18. Kapitel
Der Bugmann legte seinen Riemen ins Boot und griff nach dem Bootshaken, während Brown mit dem Chefboot in der wirbelnden Strömung der mächtigen Düna sauber an der Pier längsseit schor. Eine neugierige Schar von Rigensern beobachtete das Manöver und gaffte offenen Mundes, als Hornblower die steinernen Stufen zur Straße emporeilte, Epauletten, Ordensstern und Säbel glitzerten in der brennenden Sonne. Jenseits der Schuppenreihe am Quai vermutete er einen breiten, von spitzgiebligen, mittelalterlichen Häusern umstandenen Platz, aber er hatte keine Zeit, sich mit diesen ersten Eindrücken von der Stadt Riga zu befassen. Da stand schon die übliche Ehrenwache, die er begrüßen mußte, an ihrer Spitze der übliche Offizier und neben ihm die wohlbeleibte Gestalt des Gouverneurs, General Baron von Essen. »Die Stadt Riga heißt Sie willkommen«, sagte Essen. Er war ein Balte, ein Abkömmling jener deutschen Ritter, die Livland vor Jahrhunderten den Heiden entrissen hatten. Das Französisch, das er sprach, erinnerte in seiner explosiven Art etwas an den Dialekt der Elsässer. Ein offener Wagen mit zwei feurigen, unablässig tänzelnden Pferden erwartete sie. Der Gouverneur half Hornblower beim Einsteigen und setzte sich dann neben ihn. »Unser Weg ist nur ganz kurz«, sagte er, »aber wir wollen doch die Gelegenheit benutzen, uns dem Volke zu zeigen.«
Der Wagen holperte und schwankte ganz fürchterlich durch die mit Katzenköpfen gepflasterten Straßen, Hornblower rutschte zweimal, nach besonders heftigen Stößen, der Dreimaster aufs Ohr, so daß er ihn mit einem raschen Griff wieder zurechtsetzen mußte, aber er brachte es doch fertig, aufrecht und mit gleichmütigem Gesicht sitzenzubleiben, während sie durch enge, menschenerfüllte Straßen rasten und von allen Leuten mit höchster Neugier angestarrt wurden. Es konnte nicht schaden, wenn die Einwohner der belagerten Stadt einen britischen Seeoffizier in voller Uniform zu Gesicht bekamen, sein Anblick bot ihnen die Gewähr, daß Riga in dieser Stunde der Prüfung nicht ohne Freunde war.
»Das Haus der Ritterschaft«, erklärte Essen, als der Kutscher vor einem schönen alten Gebäude anhielt, das von einer Postenkette bewacht war. Im Haus empfingen sie Offiziere in Uniform, einige wenige Zivilisten in Schwarz und viele, viele Frauen in großen Toiletten. Einige der Offiziere hatte Hornblower schon am Morgen bei der Besprechung in Dünamünde kennengelernt; Essen beeilte sich, ihn mit den übrigen Anwesenden bekannt zu machen, soweit es sich um Leute von Rang und Bedeutung handelte. »Seine Exzellenz, der Herr Statthalter von Livland«, sagte Essen, »und Gräfin...«
»Ich habe bereits das große Vergnügen gehabt, Frau Gräfin kennenzulernen«, unterbrach ihn Hornblower.
»Der Kommodore war mein Tischherr bei einem Diner in Peterhof«, erklärte die Gräfin.
Sie war so schön und so lebenslustig wie je, während sie, die Hand auf dem Arm ihres Gatten, vor ihm stand, nur ihr Blick war vielleicht nicht ganz so schwül, wie er damals gewesen war.
Mit höflicher Gleichgültigkeit neigte sie vor Hornblower den Kopf, Ihr Mann war groß und knochig und alles andere als jung, von der Oberlippe hing ihm ein dünner Schnurrbart herab, und seine Kurzsichtigkeit zwang ihn dazu, ein Monokel zu tragen.
