, der diesen aber nicht aus seiner philosophischen Ruhe bringen konnte. Er ließ sich ergeben auf die Knie nieder und begann, seinem Herrn die Hosenbeine aufzurollen, kam aber damit beim besten Willen nicht weiter als bis zum Knie. Es erwies sich als hoffnungsloses Beginnen, die langen Strümpfe auf diese Weise anziehen zu wollen. »Schneid die verdammten Dinger oben ab«, fuhr ihn Hornblower an. Der kniende Brown schlug in stummem Protest die Augen zu seinem Herrn auf, Hornblowers Gesichtsausdruck erstickte ihm aber das Wort im Munde.
Schweigend und beherrscht gehorchte er dem Befehl und holte die Schere vom Toilettentisch. Klippklapp, klippklapp, und schon fielen die oberen Enden der Strümpfe zu Boden. Nun fuhr Hornblower in die verstümmelten Fußteile und empfand heute zum erstenmal eine Art Genugtuung, als ihm Brown die Hosen darüber zog. Mochten sich alle bösen Gewalten gegen ihn verschworen haben, bei Gott, er wollte ihnen zeigen, daß er noch seinen Willen besaß. Er zwängte seine Füße in die Lackstiefel. Sie waren verdammt eng, aber nein, er wollte nicht darüber fluchen - schuldbewußt erinnerte er sich seiner Nachgiebigkeit gegen den modischen Schuhmacher, bei dem er nicht genug auf bequemen Sitz bestanden hatte. Aber auch da war eben seine Frau dabei gewesen und hatte darauf geachtet, daß den Gesetzen der Mode Genüge geschah.
Er stelzte hinüber zum Toilettentisch, um das Halstuch umzubinden, und dann schnallte ihm Brown die Halsbinde zu.
Dieses lächerliche Ding kratzte ihn an den Ohren, so oft er den Kopf wandte, er hatte das Gefühl, als würde sein Hals auf die doppelte Länge gedehnt. Nie im Leben hatte er etwas so Unbequemes angehabt. Solange er diese verdammte Binde trug, die Brummel und der Prinzregent kreiert hatten, war ihm jeder freie Atemzug verwehrt. Nun kam die geblümte Weste an die Reihe - blau mit rosa Stickerei -, und zuletzt fuhr er in den feinen braunen Tuchrock mit den großen blauen Knöpfen; nebenbei gesagt, war das Innere der Taschenklappen und die Rückseite der Aufschläge und des Kragens von dem gleichen Blau. Zwanzig Jahre lang hatte Hornblower nur Uniformen getragen, was Wunder, daß sein Spiegelbild seinem voreingenommenen Blick unnatürlich, grotesk und lächerlich erschien? Die Uniform war etwas so unendlich Bequemes, er hatte sie zu tragen, wie sie war, also konnte auch niemand etwas aussetzen, wenn sie ihm nicht stand. Beim Zivil war es etwas ganz anderes. Da nahm man an, daß er sich nach eigenem Geschmack und eigener Wahl kleidete - obgleich er doch verheiratet war -, und konnte sich also auch über alles lustig machen, was er trug. Brown hakte die goldene Uhr an den Anhänger und zwängte sie in die Tasche. Dort machte sie gerade über dem Bauch eine häßliche Beule. Sollte er sie weglassen?
Nein! Voll Wut verwarf Hornblower den Gedanken, ohne Uhr zu gehen, nur damit sein Anzug besser saß. Schließlich steckte er noch ein Leinentaschentuch, das ihm Brown gereicht hatte, in den Ärmel, nachdem er es vorher noch mit einem Schuß Parfüm benetzt hatte. Er war bereit.
»Ein herrlicher Anzug, Sir«, meinte Brown. »Herrlicher Plunder!« entgegnete Hornblower.
Steif ging er durch das Ankleidezimmer zurück und klopfte an die Tür an dessen anderem Ende.
»Herein!« hörte man die Stimme seiner Frau.
Barbara saß noch in ihrer Badewanne, ihre Beine baumelten über den Rand, genau wie vorhin die seinigen.
