21. Kapitel

Hornblower bemühte sich, einen französischen Brief an den Gouverneur aufzusetzen, das war ein schwieriges und ermüdendes Unterfangen. Manchmal fehlte ihm eine Vokabel, dann wieder stand er der Formulierung eines französischen Ausdrucks hilflos gegenüber, und bei jedem solchen Hindernis sah er sich dazu verurteilt, den begonnenen Satz zu streichen und von neuem zu beginnen.

Den Nachrichten zufolge, die soeben aus England eingegangen sind - so etwa versuchte er sich auszudrücken -, haben die Armeen Seiner Majestät des Königs von Großbritannien und Irland am 14. des vorigen Monats bei Salamanca in Spanien einen entscheidenden Erfolg davongetragen. Marschall Marmont, der Herzog von Ragusa, wurde verwundet, an zehntausend Mann gerieten in Gefangenschaft. Der Marquis of Wellesley, der die britische Armee befehligt, ist, nach den mir vorliegenden Nachrichten, in schnellem Vormarsch auf Madrid begriffen, das ihm mit Sicherheit in die Hände fallen wird. Die Auswirkungen dieser Schlacht können gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Hornblower fluchte leise vor sich hin. Nein, es war nicht seine Sache, dem Gouverneur Vorschläge zu machen, wie er diese Nachricht verwerten sollte. Allein die Tatsache, daß eine der Armeen Bonapartes in einer Schlacht großen Ausmaßes von einem gleichstarken Gegner entscheidend geschlagen worden war, hatte wirklich allergrößte Bedeutung. Wäre er selbst Gouverneur, dann würde er jetzt Salut schießen lassen, würde Aufrufe an allen Mauern anschlagen und überhaupt alles tun, um Soldaten wie Zivilisten neuen Kampfgeist einzuflößen, den sie für ihre ermüdende Aufgabe, Riga gegen die Franzosen zu halten, so dringend brauchen konnten. Was diese Nachricht gar für die russische Hauptarmee bedeutete, die jetzt im Süden zur Verteidigung Moskaus zusammengezogen wurde, das war überhaupt nicht abzuschätzen. Er unterschrieb und versiegelte den Brief, dann rief er nach Brown und übergab ihn diesem zur sofortigen Beförderung an Land. Neben ihm lag, abgesehen von den dienstlichen Schreiben, die er bekommen hatte, ein Stapel von fünfzehn Briefen, alle von Barbaras Hand. Barbara hatte ihm also seit seiner Ausreise pünktlich jede Woche geschrieben, und ihre Briefe hatten sich im Postbüro der Admiralität zu diesem Stapel angehäuft, bis endlich die Clam mit ihren Dienstsachen die Rückreise zum Geschwader antrat. Er hatte einstweilen nur den letzten geöffnet, um sich zu vergewissern, daß zu Hause alles wohlauf war. Jetzt nahm er ihn wieder auf, um ihn nochmals in Ruhe zu lesen.

Mein lieber Mann

Diese Woche stellte die große Siegesnachricht aus Spanien alles in den Schatten, was von hier zu berichten wäre. Arthur hat Marmont geschlagen. Damit ist dort die ganze Herrlichkeit der Usurpatoren zum Zusammenbruch verurteilt. Man sagt, daß Arthur Marquis werden soll. Ich weiß nicht mehr, habe ich Dir im ersten oder im zweiten Brief mitgeteilt, daß er Earl geworden ist? Hoffen wir, daß ich Dir bald von seiner Ernennung zum Herzog schreiben kann. - Nicht als ob ich den Ehrgeiz hätte, einen Herzog zum Bruder zu haben, sondern weil das wieder einen Sieg bedeuten würde. Ganz England spricht diese Woche von Arthur, so wie ganz England vor vierzehn Tagen von Kommodore Hornblower und seinen Taten in der Ostsee sprach. Unser Hauswesen in Smallbridge wird durch alle diese wichtigen Nachrichten so in Atem gehalten, daß unser größtes Ereignis hier fast unbeachtet geblieben wäre: Richard Arthur hat seine ersten Hosen bekommen. Er ist jetzt unwiderruflich ein Junge, und die Röckchen sind für immer verschwunden. Natürlich ist er für diesen großen Schritt noch verhältnismäßig jung, und Ramsbottom zerfloß in Tränen, als sie von ihrem Baby Abschied nehmen mußte. Aber wenn Du ihn sehen könntest, würdest Du zugeben müssen, daß er in seinen neuen Sachen besonders lieb aussieht. Sobald er allerdings der Aufsicht entwischt und seiner Lieblingsbeschäftigung nachgeht, die darin besteht, unter den Büschen Löcher in die Erde zu graben, dann ist es mit dem netten Aussehen bald vorbei. Er zeigt übrigens sowohl rein körperlich als auch geistig eine Vorliebe für die Erde, die bei dem Sohn eines so ausgezeichneten Seemannes ganz seltsam anmutet. Wenn ich diesen Brief beendet habe, dann werde ich ihn holen lassen, damit er Dir seine ›Unterschrift‹ anfügen kann.

