22. Kapitel

Unter den Bergen von Post, die endlich aus England eingetroffen war, befanden sich große Pakete mit gedruckten Flugblättern in französischer, deutscher, zu einem kleinen Teil sogar in holländischer und dänischer Sprache. Es handelte sich um Aufrufe an die Truppen Bonapartes, seine Fahnen zu verlassen. Diese Aufrufe forderten aber nicht etwa zu Massendesertationen auf, sie wandten sich vielmehr an den einzelnen Soldaten und versicherten ihm, daß er einer guten Aufnahme sicher sein könne, wenn er überliefe. Vor allem aber traten sie den Anklagen entgegen, die Bonaparte in allen seinen Proklamationen wiederholte, daß nämlich England seine Kriegsgefangenen auf Hulks eingesperrt hielte, die schwimmende Höllen seien, und daß Deserteure durch schlechte Behandlung dazu gezwungen würden, in Englands Söldnerregimentern Dienst zu nehmen. Sie stellten dem Überläufer im Gegenteil ein angenehmes Dasein und persönliche Sicherheit in Aussicht, wenn sie nicht von der ehrenvollen Möglichkeit Gebrauch machen wollten, freiwillig in englische Dienste zu treten und sich persönlich an der Niederwerfung des Tyrannen zu beteiligen. Das französische Flugblatt war ohne Zweifel ausgezeichnet geschrieben, die anderen standen ihm wohl nicht nach. Vielleicht war Canning oder der andere Bursche - wie hieß er doch gleich? -, richtig, Hokham Frere, an ihrer Abfassung beteiligt.

Das Begleitschreiben zu diesen Flugblättern verpflichtete ihn dazu, sie den Soldaten Bonapartes durch alle denkbaren Mittel in die Hände zu spielen. Dem Schreiben war als besonders interessante Anlage die Abschrift eines Briefes beigefügt, der von Bonaparte an Marmont gerichtet war und den man wahrscheinlich irgendwo in Spanien abgefangen hatte. Darin tobte der Kaiser gegen diesen neuen Beweis britischer Falschheit und Perfidie. Offenbar hatte er einige der ersten Flugblätter zu sehen bekommen und fühlte sich dadurch an einer empfindlichen Stelle getroffen. Nach der Ausdrucksweise, die er gebrauchte, machte ihn dieser Versuch, seine Untergebenen zur Untreue zu verführen, völlig rasend. Die wütenden Ausfälle, mit denen der Kaiser diese neue Art der Kriegführung beantwortete, legten die Vermutung nahe, daß sie ihre Wirkung nicht verfehlte. Da waren zum Beispiel die Preußen unter Macdonald.

Diese Leute waren von zu Hause her gutes Essen und anständige Behandlung gewohnt, jetzt aber sahen sie sich auf magere Rationen gesetzt, weil das ganze Land ringsum durch Requisitionen schon völlig ausgesogen war. Die Aussicht auf Ruhe, Sicherheit und gute Kost mochte bei diesen Menschen Wunder wirken, besonders wenn man gleichzeitig den Versuch machte, ihr vaterländisches Gewissen wachzurufen. Beides zusammen konnte wirklich viele dazu bringen, daß sie mit dem Desertieren Ernst machten. Hornblower entwarf im Geist bereits ein dienstliches Schreiben an den Gouverneur. Er wollte ihm vorschlagen, ein paar Hausierer in das französische Lager zu schicken, die dort die Flugblätter verteilen sollten, während sie zum Schein den Soldaten ihre Waren feilhielten. Hier vor Riga, wo die Truppen Bonapartes nichts als Härten zu erdulden hatten, ohne daß sie wesentliche Erfolge sahen, wirkte ein solcher Aufruf wahrscheinlich ganz anders als bei Bonapartes siegreicher Hauptarmee in Moskau. Hornblower konnte den hochgestimmten russischen Bericht über den Brand von Moskau und den glühend begeisterten Aufruf Alexanders, daß er niemals Frieden schließen wolle, solange noch ein französischer Soldat auf russischem Boden stehe, nicht recht ernst nehmen. Nach seiner Meinung war das französische Soldatentum immer noch unerschüttert in seiner Haltung, war die Macht Bonapartes immer noch groß genug, um Rußland mit der Spitze des Bajonetts in der eigenen Hauptstadt zum Frieden zu zwingen, mochten die Zerstörungen in dieser Stadt noch so groß sein - mochten sie sogar das Ausmaß erreichen, das Moskau selbst gemeldet hatte. Es klopfte an der Tür.