Lächerlich, daß ihn diese Begegnung verlegen machte, und doch war es so, aber er durfte sich um Gottes willen nichts anmerken lassen. Der Statthalter mit seiner Vogelnase sah ihn womöglich noch gleichgültiger an als seine Frau. Die meisten anderen Leute waren begeistert, einen englischen Seeoffizier kennenzulernen, der Statthalter allein bemühte sich gar nicht, zu verbergen, daß er, der unmittelbare Stellvertreter des Zaren und ständige Gast in den kaiserlichen Palästen, diesen provinziellen Empfang langweilig fand und daß auch der Ehrengast in seinen Augen nur irgendein kleiner Niemand war. Hornblower war jetzt mit der Etikette bei offiziellen russischen Festessen vertraut, vor allem wußte er, daß die Tische mit den Hors d'oeuvres nur einen vorbereitenden Imbiß boten. Wieder bekam er Kaviar und Wodka zu kosten, und heute weckte der herrliche Zusammenklang dieser beiden guten Dinge plötzlich einen Sturm von Erinnerungen in ihm. Gegen seinen Willen suchten seine Augen nach der Gräfin, dort stand sie und plauderte mit einem halben Dutzend würdiger Herren in Uniform. Nun begegnete ihm ihr Blick - eine Sekunde nur -, und doch lange genug. Der Blick schien ihm zu sagen, daß auch sie an damals dachte. Hornblower wirbelte ein wenig der Kopf, da faßte er sofort den Entschluß, heute Abend nicht mehr zu trinken. Er wandte sich ab und stürzte sich in ein Gespräch mit dem Gouverneur.
»Wie köstlich Kaviar und Wodka einander ergänzen«, sagte er, »dieses Paar reiht sich würdig all den anderen Zusammenstellungen an, die uns von den Pionieren des Feinschmeckertums geschenkt worden sind, wie Spiegeleier mit Speck, Rebhuhn mit Burgunder, Spinat und... und...« Er suchte nach dem französischen Wort für Schinken, bis ihm der Gouverneur zu Hilfe kam, wobei seine kleinen blauen Äuglein in dem runden, roten Gesicht vor Begeisterung aufleuchteten.
»Sie sind selbst ein Gourmet, Sir?«
Nun fiel es leicht, die übrige Zeit bis zum Diner auszufüllen, denn Hornblower hatte einige Übung darin, sich mit einem Partner über Kochkunst zu unterhalten, der auf diesem Gebiet Interesse mit Sachkunde vereinte. Mit Hilfe einiger Anleihen an seine Phantasie beschrieb er die Tafelgenüsse Westindiens und Mittelamerikas. Glücklicherweise hatte er sich während seines letzten Urlaubs mit seiner Frau in wohlhabenden Londoner Kreisen bewegt und an verschiedenen berühmten Tafeln gegessen, von denen vor allem die des Mansion House Erwähnung verdiente. Das gab ihm eine gute Grundlage an europäischer Erfahrung als nützliche Stütze für seine Phantasie.
Der Gouverneur dagegen hatte sich die Feldzüge, an denen er teilnahm, zunutze gemacht, um die Kochkunst der Länder zu studieren, in die er jeweils verschlagen wurde. Während der Kampagne von Austerlitz hatte er die Wiener und Prager Küche genossen, bei seinem Aufenthalt auf den Sieben Inseln retsinierten Wein gekostet, und als er die Frutti di mare erwähnte, die er in Livorno vorgesetzt bekam, während er unter Suwarow in Italien diente, da schlug er in heller Verzückung die Augen auf.
Ob bayerisches Bier, schwedischer Schnaps oder Danziger Goldwasser, er hatte von allem getrunken, genau wie er auch von allem gegessen hatte, ob es nun westfälischer Schinken war oder italienische Beccaficos oder türkische Rahat-Lakoumia.
Gespannt hörte er Hornblower zu, als dieser von den gebackenen fliegenden Fischen oder von dem Pfeffertopf erzählte, der eine Spezialität von Trinidad ist, und trennte sich mit echtem Bedauern von seinem Gesprächspartner, als ihn seine Pflicht dazu zwang, den Vorsitz an der Tafel zu übernehmen. Aber auch dann ließ er sich angelegen sein, Hornblower immer wieder auf die Speisen aufmerksam zu machen, die aufgetragen wurden. Dabei lehnte er sich weit vor, um ihn über zwei Damen und den Statthalter von Livland hinweg anzusprechen, und als das Diner vorbei war, entschuldigte er sich bei ihm, daß das Essen mit so stilwidriger Plötzlichkeit beendet werden mußte. Er beklagte sich bitter darüber, daß er sein letztes Glas Kognak so hastig hinunterstürzen mußte, weil man für die Festvorstellung des Balletts, die noch auf dem Programm stand, schon eine volle Stunde verspätet sei.