Sicher wird er den Bogen dabei so mit schmutzigen Fingerabdrücken verzieren, daß niemand an der Echtheit seines Namenszuges zweifeln kann.

Hornblower blätterte um, richtig, da waren sie, die Spuren der kleinen Kinderhände, und mittendrin das krakelige X, das Richard Arthur unter den Namen seiner Stiefmutter hingemalt hatte. In diesem Augenblick packte ihn eine verzehrende Sehnsucht nach seinem Sohn. Wie gern hätte er ihn jetzt gesehen, wie er über und über voll Schmutz, aber glücklich und zufrieden sein Loch unter den Büschen auswühlte, voll Hingabe an sein Werk und mit jener herrlichen, unbeirrbaren Zielstrebigkeit, die ein Vorrecht der Kindheit ist. Über dem X standen die letzten Zeilen von Barbaras Hand: Wie immer träume ich ständig davon, daß mein geliebter Mann bald siegreich heimkehren wird. Dann werde ich endlich in der Lage sein, mich persönlich um die Vollendung seines Glücks zu bemühen, statt nur dafür zu beten, womit ich mich notgedrungen einstweilen begnügen muß.

Hornblower wollte unter keinen Umständen weich werden, er unterdrückte mit aller Gewalt jedes Gefühl der Rührung, das ihn ankommen wollte. Nun waren also schon zwei seiner Schwager Marquis, einer davon kommandierender General, er aber hatte es erst zum Ritter des Bath-Ordens gebracht und mußte aller Voraussicht nach - wenn die Abgänge unter den älteren Kapitänen nicht ungewöhnlich groß waren - noch mindestens acht Jahre warten, ehe er Konteradmiral wurde, vorausgesetzt natürlich, daß er überhaupt so lange am Leben blieb und daß nicht irgendein Disziplinarverfahren seiner Laufbahn plötzlich ein unrühmliches Ende bereitete. Er langte noch einmal nach dem Dienstschreiben, das er als erstes geöffnet hatte, und überlas von neuem den Satz, der für ihn im gegenwärtigen Augenblick von so großer Tragweite war:

Ihre Lordschaften haben mich beauftragt, Ihre besondere Aufmerksamkeit auf die Tatsache zu richten, daß die Regierung einer ausdauernden, zähen Verteidigung der Stadt Riga entscheidende Bedeutung beimißt. Sie haben mich davon in Kenntnis gesetzt, daß sie der Sicherheit des Ihrem Kommando unterstellten Geschwaders gegenüber allen der Verlängerung des Widerstandes dienenden Maßnahmen eine untergeordnete Bedeutung beimessen, und verpflichten Sie, ohne Rücksicht auf entstehende Gefahren, alles in Ihrer Macht Stehende zu tun, um den Gegner an der Fortsetzung seines Vormarsches auf St. Petersburg zu hindern.

Das heißt also, dachte Hornblower, Riga soll bis zum letzten Mann - und Schiff - verteidigt werden, und er selbst würde glatt erschossen, wenn man hinterher der Meinung war, daß er nicht das Letzte und Äußerste dazu beigetragen hätte. Er rief nach dem Chefboot und verschloß den Schreibtisch, dann griff er nach dem Hut, steckte nach kurzem Besinnen die Pistolen ein und ließ sich noch einmal nach Dünamünde hinüberrudern.

Die Ortschaft war nur noch ein Trümmerhaufen, allein die Kirche hielt noch immer stand. Ihre massiven Mauern hatten den Brand überdauert, der das unglückliche Dorf heimsuchte, und boten noch immer Schutz gegen den Hagel abprallender Geschosse, die ohne Unterlaß von den beschossenen Wällen her auf sie niedergingen. Es herrschte ein unerträglicher Leichengeruch, denn die vielen Toten waren nur in aller Eile bestattet worden und kaum mit Erde bedeckt. Von Keller zu Keller der Häuserruinen hatte man Gräben gezogen, damit man sich innerhalb des Dorfes einigermaßen sicher bewegen konnte.