»Wie hübsch du aussiehst, Liebster«, meinte sie, »es ist eine Wohltat, dich zur Abwechslung einmal in Zivil zu sehen.«
Selbst Barbara, die liebste und beste Frau der Welt, war also nicht frei von jenem lästigen Fehler, den alle Frauen an sich hatten: die Abwechslung um ihrer selbst willen zu lieben. Aber Hornblower konnte ihr nicht so gut antworten, wie er Brown geantwortet hatte.
»Ich danke dir für dein Kompliment«, sagte er und gab sich dabei verzweifelte Mühe, seinen Ton so zu wählen, daß diese Worte auch wirklich dankbar klangen.
»Mein Handtuch, Hebe!« sagte Barbara. Das kleine Negermädchen glitt herbei und hüllte sie ein, während sie aus dem Sitzbad stieg. »Venus entsteigt den Wogen«, meinte Hornblower galant. Warum er es immer unschicklich fand, wenn er seine Frau in Gegenwart eines anderen weiblichen Wesens nackt sah? Dabei war Hebe doch nur eine Dienerin und obendrein eine farbige. Er gab sich Mühe, dieser törichten Empfindung Herr zu werden.
»Ich nehme an«, sagte Barbara, während sie dastand und sich von Hebe mit dem Handtuch trocken frottieren ließ, »daß man im Dorf schon von unserer seltsamen Gewohnheit gehört hat, jeden Tag ein Bad zu nehmen. Ich kann mir aber kaum eine Vorstellung machen, was sie davon denken.« Hornblower konnte sich das gut vorstellen, er war ja selbst einmal ein Dorfjunge gewesen. Nun warf Barbara das Handtuch ab und stand wieder einen Augenblick ganz nackt vor ihm, bis Hebe ihr das Seidenhemd überwarf. Diese Frauen verloren doch jedes Schamgefühl, wenn die Hemmungen einmal gefallen waren.
Barbara wirkte in diesem durchsichtigen Hemd eigentlich noch anstößiger, als wenn sie ganz nackt war. Sie saß nun an ihrem Frisiertisch und machte sich daran, ihr Gesicht mit Creme zu behandeln, während Hebe ihr Haar bürstete. Vor ihr auf dem Tisch stand eine Unzahl von Töpfen und Tiegeln, aus denen sie der Reihe nach ihre Zutaten entnahm, als wollte sie eine Hexensalbe bereiten.
»Ich freue mich«, meinte sie, während sie ihr Spiegelbild aufmerksam musterte, »daß die Sonne scheint. Es ist gut, daß wir für unsere heutige Feier schönes Wetter haben.«
Hornblower hatte seit dem Aufstehen an nichts anderes denken können als an diese Feier. Nicht daß sie ihm etwa zuwider gewesen wäre, nein, das konnte man nicht behaupten, aber er fühlte sich doch nicht ganz wohl in seiner Haut. Die Feier war der erste Markstein in dem neuen Leben, das ihm hier bevorstand, und es war eigentlich kein Wunder, wenn er seiner eigenen Anpassungsfähigkeit noch mißtraute. Barbara studierte sein Gesicht durch den Spiegel.
»Meinen Willkommensgruß dem neuen Herrn von Smallbridge«, sagte sie endlich lächelnd, indem sie sich nach ihm umwandte.
Dieses Lächeln bewirkte nicht nur einen äußeren Wandel in Barbaras Gesichtsausdruck, es vermochte weit mehr: es warf Hornblowers ganzes Denken über den Haufen und gab ihm ein völlig neues Bild seiner Lage. Barbara war mit einem Male nicht mehr die große Dame, die Tochter eines Earl, durch deren Adern das blaueste Blut des ganzen englischen Adels floß, nicht mehr die Frau, deren vollendete Haltung und Sicherheit ihn zu seinem größten Ärger immer so schüchtern und befangen machte. Jetzt war sie wieder, was sie früher gewesen war, der Kamerad, der drüben im Pazifik ohne Furcht neben ihm auf dem von Kugeln aufgerissenen Deck der Lydia gestanden hatte, das Weib, das in seinen Armen vor Liebe verging, Gefährtin und Geliebte in einem. Und schon flog ihr sein Herz wieder zu.