Mit schweren Schritten stieg er etwas später die steinerne Freitreppe des Theaters empor, seine Sporen klingelten silbern dazu, und der schwere Schleppsäbel an seiner Seite rasselte laut über die Stufen. Zwei Ordner gingen voran, und hinter Hornblower und Essen folgten die höchsten Spitzen der Gesellschaft, die Gräfin mit ihrem Mann und zwei weitere hohe Beamte mit ihren Frauen. Die Ordner öffneten die Logentür, und Hornblower wollte vor der Schwelle warten, um die Damen zuerst eintreten zu lassen. »Der Kommodore hat den Vortritt«, verkündete Essen. Hornblower kam der Aufforderung nach und trat ein. Das Theater war hell erleuchtet, vom Parkett bis zur Galerie drängte sich eine festliche Menge. Als Hornblower erschien, schlug ihm donnernder Applaus entgegen, der ihn für einen Augenblick förmlich lahmte, so daß er bewegungslos stehenblieb. In der nächsten Sekunde hatte er die glückliche Eingebung, sich erst nach der einen und dann nach der anderen Seite zu verbeugen - ›Wie ein Schauspieler‹ , sagte er sich. Nun stellte jemand einen Stuhl hinter ihn, und er nahm inmitten der mit ihm Erschienenen Platz. Sofort begannen die Theaterdiener im ganzen Zuschauerraum die Lampen niederzuschrauben, und das Orchester setzte mit der Ouvertüre ein. Dann hob sich der Vorhang, die Bühne zeigte eine Waldlandschaft. Und nun begann das Ballett.
»Ein frisches, junges Ding, diese Madame Nicolas«, sagte der Gouverneur in scharfem, durchdringendem Flüsterton. »Sagen Sie mir, ob sie Ihnen gefällt. Wenn Sie wollen, kann ich sie nach der Vorstellung kommen lassen.«
»Besten Dank«, flüsterte Hornblower zurück und war dabei verlegen wie ein Schuljunge. Dicht an seiner anderen Seite saß ja die Gräfin, und ihre warme Nähe wirkte so beunruhigend, daß er sich unmöglich wohl fühlen konnte.
Die Musik perlte durch den Raum, im goldenen Schein des Rampenlichts folgte das Ballett ihren verschlungenen Wegen, daß die Spitzenröckchen wehten und die schimmernden Beine flogen. Es wäre nicht ganz richtig zu sagen, daß Musik auf Hornblower überhaupt keine Wirkung ausübte. Wenn er gezwungen war, längere Zeit ohne Unterbrechung Musik zu hören, dann wühlte ihr eintöniger Rhythmus in den dunklen Tiefen seines Wesens, während ihn die Melodie mit ihrem angeblichen Wohlklang quälte wie eine chinesische Wasserfolter. Fünf Minuten Musik konnte er stumpf und teilnahmslos über sich ergehen lassen, fünfzehn Minuten machten ihn zappelig, eine ganze Stunde aber war eine unerträgliche Qual. Er zwang sich mit Gewalt, während dieser endlosen Folter stillzusitzen, obwohl er seinen Stuhl jederzeit mit Freuden gegen das heißeste Kampfgewühl auf dem Achterdeck eines Schiffes eingetauscht hätte. Er suchte sein Gehör gegen das hartnäckige, zudringliche Geräusch abzuschließen, sich abzulenken, indem er seine ganze Aufmerksamkeit den Tänzerinnen widmete, der Madame Nicolas, die in schimmerndem Weiß über die Bühne pirouettierte, und den anderen, die in reizendem Gleichmaß, die Fingerspitzen am Kinn und den Ellenbogen in die Hand gestützt, auf Spitze an die Rampe getänzelt kamen. Aber das verschlug alles nicht, sein Elend wurde von Minute zu Minute schlimmer.