Auch Hornblower benutzte sie, um zur Kirche zu gelangen. Der Blick von der Galerie verhieß nichts Gutes. Die Belagerer hatten bereits ihren zweiten Parallelgraben fertiggestellt, er lag kaum zweihundert Meter vor der Verteidigungslinie, und von ihm aus wurden schon wieder unaufhaltsam und ohne Erbarmen neue Truppen gegen die russischen Wälle vorgetrieben. Die schwere Batterie der Franzosen feuerte wieder ohne Pause, und die Russen vermochten dieses Feuer nur noch schwach zu erwidern, weil schon allzu viele Kanoniere gefallen und allzu viele Geschütze außer Gefecht gesetzt waren. Mannschaften wie Geschütze waren knapp geworden, deshalb war es besser, den verbliebenen Rest für die Abwehr des Sturmangriffes, der nun bald bevorstand, zu schonen. Am Wasser hatten die Belagerer auch eine wunderbare Batteriestellung ausgebaut, deren Geschütze die einzige Aufgabe hatten, die Kanonenboote dadurch abzuwehren, daß sie das Gebiet bestrichen, wo diese neulich geankert hatten. Es gab also keine Möglichkeit mehr, die überraschende Beschießung der Belagerungsbatterie zu wiederholen, die die Belagerer vier Tage Zeit und Mound das Leben gekostet hatte.

Clausewitz erläuterte Hornblower mit kühlen Worten die Lage, während sie beide dieses Bild durch ihre Gläser betrachteten. Für den Militärwissenschaftler war eine solche Belagerung in erster Linie eine Denkaufgabe. Es war möglich, den Fortschritt der Sappen und die zerstörende Wirkung der Artillerie mathematisch zu berechnen, jede Bewegung und Gegenbewegung vorauszubestimmen und den letzten Sturmangriff auf die Stunde genau anzukündigen. Die Zeit dafür war nun bald gekommen, denn schon war es nicht mehr möglich, den Kopf der Sappe ständig unter Feuer zu halten oder den Fortschritt der Belagerer durch Ausfälle wirksam zu verzögern. »Wenn die Franzosen wissen, daß ein Ausfall bevorsteht«, wandte Hornblower ein, »dann bereiten sie sich doch darauf vor?«

»Gewiß«, sagte Clausewitz. Seine kalten, grauen Augen zeigten keinen Ausdruck.

»Wäre es nicht besser, sie zu überraschen?«

»Natürlich, aber wie wäre das bei einer solchen Belagerung möglich?«

»Wir haben sie zum Beispiel mit unseren Kanonenbooten überrascht.«

»Ja, aber jetzt...«

Clausewitz zeigte auf die Batterie, die ihnen den inneren Teil der Bucht versperrte.

»Und doch...«, begann Hornblower. Aber dann verschluckte er den Rest dessen, was er hatte sagen wollen. Es hatte keinen Sinn, Kritik zu üben, wenn man nicht gleichzeitig einen Ausweg vorzuschlagen hatte. Noch einmal ließ er seinen Blick über die Belagerungswerke wandern und suchte dabei nach irgendeiner Erleuchtung, während rings um ihn die Geschütze donnerten.

Auch weiter flußaufwärts hörte man jetzt Artilleriefeuer, dort hatten nämlich die Franzosen eine neue Angriffsfront gegen die Riga gegenüberliegende Mitauer Vorstadt gebildet. Das zwang die Verteidiger, ihre Abwehrkräfte und Hilfsmittel aufs äußerste zu strecken und zu zersplittern. Macdonald hatte sich wie eine Bulldogge in diese Belagerung verbissen, es war bestimmt eine schwierige Aufgabe, ihn abzuschütteln. Ganz Preußen mußte ihm den Nachschub für seine Operationen liefern, er hatte schon bewiesen, daß sein Entschluß durch nichts zu erschüttern war.

Selbst der in seinem Rücken tobende Aufstand der lettischen, livländischen und litauischen Bauern, der im ganzen Lande Verwirrung und Unruhe schuf, vermochte es nicht, seine Pläne im mindesten zu beeinflussen.

»Die ersten Toten kommen den Strom herab«, bemerkte Clausewitz. Er hatte große, weiße Zähne, die er bei jeder Gelegenheit zu zeigen pflegte. Hornblower blickte ihn verständnislos an.

»Aus den Schlachten bei Witebsk und Smolensk«, erklärte Clausewitz, »die vor vierzehn Tagen zweihundert Meilen weiter südlich geschlagen wurden. Ein Teil der Leichen hat also die ganze Reise zurückgelegt. Viele Russen sind dabei, aber auch Franzosen, Bayern, Westfalen und Italiener - sehr viele Italiener.