Wäre nur Hebe nicht im Zimmer gewesen, er hätte sie in die Arme gerissen und abgeküßt. Barbara begegnete seinem Blick und las darin alles, was in ihm vorging. Wiederum lächelte sie ihm zu, ja, sie verstanden einander, sie befanden sich in vollständigem Einvernehmen, sie teilten alle Geheimnisse miteinander, und seitdem es so war, war die Welt für sie schöner und strahlender geworden. Barbara zog ein Paar weißseidene Strümpfe an und band die scharlachroten Strumpfbänder über ihren Knien. Da stand auch schon Hebe mit dem Kleid bereit, und alsbald tauchte sie kopfüber hinein. Das Kleid wogte und bauschte sich, als Barbara sich durch die Stoffmassen ihren Weg bahnte, endlich kam sie am anderen Ende zum Vorschein. Um sich schlagend fuhr sie in die Ärmel und hatte nun ganz zerzauste Haare. Wer hätte dabei die große Dame spielen können? Hornblower liebte sie in diesem Augenblick heißer als je. Hebe zog und zupfte ihrer Herrin das Kleid zurecht und warf ihr dann einen spitzenbesetzten Frisiermantel über, um noch einmal Hand an ihre Frisur zu legen. Endlich saß die letzte Haarnadel, die letzte Locke an ihrem richtigen Platz, saßen auch die Schuhe an ihren Füßen, die ihr Hebe mit einem Schuhlöffel angezogen hatte. Zuletzt galt es nur noch, den riesigen, mit Rosen und Bändern geschmückten Hut aufzusetzen. »Wie spät haben wir es denn, Liebster?« fragte sie.
»Neun Uhr«, gab Hornblower zur Antwort, als es ihm mit Mühe gelungen war, seine Uhr aus der strammen Uhrtasche vorn an der Hose herauszuziehen.
»Ausgezeichnet«, entgegnete Barbara und griff nach den langen weißen Seidenhandschuhen, die sie auf unwahrscheinlichen Schmuggelpfaden aus Paris bezogen hatte.
»Hebe, Master Richard wird jetzt auch schon bereit sein, sage der Kinderfrau, sie soll ihn zu mir bringen... übrigens, Liebster, glaube ich, daß es der heutigen Gelegenheit besonders angemessen wäre, wenn du Ordensband und Stern anlegtest.«
»Wie, vor meiner eigenen Haustür?« warf Hornblower aufbegehrend ein. »Ja, leider«, entgegnete Barbara. Dazu wiegte sie vielsagend den Kopf, den nun eine ganze Pyramide von Rosen krönte, und wieder lächelte sie, aber diesmal nicht verliebt, sondern so verschmitzt, daß alle Einwürfe, die sich Hornblower gegen das Anlegen des Ordens zurechtgelegt hatte, davor zerstoben wie Spreu im Wind. Sie gestand ihm damit stillschweigend und unter vier Augen ein, daß sie der Begrüßungsfeier für den neuen Herrn von Smallbridge keine größere Bedeutung beimaß als er selber. Es war das verständnisinnige Lächeln eines Auguren.