Auch die Gräfin an seiner Seite begann unruhig zu werden. Ihre Gedanken teilten sich Hornblower mit, jedenfalls wußte er genau, was in ihr vorging. Aus der Literatur aller Zeiten, angefangen von der Ars amatoria bis zu den Liaisons dangereuses, kannte er rein theoretisch die Wirkung von Musik und Schauspiel auf das weibliche Gemüt, und in einem gewaltsamen Umschwung seines Gefühls haßte er in dieser Sekunde die Gräfin nicht minder als die Musik selbst. Er saß bewegungslos da und erduldete seiner Pflicht zuliebe stoisch die Qualen der verdammten Seelen. Nun rang er sich eine einzige Bewegung ab, die den Zweck hatte, seinen Fuß aus der Reichweite der Gräfin zu bringen. Er fühlte es, er wußte es, daß sie im nächsten Augenblick versuchen würde, ihn zu berühren, ohne Rücksicht darauf, daß ihr Mann mit seinem Vogelgesicht und dem eingeklemmten Monokel unmittelbar hinter ihnen saß.
Der Zwischenakt bot nur eine kurze Atempause, aber es schwieg doch wenigstens die Musik, und außerdem konnte man aufstehen. Die Logentür wurde aufgerissen, und er mußte sich blinzelnd an die einfallende Helligkeit gewöhnen. Dann verbeugte er sich höflich vor ein paar Nachzüglern, die dem englischen Gast ihre Aufwartung machen wollten und ihm durch den Gouverneur vorgestellt wurden. Aber die Pause schien ihm kaum begonnen zu haben, da war sie schon wieder vorbei, er mußte wieder Platz nehmen, das Orchester begann von neuem mit seinem infernalischen Gekratze, und dann öffnete sich der Vorhang für die nächste Szene.
Aber diesmal gab es eine wirksame Ablenkung. Hornblower war im ersten Augenblick noch nicht ganz sicher, was es war; der angespannte Wille, sich die Außenwelt abzuschließen, hatte ihn vielleicht die ersten warnenden Schüsse überhören lassen.
Aber dann erwachte er doch aus seinem Alptraum, weil er auch seiner Umgebung deutlich einen Wandel, eine neue, ängstliche Spannung anmerken konnte. Das Grollen des schweren Artilleriefeuers war nun deutlich zu vernehmen - das ganze Theater schien bei den heftigen Schlägen leise zu erzittern. Er hielt den Kopf ganz still, nur aus dem Augenwinkel versuchte er, einen Blick auf den Gouverneur zu erhaschen, der neben ihm saß, aber dieser war offenbar noch ganz von Madame Nicolas und ihrer Tanzkunst in Anspruch genommen. Dabei handelte es sich gewiß um ganz besonders schweres Feuer. Irgendwo in der Nähe schossen viele schwere Geschütze mit großer Feuergeschwindigkeit. Sein erster Gedanke waren natürlich seine Schiffe, aber die waren gut aufgehoben, das wußte er. Sie lagen vor der Mündung der Düna zu Anker, und wenn der Wind noch so stand, wie er beim Betreten des Theaters beobachtet hatte, dann konnte sie Bush unter allen Umständen in Sicherheit bringen, was immer geschah, auch wenn Riga selbst in diesem Augenblick einem Sturmangriff zum Opfer fiel. Das Publikum nahm sich ein Beispiel an der Haltung des Gouverneurs. Da sich dieser durch das Geschützfeuer nicht aus der Ruhe bringen ließ, machten auch die anderen Leute den tapferen Versuch, sorglos und unbeteiligt zu erscheinen. Dennoch wurde in der Loge die allgemeine Spannung deutlich fühlbar, als sich draußen auf dem steingepflasterten Gang rasche, sporenklirrende Schritte näherten. Sie kündigten die Ankunft eines Ordonnanzoffiziers an, der mit allen Zeichen der Eile eintrat und dem Gouverneur ein paar hastige Sätze ins Ohr flüsterte. Essen entließ ihn nach wenigen Worten. Als er wieder gegangen war, ließ er noch eine volle Minute verstreichen, die Hornblower so lang vorkam wie eine geschlagene Stunde. Erst dann beugte er sich zu ihm herüber: »Die Franzosen haben versucht, Dünamünde durch Handstreich zu nehmen«, erklärte er, »das ist natürlich völlig aussichtslos.«