Es muß eine große Schlacht gewesen sein.«

»Sehr interessant«, sagte Hornblower und befaßte sich noch einmal genau mit den Belagerungswerken. In der Mitte des zweiten Parallelgrabens befand sich eine neue Batterie, deren Feuer jeden Frontalangriff zur Zerstörung der Werke vereiteln mußte. Es war von der für den Ausfall bestimmten Truppe einfach nicht zu verlangen, daß sie über zweihundert Meter deckungslosen Vorfeldes gegen ein solches Feuer vorging und dann noch einen Wall und Graben stürmte. Aber es blieb nichts anderes übrig als ein solcher Angriff, denn die französischen Flanken waren gut gedeckt. Die eine lehnte sich an den Flußlauf, die andere verlief bis zur Bucht. Ja, die Bucht! Die französischen Batterien konnten sie bestreichen, so bestreichen, daß seine Kanonenboote dort bei Tage nicht mehr ankern konnten. Waren sie aber in der Lage, Infanterie aufzuhalten, die dort des Nachts mit Booten an Land gesetzt wurde? Wenn das gelang, dann konnte der Parallelgraben in der Morgendämmerung von der Flanke her angegriffen und aufgerollt werden. Hornblower wandte sich mit diesem Vorschlag an Clausewitz, und der nahm ihn sofort an. Diese Festlandsoldaten vergaßen bei ihren Planungen allzu leicht die Möglichkeiten der See. Clausewitz besaß aber, obgleich er Preuße war, glücklicherweise genug geistige Anpassungsfähigkeit, um die Vorzüge dieses auf der Beherrschung der See beruhenden Vorhabens sogleich zu erfassen. Wenn man dem letzten Sturm auf Dünamünde noch zuvorkommen wollte, dann war keine Zeit zu verlieren. Also mußte der Plan sofort ausgearbeitet werden. Da waren Zeiten festzulegen, Signale zu vereinbaren, Truppen für die Landung zu bestimmen und nach dem Punkt in Marsch zu setzen, wo Hornblower inzwischen die Schuten mit den Bootsbesatzungen klarmachte, die sie an den für die Landung vorgesehenen Platz bringen sollten. Hornblower mußte Besatzungen und Offiziere abteilen, ihnen seine Befehle geben und sicherstellen, daß sie auch richtig verstanden wurden. Montgomery, Duncan, Purvis und Carlin mußten sofort von Bord geholt werden, denn er mußte ihnen von hier, von der Kirche aus, die Stellen anweisen, wo sie landen sollten. Hornblower rannte immer wieder um die Galerie und rieb sich vor Ungeduld förmlich auf, bis sie endlich an Land erschienen. Reitende Boten holten gleichzeitig in fliegender Eile ein Dreigespann russischer Obersten heran und brachten sie gleichfalls auf die Galerie. Das waren die Kommandeure der Regimenter, die für die Landung ausersehen waren. Hornblower erklärte ihnen den ganzen Plan auf französisch und wiederholte die Erklärung für seine eigenen Offiziere auf englisch. Dann mußte er obendrein die Unmenge von Fragen verdolmetschen, die sie alle zu stellen hatten. Ein halbes Dutzend russischer Leutnants kauerte auf dem Boden der Galerie. Sie hatten alle Brettchen mit aufgeheftetem Papier auf den Knien und schrieben die Befehle nieder, die Clausewitz ihnen diktierte. Mitten in all dem geschäftigen Durcheinander erschien auch noch Essen. Er hatte sofort seine mündliche Zustimmung zu dem geplanten Angriff gegeben. Als er bei seiner Ankunft sah, daß die Vorbereitungen schon so weit gediehen waren, überließ er als vernünftiger Mann auch die weitere Ausarbeitung der Einzelheiten denen, die das Ganze entworfen hatten. All das vollzog sich unter dem unaufhörlichen Donner der Beschießung, der die ohrenbetäubende Begleitmusik zu jedem Gespräch abgab. Die russischen Wälle aber sackten inzwischen unter dem Hagel der Geschosse immer mehr in sich zusammen, und die Sappen krochen unaufhaltsam immer näher.

Kurz vor zwölf hatte Hornblower Clausewitz seinen Vorschlag gemacht, um acht Uhr abends, als die Sonne unterging, waren die Vorbereitungen beendet. Hornblower hatte sich zur Mündung der Düna rudern lassen, um die bereitgestellten Fahrzeuge zu besichtigen und der Einschiffung der russischen Grenadiere beizuwohnen.

»Haben Sie Ihre Befehle verstanden, Duncan?« fragte Hornblower. »Jawohl, Sir.«

»Wie spät haben Sie es? Stellen Sie jetzt Ihre Uhr nach der meinigen.«

»Aye, aye, Sir.«

»Mr. Montgomery, Mr. Purvis, denken Sie an das, was ich Ihnen über den Zusammenhalt des Landungskorps gesagt habe.