Also holte er jetzt in seinem Schlafzimmer das rote Band und den Stern des Bath-Ordens aus der Schublade des Wäscheschrankes, und Brown legte unterdes die rehledernen Handschuhe bereit, die er anzog, während er die Treppe hinunterstieg. Ein schüchternes Dienstmädchen knickste vor ihm, und unten in der Halle stand der Butler Wiggins mit dem hohen Biberhut bereit. Neben ihm zeigte sich der Diener John in seiner neuen, von Barbara ausgewählten Livree. Da kam auch schon Barbara selbst und mit ihr Richard auf dem Arm seiner Kinderfrau. Richards Locken waren mit viel Pomade zu feierlichen, steifen Kringeln gedreht. Nun stellte ihn die Kinderfrau auf die eigenen Beine und zupfte ihm rasch noch das Röckchen und das Spitzenkrägelchen zurecht. Hornblower beeilte sich, ihn an der einen Hand zu nehmen, während Barbara die andere ergriff. Der Kleine war ja noch nicht sicher genug auf den Beinen, man mußte gewärtigen, daß er sich im unpassendsten Augenblick plötzlich auf allen vieren niederließ und dadurch die Würde der Feier beeinträchtigte, die nun gleich beginnen sollte. Wiggins und John rissen beide Türflügel auf, und alle drei, Barbara, Hornblower und Richard in ihrer Mitte, traten auf die obere Plattform der Freitreppe hinaus, die von der Anfahrt heraufführte. Hornblower dachte gerade noch rechtzeitig daran, den hohen Hut aufzusetzen, ehe er die Schwelle überschritt.
Es schien, als hätte sich die ganze Einwohnerschaft von Smallbridge dort unten vor ihnen versammelt. An der einen Seite stand der Pfarrer mit der Schar der Schulkinder, dann folgten nach der Mitte zu die vier Hofpächter in ihren schlecht sitzenden schwarzen Feiertagsanzügen mit allen ihren Knechten in Arbeitskitteln. Links schloß sich eine Gruppe Frauen an, die Schürzen und Hauben trugen. Hinter den Kindern klemmte sich der Hausknecht aus der ›Goldenen Kutsche‹ seine Geige unters Kinn und stimmte einen Ton an, der Pfarrer hob seine Rechte, und schon piepsten die schrillen Kinderstimmen los:
»Seheheht ihr den tapfern Heeelden nahn? Nun schlagt die Trommeln, blaset die Trompeten und laute Freudenlieder stimmet an.«
Kein Zweifel, daß sie damit Hornblower meinten, er nahm also den Hut ab und ließ die Ehrung linkisch und ungeschickt über sich ergehen. Die Melodie sagte seinem unmusikalischen Ohr überhaupt nichts, und auch den Text verstand er nur bruchstückweise. Endlich gelangte der Chor, allerdings in einiger Unordnung, an den Schluß, und sogleich trat der Pfarrer einen Schritt vor. »Mylady«, begann er, »Sir Horatio! Im Namen des ganzen Volkes heiße ich Sie willkommen. Ich begrüße Sie, Sir Horatio, in der Zierde des Ruhms, mit dem Sie sich im Kampfe gegen den korsischen Tyrannen bedeckt haben, und ich begrüße Ihre Ladyschaft als Gattin des Helden, der hier vor uns steht, als Schwester des anderen Helden, der gegenwärtig unser tapferes Heer in Spanien führt, und als Tochter eines der vornehmsten Adelsgeschlechter unseres Landes! Ich heiße Sie willkommen...«
»Mann!« rief Richard ganz unerwartet dazwischen. »Da - da!« Der Pfarrer ließ sich durch die Unterbrechung nicht aus der Fassung bringen, er war schon so gut im Zuge, daß ihm seine blumenreiche Sprache ungehemmt weiter entströmte. Er sprach von der Freude, die ganz Smallbridge bewege, weil ihr neuer Gutsherr ein so berühmter Seemann sei. Hornblower konnte der Ansprache nicht recht folgen, weil er darauf achten mußte, Richards Hand unter keinen Umständen loszulassen. Entwischte er ihm, dann konnte man sicher sein, daß er sofort auf allen vieren die Treppe hinunterstrebte, um mit den Dorfkindern nähere Bekanntschaft zu machen. Hornblower ließ seinen Blick über den üppig grünen Park wandern. Im Hintergrund sah man die klaren Umrisse der Downs, und seitwärts erhob sich der Kirchturm von Smallbridge über den Wipfeln der Bäume. Der Obstgarten davor stand in voller Blüte und bot einen Anblick von zauberhaftem Liebreiz. Park, Obstgarten und Kirche, all das war nun sein, er war ein Squire, ein begüterter Gentleman, Besitzer vieler Morgen fruchtbaren Bodens, und er wurde heute von seiner Pächterschaft willkommen geheißen. Hinter ihm stand sein eigenes Haus, in dem es von seinen eigenen Dienstboten wimmelte, an seiner Brust trug er Stern und Band eines hohen Ordens als Zeichen seiner Ritterschaft, und in London verwahrten Courts & Company in ihren Gewölben einen Schatz goldener Guineen, die gleichfalls sein Eigentum waren. Hatte er nicht das Ziel seiner Wünsche erreicht? Ruhm, Vermögen, Sicherheit, Liebe, ein Kind - war das nicht alles, was das Herz begehrte? Und doch stand er nun, während die Rede des Pfarrers weiterplätscherte, hier auf der Treppe seines Hauses und zerbrach sich den Kopf darüber, warum er trotz allem nicht glücklich war. Er empfand heftigen Ärger über sich selbst.