Dünamünde war die Ortschaft, die am linken Dünaufer in dem von See und Strom gebildeten Winkel lag. Eine Belagerungsmacht, die darauf aus war, der Stadt Riga jede Hoffnung auf Entsatz von See her zu nehmen, mußte diesen Punkt natürlich zuerst angreifen. Dünamünde war fast eine Insel, die Bucht von Riga bot ihm Schutz von der Flanke, die eine volle Meile breite Düna deckte ihm den Rücken, und sonst war es von sumpfigen, grabendurchzogenen Marschen umgeben. Man hatte Meilen in der Runde die Bauern ausgehoben, um von ihnen schützende Brustwehren anlegen zu lassen. Wahrscheinlich versuchten die Franzosen, den Ort im Sturm zu nehmen, weil ihnen das im Fall eines Erfolges eine wochenlange Belagerung ersparte, außerdem wußten sie ja nicht, ob die Russen imstande oder willens waren, wirksamen Widerstand zu leisten. Macdonald begegnete hier der ersten ernsthaften Abwehr, seit er seinen Vormarsch durch Litauen begonnen hatte - die Hauptstreitkräfte der Russen verlegten Bonaparte bei Smolensk den Weg nach Moskau. Hornblower hatte erst heute morgen die Verteidigungswerke besichtigt, er hatte den besten Eindruck sowohl von der Stärke dieser Befestigungen als auch von der ruhigen Zuversicht der russischen Grenadiere, die sie besetzt hielten, und zog daraus die Folgerung, daß der Ort außer einer systematischen Belagerung nichts zu befürchten hatte. Und doch wünschte er sich jetzt, die felsenfeste Zuversicht teilen zu können, die der Gouverneur an den Tag legte. Andererseits war wirklich alles getan, was getan werden konnte. Fiel der Ort, dann fiel er eben, das war nicht zu ändern, aber es bedeutete auch nicht mehr als den Verlust eines Außenwerks. Wurde der Angriff jedoch abgeschlagen, dann verbot es sich dennoch, den Erfolg auszunutzen, solange Macdonald über sechzigtausend Mann verfügte, denen die Russen bestenfalls fünfzehntausend entgegenzusetzen hatten.
Daß Macdonald gegen Dünamünde einen Handstreich versuchte, war klar. Es war interessant zu überlegen, was er als nächstes unternahm, wenn dieser Versuch fehlschlug. Er konnte stromaufwärts marschieren und oberhalb der Stadt einen Übergang versuchen, dazu mußte er allerdings durch weglosen Bruch und Sumpf vordringen und an einer Stelle übersetzen, wo er keine Boote fand. Die andere Möglichkeit bestand darin, die Fahrzeuge zu benutzen, die ihm in Mitau in die Hand gefallen waren, und mit ihnen seine Truppen an der Mündung überzusetzen. Dünamünde blieb dann einfach im Rücken der Franzosen liegen, während sich die russische Besatzung von Riga vor die Wahl gestellt sah, entweder herauszukommen und sich dem Landungskorps zu stellen, oder aber den Rückzug auf St. Petersburg anzutreten. Es war wirklich schwer zu raten, für welche Möglichkeit Macdonald sich entscheiden würde.
Immerhin hatte er bereits Jussey vorgeschickt, um die Flußmündung zu erkunden. Obgleich er seinen Pionierchef bei diesem Unternehmen verloren hatte, mochte er die Aussicht, den Vormarsch gegen St. Petersburg ohne Verzug fortsetzen zu können, nach wie vor besonders verlockend finden.
Hornblower fand sich langsam wieder in seine Umgebung zurück und war höchst erfreut, daß ihm sein versunkenes Brüten über einen wesentlichen Teil des Balletts hinweggeholfen hatte.
Er hätte natürlich nicht sagen können, wie lange seine Geistesabwesenheit gedauert hatte, glaubte aber doch, daß darüber eine ziemliche Zeit verstrichen war. Jedenfalls schwiegen jetzt die Geschütze, das hieß, daß der Überfall entweder abgeschlagen war oder aber einen vollen Erfolg gehabt hatte.