Sie müssen alle zu gleicher Zeit losschlagen - auf keinen Fall dürfen Sie in kleinen Gruppen landen. Stellen Sie auch sicher, daß die Soldaten genau wissen, in welcher Richtung sie vorzugehen haben.«

»Aye, aye, Sir.«

»Und nun, alles Gute!«

»Besten Dank, Sir.«

Als Hornblower wieder die kleine Landungsbrücke bei Dünamünde betrat, war es stockfinster, und außerdem war zum erstenmal wieder ein kalter Hauch in der Luft zu spüren. So weit war also das Jahr vorgeschritten, seit sie zum ersten Male in der Bucht von Riga geankert hatten. Der Sommer war dahin, der Herbst stand vor der Tür. Er tappte sich den dunklen Graben entlang, der zur Kirche führte, seine müden Beine trugen ihn kaum noch die unzähligen stockdunklen Stufen zur Galerie empor. Seit heute morgen war er nicht zum Sitzen gekommen, hatte er noch keinen Bissen gegessen, deshalb schwindelte ihm jetzt der Kopf vor Hunger und Müdigkeit. Clausewitz war hier oben immer noch auf dem Posten, zu seinen Häupten den klaren Sternenhimmel, der so viel Licht gab, daß es Hornblower nach der pechschwarzen Finsternis der Treppe hier oben geradezu hell vorkam.

»Bei den Franzosen geht es heute nacht ungewöhnlich lebhaft zu«, sagte Clausewitz an Stelle einer Begrüßung. »Sie haben die Besatzungen ihrer Gräben in der Abenddämmerung abgelöst.«

Plötzlich wurden die französischen Linien durch orangerote Stichflammen erleuchtet, und dann drang der Donner einer Salve zu ihnen herüber. »Von Zeit zu Zeit bestreuen sie unseren Graben mit Kartätschen«, erklärte Clausewitz, »um die Ausbesserungsarbeiten zu behindern. Das ist eine alte Regel.

Aber nach einem halben Dutzend Salven beginnen sie, was Richtung und Entfernung betrifft, sehr ungenau zu schießen.«

Wenn die Belagerungskunst so an starre Regeln gefesselt war, daß sich jeder Schritt des Gegners berechnen und voraussehen ließ, dann konnte ein selbständig denkender Kopf, der überraschend eigene Wege ging, um so eher auf einen Erfolg rechnen. Nach den Regeln waren die Breschen und Sappen in zwei Tagen sturmreif - was hielt aber den Angreifer davon ab, den Sturm etwas vorzeitig anzusetzen, um dadurch den Verteidiger zu überraschen? Hornblower deutete Clausewitz diese Möglichkeit an.

»Das ist natürlich denkbar«, gab der mit der Überlegenheit des Fachmanns zur Antwort, »aber unsere eigenen Grabenbesatzungen sind heute wegen des morgen bevorstehenden Angriffs ohnehin besonders stark.« Hornblower suchte im Dunkeln herum und fand zuletzt eins von den Strohbündeln, die man auf die Galerie geschafft hatte, um dieses vorgeschobene Stabsquartier wenigstens mit einem dürftigen Ruhelager auszustatten. Da seine Beine tatsächlich vor Müdigkeit zitterten, nahm er aufatmend Platz und hüllte sich dichter in seinen Mantel, um gegen die nächtliche Kühle etwas mehr Schutz zu finden. Der Gedanke, die Augen schließen, schlafen zu können, hatte etwas unendlich Verlockendes.

Schließlich konnte er nicht mehr widerstehen und ließ sich auf das krachende Stroh zurücksinken. Noch einmal stützte er sich auf den Ellbogen, um sich ein kleines Extrabündel als Kopfkissen unterzuschieben.

»Ich werde ein bißchen ruhen«, sagte er, dann schloß er die Augen. Hinter diesem Schlafbedürfnis stak in Wirklichkeit etwas mehr als bloße Müdigkeit. Wenn er schlief, dann war er weit weg von hier, von dieser Belagerung mit ihrem Gestank, ihrer Gefahr und ihren bitteren Erlebnissen, dann war er frei von aller Verantwortung, dann quälte ihn niemand mehr mit diesen ewigen Meldungen über Bonaparte und seinen unaufhaltsamen Vormarsch mitten ins Herz von Rußland, dann brauchte er sich nicht mit der qualvollen Erkenntnis herumzuschlagen, daß er einen verzweifelten, gänzlich hoffnungslosen Kampf kämpfte, weil der Feind so ungeheuer mächtig und überlegen war, daß er am Ende siegen mußte. Wenn er nur Schlaf fand, dann schwiegen alle bösen Geister, dann vergaß er alle Sorge und alles Leid. Heute nacht sehnte er sich so nach Schlaf, wie ein Mann sich sehnt, in die Arme seiner Geliebten zu sinken.