Sollte er nicht vor Stolz und Glück und Freude außer Rand und Band sein? Statt dessen stand er da und fühlte nur einen leichten Druck auf der Seele, wenn er an die Zukunft dachte, einen Druck, der ihn bei der Vorstellung befiel, daß er nun für immer hier leben sollte, und der sich in ausgesprochenen Widerwillen verwandelte, wenn er sich erinnerte, daß er alljährlich die elegante Saison in London verbringen mußte. Nicht einmal die Aussicht, ständig mit Barbara zusammenzusein, vermochte diese Empfindungen zu mildern oder gar zu wandeln.
Plötzlich fuhr Hornblower aus seinen schweifenden Gedanken auf. War da nicht eben ein Wort gefallen, das nicht fallen durfte? Da der Pfarrer der einzige war, der sprach, konnte es kein anderer gesagt haben als er. Offenbar ahnte er aber nichts von seinem Mißgriff, da seine Rede ohne Stocken weiterfloß.
Hornblower warf einen verstohlenen Seitenblick zu Barbara hinüber und sah, wie sie sich eine Sekunde mit ihren weißen Zähnen auf die Unterlippe biß; das war für jeden, der sie kannte, ein sicheres Zeichen, daß sie sich über irgend etwas ärgerte.
Sonst aber zeigte sie auch jetzt die stoische Ruhe, die alle Angehörigen der führenden Schicht Englands auszeichnete.
Über welche Worte mochte sie sich so aufgeregt haben?
Hornblower strengte sein unterbewußtes Erinnerungsvermögen an, um sich ins Gedächtnis zu rufen, was der Pfarrer gesagt hatte. Er hatte wohl hingehört, aber ohne alle Aufmerksamkeit.
Halt! Richtig, das war es! Dieser Esel hatte ja von Richard gesprochen, als ob der Junge ihrer beider Kind wäre, und Barbara konnte es doch nicht vertragen, wenn man ihren Stiefsohn für ihr eigenes Kind hielt. Merkwürdigerweise gingen ihr solche Verwechslungen um so stärker auf die Nerven, je mehr ihr das Kind selbst ans Herz wuchs. Schließlich konnte man aber dem Pfarrer seinen Irrtum kaum zum Vorwurf machen. Da trat ein verheiratetes Paar mit einem sechzehn Monate alten Kind neu in Erscheinung. War es da ein Wunder, wenn man allgemein annahm, daß dieses Kind beiden Eltern gehörte?
Endlich hatte der Pfarrer geendet, und nun entwickelte sich eine peinliche Pause. Offenbar erwartete man von ihm eine Antwort, es war also seine, Hornblowers, Sache, die richtigen Worte zu finden und zu sprechen. »Hahm«, begann er - noch war er nicht lang genug mit Barbara verheiratet, als daß er dieser alten Gewohnheit schon völlig Herr geworden wäre - und suchte verzweifelt nach einigen passenden Phrasen. Darauf hätte er natürlich gefaßt sein müssen, es wäre entschieden besser gewesen, sich auf diese Ansprache vorzubereiten, als bis zum letzten Augenblick in den Tag hineinzuträumen.