In diesem Augenblick ging wieder die Tür auf, wieder trat ein Ordonnanzoffizier ein und flüsterte dem Gouverneur eine Meldung ins Ohr. »Der Angriff ist abgeschlagen«, sagte Essen zu Hornblower, »Jakouleff meldet, er habe fast keine Verluste gehabt, dagegen sei das Gelände vor der Ortschaft mit toten Franzosen und Deutschen übersät.«
Bei einem Fehlschlag des Angriffs war das nicht anders zu erwarten. Ein erfolgloser Überfall mußte dem Gegner schreckliche Verluste kosten. Macdonald hatte gehandelt wie ein Spieler, sein Einsatz waren ein paar tausend Menschenleben, der Gewinn, um den es ging, war das schnelle Ende der Belagerung. Er hatte dieses Spiel verloren. Dennoch konnte ein solcher anfänglicher Rückschlag eine »Grande Armee« höchstens zum Zorn reizen, nicht aber entmutigen. Die Verteidiger konnten also jeden Augenblick mit weiteren heftigen Angriffen rechnen.
Hornblower machte die herrliche Entdeckung, daß er wieder einen ganzen Akt des Balletts abgesessen hatte, ohne etwas davon zu merken. Da war schon die nächste Pause, durch die offene Tür fiel Licht in die Loge, und man konnte endlich wieder ein bißchen stehen und die Beine strecken. Er empfand es sogar als Erholung, höfliche Plattheiten mit den anderen auszutauschen und dabei ein Französisch anzuhören, das von den Sprachklängen halb Europas gefärbt war. Als die Pause zu Ende ging, nahm Hornblower mit ergebener Miene wieder auf seinem Stuhl Platz und war bereit, einen weiteren Akt des Balletts über sich ergehen zu lassen. Kaum hatte sich jedoch der Vorhang gehoben, da stieß ihn Essen heftig gegen den Schenkel, erhob sich und verließ die Loge. Hornblower folgte ihm auf dem Fuße.
»Wir wollen einmal nach dem Rechten sehen«, sagte er, sobald die Logentür hinter ihnen ins Schloß gefallen war. »Es hätte keinen guten Eindruck gemacht, wenn wir bei Beginn der Schießerei gleich aufgestanden wären. Jetzt ahnen die Leute nichts davon, daß wir in aller Eile aufgebrochen sind.« Vor dem Theater hielt eine Gruppe Husaren zu Pferde, während zwei Diener ein paar weitere Pferde an den Köpfen hielten.
Hornblower wurde sich darüber klar, daß er jetzt dazu verurteilt war, in seiner Galauniform einen Ritt zu unternehmen.
Immerhin hatte eine solche Zumutung heute für ihn nicht mehr die ernsten Folgen von früher, er dachte mit Behagen an das Dutzend Paar seidener Strümpfe, das auf der Nonsuch wohlverwahrt in Reserve lag. Essen stieg in den Sattel, und Hornblower folgte seinem Beispiel. Der strahlend helle Mond tauchte den ganzen Platz in sein klares Licht, als sie an der Spitze ihrer Eskorte klappernd über das Kopfpflaster trabten. Es ging um zwei Häuserecken und durch eine Straße, die mäßig bergab führte. Dann langten sie an der riesigen Schiffsbrücke an, die die Düna überspannte. Der Brückenbelag über den Pontons dröhnte hohl unter den Hufen der Gäule. Auf der anderen Seite lief der Weg auf einem hohen Steilufer entlang, das Land jenseits der Straße war von Gräben eingesäumt und durchschnitten, überall sah man Teiche und Tümpel, um die unzählige Lagerfeuer blinkten. Hier machte Essen halt und befahl dem Husarenoffizier, mit der halben Eskorte die Spitze zu nehmen.