Seltsamerweise waren seine Nerven trotz der Aufregungen der letzten Wochen, vielleicht, nach dem Gesetz seiner widerspruchsvollen Natur, sogar wegen ihrer, ganz ruhig. Nun machte er es sich also auf seinem Strohlager bequem und schlief. Wilde Träume überfielen ihn, aber er war sich doch irgendwie im klaren, daß diese Geister nicht halb so schlimm sein konnten wie die Gedanken, mit denen er sich in seinen wachen Stunden abquälen mußte.

Er wachte davon auf, daß Clausewitz ihn an der Schulter anstieß. Wie ein Zusammensetzspiel mußte er die Teile seines bewußten Ich ineinanderfügen, bis wieder der Hornblower aus ihm wurde, der hier den Russen Riga verteidigen half.

»In einer Stunde beginnt die Dämmerung«, sagte Clausewitz, der sich wie ein schwarzer Schatten gegen den dunklen Himmel abhob. Hornblower setzte sich auf, er war unter der dünnen Decke seines Mantels vor Kälte ganz steif geworden. Wenn alles gut gegangen war, dann lief die Landungsabteilung jetzt drüben in die Bucht ein. Er starrte über die Brüstung der Galerie, aber es war viel zu dunkel, um irgend etwas unterscheiden zu können. Da tauchte noch ein Schatten neben ihm auf und gab ihm etwas Heißes in die Hand - ein Glas Tee. Dankbar trank er in kleinen Schlucken und fühlte, wie ihn die Wärme angenehm durchrieselte. Irgendwo hörte man den schwachen Knall eines Gewehrschusses, Clausewitz wollte eben etwas zu ihm sagen, da begann plötzlich in dem Niemandsland zwischen den beiden Gräben ein wildes Feuergefecht und schnitt ihm das Wort ab...

Überall zuckten die spitzen Mündungsflammen der Gewehre in das nächtliche Dunkel. »Wahrscheinlich Patrouillen, die die Nerven verloren haben«, sagte Clausewitz. Aber die Schießerei wollte und wollte nicht aufhören. Im Gegenteil, sie wurde immer heftiger. Das da unten sah aus wie eine große feurige Pfeilspitze, die gegen eine ungeordnete Masse aufblitzender Flammen zielte. Offenbar traf dort ein Angriffskeil auf eine Verteidigungslinie. Jedesmal, wenn eine ratternde Salve fiel, flammten die Blitze auf, dann hüllte sich alles wieder in Dunkel.

Bald tauchten hier und dort die großen, dunkelroten Mündungsflammen der Geschütze auf, und kurz darauf sah man auch noch die Flammen anderer Feuer, da sowohl die Angreifer als auch die Verteidiger Feuerbrände - Brandgranaten - vor ihre Linien schossen, um den Gegner zu beleuchten. In diesem Augenblick zog unten von der Bucht aus ein feuriger Ball seine goldene Bahn bis hoch in den Himmel und zerbarst, am Scheitelpunkt angelangt, in eine Menge purpurner Sterne.

»Gott sei Dank!« wollte Hornblower sagen, aber er behielt die Worte bei sich.

Das Landungskorps war schon etwas vorzeitig in seiner Ausgangsstellung angelangt, und irgendwer, Engländer oder Russe, hatte den einzig vernünftigen Entschluß gefaßt, sofort mit dem Flankenangriff zu beginnen, als er an Land das heftige Feuergefecht beobachtete. Clausewitz wandte sich um und stieß einen Befehl hervor, ein Adjutant eilte sofort die Treppe hinunter, um ihn weiterzugeben. Fast im gleichen Augenblick kam ein Melder von unten heraufgestürmt und sprudelte so aufgeregt auf russisch los, daß Clausewitz, der die Sprache nur unvollkommen beherrschte, nicht alles verstand und ihn veranlassen mußte, seine Sätze langsamer zu wiederholen. Als er die Meldung schließlich verstanden hatte, wandte er sich an Hornblower. »Der Gegner ist mit starken Kräften angetreten, offenbar hat er versucht, uns zu überraschen. Wenn er Erfolg hat, spart er zwei Tage.« Unten erhob sich neuer Gefechtslärm.