»Herein!« schrie Hornblower ungehalten. Er ärgerte sich über diese Störung, weil er vorgehabt hatte, den ganzen Tag zur Erledigung seiner rückständigen Schreibarbeiten zu verwenden.

»Ein Brief von Land, Sir«, sagte der Fähnrich der Wache. Es handelte sich nur um eine kurze Mitteilung des Gouverneurs. Ihr wesentlicher Inhalt ließ sich in folgenden zwei Sätzen ausdrücken:›Haben Sie Zeit zu einem kurzen Besuch bei mir?

Ich habe neue Gäste in der Stadt, die Sie bestimmt interessieren werden.‹

Hornblower seufzte. Wenn es so weiterging, wurde sein Bericht für London nie fertig. Aber er durfte diese Einladung nicht ablehnen. »Lassen Sie das Chefboot klarmachen«, sagte er zu dem Fähnrich und machte sich gleich daran, seinen Schreibtisch abzuschließen. Weiß Gott, was das wieder war - ›Neue Gäste!‹ Diese Russen taten oft wegen irgendwelcher Kleinigkeiten so schrecklich geheimnisvoll. Vielleicht stak überhaupt nichts dahinter, aber andererseits mußte er doch unbedingt wissen, was los war, ehe er seinen Bericht nach England abschloß. Während sein Boot landwärts über das Wasser tanzte, wanderte sein Blick über die Belagerungslinien.

Das Bombardement der Artillerie ging ohne Unterbrechung Salve um Salve weiter, er hatte sich an den ständigen Geschützdonner schon so gewöhnt, daß er ihn nur noch hörte, wenn er besonders darauf achtete. Über dem flachen Land lag wie gewöhnlich ein dicker Schleier von Rauch. Dann lief das Boot in die Mündung ein, und die Ruinen von Dünamünde entzogen sich der Sicht, mit Ausnahme der Kirche, auf deren Galerie er so oft gestanden hatte. Immer näher kamen sie der Stadt, dabei mußten sie sich möglichst dicht am Ufer halten, damit ihnen die Strömung nicht allzuviel von ihrer Fahrt nahm.

Endlich wurden die Riemen eingenommen, und das Boot glitt an den Stufen der Ufermauer längsseits. Oben wartete bereits der Gouverneur mit seinem Stabe und einem Pferd für Hornblower.

»Wir haben nicht lange zu reiten«, sagte Essen, »und Sie werden mir nachher zugeben, daß es sich gelohnt hat.«

Hornblower kletterte auf seinen Gaul und dankte dem Burschen, der ihn solange an der Trense festhielt, mit einem Kopfnicken. Dann jagte die ganze Kavalkade mit lautem Hufgeklapper durch die Straßen der Stadt. Am Ostrande der Festung wurde ihnen ein Hinterpförtchen geöffnet - bis jetzt hatte sich auf diesem Dünaufer noch kein feindlicher Soldat gezeigt -, und sie ritten über die Zugbrücke, die den Graben überspannte. Jenseits davon, auf dem Vorfeld außerhalb des Festungsgrabens, erblickte man ein starkes Kontingent rastender Soldaten. Die Leute hockten oder lagen in Reih und Glied auf dem Boden. Als der Reitertrupp näher kam, sprangen sie hastig auf, richteten ihre Reihen aus und präsentierten unter dem schrillen Geschmetter ihrer Trompeten die Gewehre. Die Regimentsfahnen flatterten in der leichten Brise. Essen parierte sein Pferd und erwiderte den Salut. »Na, was sagen Sie dazu?« fragte er lachend Hornblower. Die Soldaten waren in einem üblen Aufzug - durch die Löcher ihrer blauen oder schmutziggrauen Uniformen sah man oft genug bis auf die nackte Haut. Dazu machte die ganze Truppe einen schlappen, unsoldatischen Eindruck. Auch die besten Soldaten konnten einmal müde und abgerissen aussehen, wenn sie harte Tage hinter sich hatten, als Hornblower jedoch an den Gliedern dieser Regimenter entlangblickte, drängte sich ihm ein ganz anderer Eindruck auf. Hier nahm man Schmutz und Unordnung einfach hin - es fiel keinem Menschen ein, sie zu bekämpfen.