»Hahm. Voll Stolz schweift mein Blick über diese liebliche englische Landschaft...«
Er schaffte es schließlich doch, alles zu erwähnen, was erwähnt werden mußte, den korsischen Tyrannen, das freie englische Bauerntum, den König und den Prinzregenten, Lady Barbara und Richard. Als er geendet hatte, entstand wiederum eine peinliche Pause, die Leute sahen einander an, bis endlich einer der Bauern vortrat: »Drei Hurras für Mylady!«
Alle stimmten ein, so laut sie konnten, so daß Richard heftig erschrak und in lautes Gebrüll ausbrach.
»Drei Hurras für Sir Horatio! Eins, zwei, drei und ein Tigergebrüll!« Nun hatten sie nur noch die Pflicht, sich mit Anstand ins Haus zurückzuziehen, dann würde sich die versammelte Pächterschaft von selbst zerstreuen. Und damit war die Geschichte dann Gott sei Dank überstanden. In der Halle erwartete ihn der Diener John in einer Haltung, die dieser selbst wahrscheinlich für einwandfrei hielt. Er wollte ihm bald beibringen, seine Ellbogen am Körper zu halten, jedenfalls nahm er sich das etwas gelangweilt vor. Wenn er sich schon einen Diener hielt, dann wollte er auch etwas Richtiges aus ihm machen. Da war auch die Kinderfrau und stürzte sich auf Richard, um nachzusehen, ob er sich nassgemacht hatte. Und nun kam der alte Butler herbeigehumpelt und überreichte ihm auf einem Tablett einen Brief. Als Hornblower das Siegel erblickte, fühlte er, wie ihm das Blut zu Kopf stieg. Ein solches Siegel und dieses dicke Leinenpapier benutzte, soviel er wußte, nur die Admiralität. Monate waren vergangen, Monate, die ihm wie endlose Jahre vorgekommen waren, seit er das letztemal ein Schreiben der Admiralität in Händen gehabt hatte. Erregt und hastig griff er nach dem Brief und erinnerte sich nur dank einer gnädigen Vorsehung im letzten Augenblick daran, von Barbara mit einem kurzen Blick Vergebung zu heischen, ehe er das Siegel erbrach.
Die Beauftragten Lords der Admiralität White Hall, den 10. April 1812
Sir
Auf Befehl der Beauftragten Lords teile ich Ihnen mit, daß die Herren für Sie mit sofortiger Wirkung eine dienstliche Verwendung als Kommodore unter Beigabe eines unterstellten Kapitäns z. S. in Aussicht genommen haben. Es handelt sich um eine Aufgabe, die nach Meinung der Herren Lords sowohl Ihrem Dienstalter wie Ihrer Qualifikation durchaus angemessen ist. Sie werden daher ersucht und angewiesen, die Herren Lords durch mich schnellstens zu unterrichten, oh Sie das vorgeschlagene Kommando anzunehmen gedenken. Bejahendenfalls werden Sie weiterhin ersucht und angewiesen, sich unverzüglich bei der unterfertigten Dienststelle zu melden, um die mündlichen Befehle der Herren Lords entgegenzunehmen und, soweit erforderlich, auch die Anweisungen anderer Staatsminister einzuholen.
Ihr gehorsamster Diener
E. Nepean
Sekretär der Beauftragten Lords der Admiralität Hornblower mußte den Brief zweimal lesen - beim ersten Male war er noch außerstande, seinen vollen Sinn zu erfassen.
Erst beim zweiten Lesen kam ihm mit einem Schlage sein ganzes Glück zum Bewußtsein. Das erste, was ihm klar wurde, war dies: Das Leben hier in Smallbridge oder in der Londoner Bond-Street ging nicht in alle Ewigkeit weiter. Er war wieder frei von all diesen Fesseln und konnte sein Bad wieder unter der Deckwaschpumpe nehmen, statt in dieser verdammten Sitzwanne, die nur ein paar Tropfen Wasser faßte, er durfte wieder auf seinem eigenen Deck spazierengehen und die frische Seeluft atmen, er konnte diese verfluchten engen Hosen ein für allemal ablegen, brauchte keine Abordnungen zu empfangen, keine blöden Pächter mehr anzureden, keine Schweinekoben mehr zu riechen und keinem Gaul mehr auf die Hinterbacken zu klopfen. Aber das war ja nur die eine Seite der Angelegenheit, viel wichtiger noch war das andere, daß man ihm eine Verwendung als Kommodore zugedacht hatte - noch dazu als Kommodore erster Klasse mit einem unterstellten Kapitän z. S.