»Ich habe keine Lust dazu, mich von meinen eigenen Leuten über den Haufen schießen zu lassen«, erklärte er dann, »die Wachen sind natürlich nervös, und in ein Dorf einzureiten, das gerade erst einen Nachtangriff hinter sich hat, ist sicher genauso gefährlich wie ein Sturmangriff auf eine Batterie.« Hornblower war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als daß er dieser Sorge große Aufmerksamkeit hätte schenken können. Es fiel ihm ohnehin schwer, sich im Sattel zu halten, und der Säbel, das Ordensband, der Stern und der Dreimaster machten ihm seine Aufgabe nur noch schwerer. Wie er da hopsend auf seinem Gaul saß, bot er wirklich alles andere als eine gute Figur. Trotz der nächtlichen Kühle vergoß er Ströme von Schweiß, und sobald er für einen Augenblick mit einer Hand die Zügel loslassen konnte, angelte er krampfhaft nach irgendeinem Stück seiner Ausrüstung. Sie wurden während ihres Rittes verschiedentlich angehalten, aber trotz der düsteren Prophezeiungen Essens fiel es keinem durchgedrehten Posten ein, auf sie zu schießen.
Wieder waren sie angerufen worden und zügelten ihre Pferde.
Sie hatten sich inzwischen Dünamünde so weit genähert, daß die Kuppel der Kirche sich schon schwarz gegen den blassen Himmel abhob. Als das Hufgeklapper schwieg, drangen andere Laute an Hornblowers Ohr, ein klagendes Jammern, hie und da übertönt durch laute Schmerzensrufe - ein ganzer Chor stöhnender und schreiender Menschenstimmen. Die Wache ließ sie passieren, und sie ritten in das Dorf ein. Nun fanden sie auch die Erklärung für all das Stöhnen und Schreien, denn ihr Weg führte rechts an einer fackelbeleuchteten Wiese vorbei, auf der augenscheinlich ein Verbandsplatz eingerichtet war. Im Vorüberreiten fiel Hornblowers Blick auf einen nackten Körper, der sich in Schmerzen wand und mit Gewalt auf einem Tisch festgehalten wurde, während sich die Arzte im Schein der Fackeln über ihn beugten wie Folterknechte aus der Inquisitionszeit und der Rasen ringsum mit stöhnenden, schmerzverkrümmten Verwundeten bedeckt war. Dabei hatte hier nur eine Plänkelei von Vorposten stattgefunden, eine ganz unbedeutende Affäre, die auf beiden Seiten höchstens ein paar hundert Mann gekostet hatte. Am Kirchentor saßen sie ab. Essen trat als erster ein und erwiderte die Ehrenbezeigung der bärtigen Grenadiere, die das Tor bewachten. Mitten im Dunkel des weiten Raumes schimmerte ein heller Lichtkreis um einige Leuchter mit brennenden Kerzen. Dort saß eine Gruppe von Offizieren an einem Tisch. Sie tranken alle Tee aus einem Samowar, der behaglich singend neben ihnen stand. Als der Gouverneur eintrat, standen alle auf, und Essen stellte vor:
»General Diebitsch, Oberst von Clausewitz - Kommodore Sir Hornblower.« Diebitsch war Pole und Clausewitz Deutscher - es war jener preußische Offizier, von dem Hornblower schon früher einmal gehört hatte, ein hochgebildeter Soldat, der zu der Überzeugung gekommen war, daß wahre Treue um Vaterland die Forderung an ihn stellte, Bonaparte unter allen Umständen bekämpfen, und zwar ohne Rücksicht darauf, auf welcher Seite sein König und sein Land dem Namen nach standen. Sie machten ihre Meldung in französischer Sprache. Der Feind hatte bei Mondaufgang den Versuch unternommen, die Ortschaft ohne Vorbereitung zu stürmen, und war blutig abgeschlagen worden. Man hatte auch Gefangene gemacht. Der Gegner hatte ein vorgeschobenes Gehöft besetzen können, war aber durch den eigenen Gegenangriff abgeschnitten worden. Außerdem waren auch an anderen Stellen des Dorfrandes einzelne Gefangene in russische Hand gefallen. Sie hatten den Verschiedensten Einheiten angehört.
»Die Leute sind schon vernommen worden«, sagte Diebitsch, und Hornblower mußte denken, daß er sich als Gefangener alles andere wünschen möchte, als dem General Diebitsch zum Verhör in die Hände zu fallen. »Ihre Aussagen waren recht wertvoll«, fügte Clausewitz hinzu und reichte dem Gouverneur ein Blatt Papier mit Notizen. Man hatte jeden Gefangenen nach seinem Bataillon gefragt, wie stark dieses sei, aus wie vielen Bataillonen das Regiment bestünde, zu welcher Brigade, welcher Division und welchem Armeekorps es gehöre.