Das Landungskorps war auf den ersten Widerstand gestoßen, und nun flammte auch in dem dunklen Ufergelände ein ganzes Muster zuckender Blitze auf. Die Schlacht entbrannte immer heftiger und dort, wo Angriff, Gegenangriff und Flankenangriff zusammenstießen, war ihr Brennpunkt. Der Tag begann allmählich zu grauen, jedenfalls war es schon hell genug, um zu unterscheiden, daß Clausewitz heute nicht so adrett aussah, wie man es sonst an ihm gewohnt war. Er war unrasiert, und seine Uniform war ganz zerdrückt und voller Stroh. Vom Gefecht selbst war immer noch nichts zu erkennen, man sah im Halbdunkel nur die undeutlichen Umrisse ziehender Qualmwolken. Unwillkürlich dachte Hornblower an die Verse in Campbells ›Hohenlinden‹ , in denen der Dichter schildert, wie der flache Strahl der Morgensonne das dunkle Schlachtengewölk vergebens zu durchdringen versucht. Aber das Knattern der Gewehre und der Donner der Artillerie verkündeten deutlich genug, wie hart das Ringen war. Einmal hörte Hornblower kräftiges Geschrei aus vielen tiefen Männerkehlen, dem ein wildes Geheul antwortete.

Wahrscheinlich war da irgendein Angriff auf einen Gegenangriff gestoßen. Immer heller und deutlicher wurde das Bild, und nun begannen allmählich die Meldungen einzulaufen.

»Schewstow hat die Batterie gestürmt, die das Ufer decken soll«, sagte Clausewitz freudig erregt.

Schewstow war der General, der das Landungskorps befehligte. Wenn er die Batterie gestürmt hatte, dann konnten sich die Bootsbesatzungen ungestört aus der Bucht zurückziehen. Die Ankunft seines Melders hier in Dünamünde bedeutete überdies, daß er bereits Fühlung mit der Verteidigung hatte, es war also anzunehmen, daß ihm die Durchführung seiner Aufgabe, die französische Flanke einzudrücken, gelungen war.

Das Feuer schien jetzt schwächer zu werden, aber der Rauch, der sich nun mit dem herbstlichen Bodennebel vermischte, verbarg noch immer alle Vorgänge dem Blick. »Kladow ist in die Sappen eingedrungen«, fuhr Clausewitz fort. »Seine Arbeitsgruppen zerstören die Gräben und Brustwehren.« Der Gefechtslärm lebte wieder auf, Mündungsfeuer war jedoch nicht mehr zu sehen, dazu war es schon zu hell. Offenbar tobte jetzt da draußen ein Kampf auf Leben und Tod. Die Vorgänge hielten den Stab auf der Galerie so in Spannung, daß die Ankunft des Gouverneurs kaum Beachtung fand. Alle starrten in den Qualm hinaus und suchten irgend etwas zu erkennen. Mit einigen schnellen Fragen hatte Essen von Clausewitz alles Nötige erfahren und wandte sich dann an Hornblower.

»Ich wollte eigentlich schon vor einer Stunde hier sein«, sagte er, »aber der Eingang einiger wichtiger Depeschen hat mich aufgehalten.« Das massige Gesicht des Generals von Essen verriet düsteren Ernst. Er nahm Hornblower am Arm und zog ihn außer Hörweite der jüngeren Stabsoffiziere. »Schlechte Nachrichten?« frage Hornblower.

»Leider die allerschlimmsten. Wir haben vor Moskau eine große Schlacht verloren, Bonaparte ist in die Stadt eingedrungen.«

Das war allerdings die schlimmste Nachricht, die man sich denken konnte. Hornblower konnte sich vorstellen, daß die künftigen Geschichtsschreiber diese Schlacht zu den großen Entscheidungen zählen würden, wie sie schon bei Marengo, bei Jena und bei Austerlitz gefallen waren, zu den Schlägen, die einer ganzen Nation den Todesstoß versetzten. Und die Besetzung von Moskau spielte wohl eine ähnliche Rolle wie der Einmarsch in Wien und Berlin. Noch eine oder zwei Wochen weiter, dann bat Rußland um Frieden, wenn es nicht jetzt schon so weit war, und dann - stand England allein gegen eine ganze Welt in Waffen. Wen gab es dann noch auf dem ganzen weiten Erdenrund, der Bonapartes List und Bonapartes Macht Widerstand zu leisten vermochte? Vielleicht die britische Flotte?

Hornblower zwang sich, den Schlag gelassen hinzunehmen, er wollte nicht, daß man ihm etwas von der Bestürzung anmerkte, die ihn bei dieser Nachricht gepackt hatte. »Wir werden uns dadurch nicht irremachen lassen«, sagte er. »Nein«, sagte Essen, »meine Leute werden kämpfen bis zum letzten Mann. Und die Offiziere nicht minder.«

Bei diesen Worten deutete er mit einer Kopfbewegung auf Clausewitz. Dabei sah es fast aus, als verzöge er sein Gesicht zu einem Grinsen. Ja, von dem Mann dort konnte man wirklich sagen, daß er den Kopf schon in der Schlinge hatte. Kämpfte er denn nicht gegen sein eigenes Land? Hornblower erinnerte sich an den Wink Wellesleys, daß sein Geschwader vielleicht dazu bestimmt war, dem russischen Hof Zuflucht zu bieten. Er malte sich aus, wie sich dann auf seinen Schiffen jene unglücklichen Menschen drängen würden, die aus diesem Lande flüchten mußten, dem letzten von ganz Europa, das Bonaparte jetzt noch die Stirn bot.