Damit hatte er faktisch die Stellung eines Admirals. Von nun an führte er den Breitwimpel des Kommodore im Großtopp und hatte Anspruch auf dessen Salut und sonstige Ehrenrechte. Nicht daß ihm darum zu tun gewesen wäre, aber es handelte sich eben doch um äußere Zeichen des Vertrauens, das er genoß, und des Ranges, den er sich verdient hatte. Louis bei der Admiralität konnte offenbar keine schlechte Meinung von ihm haben, wenn er ihn jetzt schon zum Kommodore ernannte, obwohl er in der Rangliste der Kapitäne noch kaum in die obere Hälfte aufgerückt war. Dieses ›sowohl Ihrem Dienstalter wie Ihrer Qualifikation angemessen‹ war natürlich nur eine Phrase, aus der die Admiralität das Recht ableiten konnte, ihn auf Halbsold zu setzen, falls er ablehnte. Dafür sagte die Bemerkung hier am Schluß, daß er auch›die Anweisungen anderer Staatsminister einholen sollte, um so mehr. Das konnte doch nichts anderes heißen, als daß ihm ein besonders verantwortungsvoller Auftrag, eine Aufgabe von internationaler Bedeutung zugedacht war.
Wogen freudiger Erregung schlugen über ihm zusammen.
Er zog die Uhr. Zehn Uhr fünfzehn - nach zivilen Vorstellungen war es also noch früh am Tage. »Wo ist Brown?« fuhr er Wiggins an.
Wie durch ein Wunder tauchte der Gesuchte auch schon im Hintergrund auf. - Vielleicht war dieses Wunder nicht einmal gar so groß, da ja das ganze Haus schon wußte, daß der Herr ein Schreiben von der Admiralität bekommen hatte.
»Richte meine beste Uniform und meinen Säbel her. Und laß den Wagen anspannen! Ich möchte, daß du mitkommst, Brown, du sollst kutschieren. Und halt, vergiß das Nachtzeug nicht, denk auch an dein eigenes.« Die Dienstboten sprangen nach allen Richtungen, handelte es sich doch nicht nur um gewichtige Anordnungen ihres Herrn, sondern ganz offenkundig um eine Staatsaktion, wodurch jede Aufgabe eine doppelte Bedeutung bekam. Als sich Hornblower endlich wieder auf seine Umgebung besann, sah er Lady Barbara ganz allein abseits stehen.
Mein Gott, er hatte sie in seiner Aufregung ganz vergessen, und sie hatte das natürlich genau bemerkt. Man sah ihr an, daß sie etwas niedergeschlagen war, ihr einer Mundwinkel hatte sich so gesenkt... Da trafen sich ihre Blicke, gleich hob sich der Mundwinkel wieder, es blieb aber nicht dabei, sondern sie ließ ihn alsbald erneut herabsinken.
»Ein Schreiben der Admiralität«, erklärte Hornblower lahm.
»Man will mich zum Kommodore mit unterstelltem Kapitän ernennen.«
Hornblower durchschaute ihre Bemühungen, sich erfreut zu zeigen, und empfand quälendes Mitleid mit ihr.
»Das ist eine hohe Ehre für dich«, sagte sie, »eine Ehre, die du aber auch vollauf verdient hast. Du hast allen Grund, dich darüber zu freuen, und ich freue mich mit dir.«
»Wir werden uns trennen müssen«, sagte Hornblower.
»Liebster, wir waren doch volle sechs Monate zusammen.
Sechs Monate eines Glücks, wie du es mir bereitet hast, sind mehr, als die beste Frau verdient. Und dann kommst du doch eines Tages wieder zu mir zurück.«
»Selbstverständlich«, meinte Hornblower.