Clausewitz war im Begriff, nach diesen Angaben ein vollständiges Bild von der Zusammensetzung der französischen Kontingente der Angriffsarmee zu entwerfen, und glaubte, daraus auch ihre Stärke ziemlich genau schätzen zu können.
»Die Stärke der preußischen Korps wissen wir ja schon«, warf Essen ein. Auf diesen Satz folgte ein peinliches Schweigen, wobei jeder vermied, dem Blick Clausewitz' zu begegnen. Von ihm rührten nämlich diese Angaben her.»In einer halben Stunde wird es hell«, lenkte Diebitsch ab und bewies damit mehr Taktgefühl, als man bei seiner äußeren Erscheinung von ihm erwartet hätte. »Vielleicht wollen sich die Herren von der Galerie aus selbst von der Lage überzeugen.«
Als sie die enge Steintreppe in der dicken Kirchenmauer erstiegen hatten und auf die offene Galerie hinaustraten, die rings um die Kuppel lief, war der Himmel schon wesentlich heller geworden. Das ganze flache Marschland war von hier aus einzusehen, die Gräben, die Seen und die schmale livländische Aa, die sich in unzähligen Windungen aus der Ferne heranschlängelte, fast am Fuß der Kirche vorbei durch den Ort floß und schließlich gerade in dem Winkel zwischen der See und der gewaltigen Düna mündete. Die Linien der Brustwehren und Verhaue, die man zur Verteidigung des linken Dünaufers aufgeworfen hatte, waren deutlich zu verfolgen. Was man jenseits davon sah, waren dürftige Anfänge von Erdwerken, mit deren Errichtung sich der Gegner bis jetzt anscheinend noch nicht ernstlich befaßt hatte. Der Rauch von tausend Kochstellen überzog das ganze Land.
»Wenn sich der Gegner dazu entschließt, eine regelrechte Belagerung durchzuführen«, begann Clausewitz in achtungsvoller Haltung, »dann wird er meiner Meinung nach auf folgende Weise vorgehen. Dort zwischen dem Fluß und dem Fichtengehölz, wird er seine erste Parallele ziehen, um von dieser aus Sappen gegen den Ort vorzutreiben. Die Batterien wird er dort auf jener Landenge aufstellen. Nach etwa drei Wochen Arbeit dürfte es ihm möglich sein, seine Batterien auf das Glacis selbst vorzuschieben und zum Sturm zu schreiten.
Der Gegner muß dieses Dorf auf jeden Fall wegnehmen, ehe er den Angriff auf die Stadt selbst beginnen kann.«
»Vielleicht haben Sie recht«, sagte Essen.
Hornblower konnte sich mit dem besten Willen nicht vorstellen, daß eine in vollem Vormarsch auf St. Petersburg begriffene napoleonische Armee von sechzigtausend Mann sich wirklich drei Wochen mit der Belagerung eines nebensächlichen Vorwerks aufhalten sollte, statt zunächst mit allen Mitteln einen schnellen Erfolg anzustreben, zumal sie das bereits durch den gestrigen Überfall versucht hatte. Er lieh sich von einem der Herren des Stabes ein Glas aus und widmete sich dann einem genauen Studium der Wasseradern und der Marschen, die sich vor ihm ausbreiteten. Dann ging er auf der Galerie um die Kuppel herum und betrachtete das stolze Bild der Stadt Riga, deren Türme jenseits des riesigen Stromes in den Morgenhimmel ragten. Flußabwärts in der Ferne konnte er gerade noch die Masten seines Geschwaders unterscheiden, das dort vor Anker lag, wo sich die Gewässer des Stromes mit denen der Bucht vermengten. Als winzige Punkte erschienen sie von hier aus, aber mochten sie sich auch in dieser Umgebung klein und unwichtig ausnehmen, deshalb war und blieb ihr Einfluß auf den Ablauf der Weltgeschichte doch nicht minder entscheidend.