Dunst und Rauch wurden allmählich dünner, stellenweise war das Schlachtfeld bereits zu erkennen. Hornblower und Essen wandten sich wieder der Gegenwart und ihren Aufgaben zu und fühlten erleichtert, wie sie das von ihren düsteren Zukunftsbetrachtungen ablenkte. »Ha!« rief Essen auf einmal und zeigte ins Gelände hinaus. Die Laufgräben waren jetzt zum Teil schon deutlich zu erkennen. Hier und dort zeigten sich in ihren Brustwehren breite Lücken. »Kladow hat seine Befehle gut ausgeführt«, sagte Clausewitz. Bis diese Lücken, eine nach der anderen, angefangen vom ersten Parallelgraben, wieder ausgefüllt waren, konnte niemand den Kopf der Sappe erreichen. Jedenfalls war es für stärkere Verbände unmöglich, die Gräben zum Vorgehen zu benutzen. Zwei Tage Zeitgewinn brachte dieses Unternehmen auf jeden Fall ein, stellte Hornblower fest, während er das Ausmaß der angerichteten Zerstörungen abzuschätzen suchte - er hatte jetzt schon so viel Erfahrung, daß er sich den weiteren Verlauf solcher Belagerungsoperationen ganz gut vorstellen konnte. Das schwere Feuer hatte immer noch nicht aufgehört, es rührte daher, daß die Nachhut den Rückzug der Angriffstruppen in ihre befestigten Stellungen zu decken suchte. Essen legte sein riesiges Fernrohr auf die Schulter seines Adjutanten und stellte es auf diese Bewegungen ein. Hornblower blickte gleichzeitig durch sein eigenes Glas. Er sah die großen Schuten des Landungskorps verlassen am Strand liegen und konnte weit draußen in sicherer Entfernung die Boote unterscheiden, die deren seemännische Besatzungen an Bord der Schiffe zurückbrachten. Essen legte ihm die Hand auf die Schulter und zog ihn zu sich herum. »Sehen Sie dort, Kommodore!«

Hornblower konnte durch sein Glas sofort erkennen, was Essen ihm zeigen wollte. Einzelne versprengte feindliche Soldaten trieben sich auf dem Rückweg zu ihren Aufnahmestellungen immer noch im Niemandsland herum und - Hornblower beobachtete es mit eigenen Augen - stachen mit dem Bajonett auf die russischen Verwundeten ein, die sie unterwegs liegen sahen. Im Grunde war es wohl nicht einmal zu verwundern, daß diese lange und blutige Belagerung die Menschen so rachsüchtig und roh machte, wie sie es hier beobachten konnten. Das galt vor allem für die Soldaten Bonapartes, die nun schon seit Jahren, viele seit ihrem Knabenalter, durch alle europäischen Länder zogen und von dem lebten, was ihnen das Land zu bieten hatte, für die es nur ein Recht gab, das der Muskete und des Bajonetts. Essen war ganz weiß vor Wut, und Hornblower gab sich Mühe, seine Entrüstung zu teilen, doch wollte es ihm nicht recht gelingen.

Diese Grausamkeiten kamen ihm nicht überraschend. Konnte man denn von diesen Leuten etwas anderes erwarten? Er selbst sah es zwar auch in Zukunft als seine Aufgabe an, die Soldaten und Seeleute Bonapartes im Kampf zu töten, aber er wollte sich dabei auf keinen Fall vormachen, er handelte ›gerecht‹ , wenn er auch nur einen Mann deshalb tötete, weil irgendein anderer Landsmann von ihm an einem seiner Bundesgenossen zum Mörder geworden war.

In den Ruinen des Dorfes wurden diejenigen Verwundeten versorgt, denen es gelungen war, sich zurückzuschleppen.

Hornblower sah sich das mit an, als er auf dem Rückweg wieder durch die Gräben wanderte, und sagte sich schaudernd, daß wahrscheinlich diejenigen noch das bessere Los gezogen hatten, die im Niemandsland mit einem Bajonett den Gnadenstoß erhielten. Dann bahnte er sich seinen Weg weiter durch eine Menge rauchgeschwärzter, zerlumpter russischer Soldaten. Sie standen in Gruppen zusammen und unterhielten sich in jener lauten, hemmungslosen Art, die unmittelbar nach einem schwer errungenen Sieg bei den meisten Männern zu beobachten ist.