Hornblower sah, daß Essen immer noch stillvergnügt vor sich hin lächelte, und gab sich die größte Mühe, endlich herauszufinden, was ihn denn so belustigte. Er hätte ihn bestimmt nicht hierher geschleppt, wenn es sich nur darum gehandelt hätte, sich abgerissene, zerlumpte Soldateska anzusehen. Davon hatte er in den letzten drei Monaten so viel zu sehen bekommen, daß es ihm für den Rest seines Lebens vollauf genügte. Hier standen gewiß mehrere tausend Mann, eine starke Brigade oder eine schwache Division. Hornblower machte sich eben daran, die Regimentsfahnen zu zählen, um festzustellen, wie viele Einheiten da versammelt waren, da hätte er vor Überraschung beinahe sein mühsam gewahrtes Gleichgewicht verloren. Diese Fahnen waren rot und gelb, das waren doch die spanischen Nationalfarben! Als ihm diese Erleuchtung kam, erkannte er auch an den zerfetzten Uniformen die Spuren des bourbonischen Weiß-Blau, das er vor zehn Jahren während seiner Gefangenschaft in Ferrol so hassen gelernt hatte. Aber damit nicht genug. Am linken Flügel der Linie war noch eine einzelne, blausilberne Standarte zu erkennen, die portugiesische.

Sie wehte an der Spitze eines zusammengeschrumpften Bataillons, das wirklich nicht viel anders aussah als eine Schar von Vogelscheuchen.

»Sie sind überrascht, Sir! Das habe ich mir gedacht«, sagte Essen immer noch lachend.

»Was sind dies für Leute?« fragte Hornblower.

»Ein paar von den willfährigen Bundesgenossen Bonapartes«, erwiderte Essen ironisch. »Sie gehörten zum Korps St. Cyr in Polozk. Als sie eines Tages am äußersten linken Flügel standen, kamen sie auf den Gedanken, sich stromabwärts durchzuschlagen und zu uns zu stoßen. Kommen Sie, wir wollen zu ihrem General.«

Er ritt an und trabte mit Hornblower an den Linien entlang, bis sie zu einem gleichfalls ganz zerlumpten Offizier gelangten, der auf einem klapperdürren Schimmel saß. Sein Stab hinter ihm war noch schlechter beritten als er. »Ich habe die Ehre vorzustellen«, sagte Essen förmlich, »Seine Exzellenz der Conde de Los Altos - Seine Exzellenz Kommodore Sir Horatio Hornblower.« Der Conde salutierte, Hornblower brauchte einige Augenblicke, ehe es ihm gelang, wieder auf spanisch zu denken - damals vor zwei Jahren, bei dem mißglückten Angriff auf Rosas, hatte er diese Sprache zum letzten Male gesprochen.

»Ich freue mich außerordentlich, Eurer Exzellenz Bekanntschaft zu machen«, sagte er.

In den Zügen des Conde spiegelten sich Überraschung und Freude, als er seine Muttersprache hörte. Rasch gab er zur Antwort: »Sie sind der englische Admiral, Sir?«

Hornblower hielt es in diesem Augenblick nicht für angezeigt, sich auf Erklärungen über den Unterschied zwischen einem Admiral und einem Kommodore einzulassen. Er nickte nur bestätigend mit dem Kopf.

»Ich habe darum gebeten, daß meine eigenen Leute und die Portugiesen über See nach Spanien zurückgeschafft werden möchten, damit wir dort, auf dem Boden unseres Vaterlandes, gegen Bonaparte kämpfen können. Man hat mir geantwortet, daß für die Benutzung des Seeweges, der ja allein in Frage kommt, Ihr Einverständnis nötig sei. Ich nehme als sicher an, daß Sie es uns nicht verweigern werden.«

Das war viel verlangt. Fünftausend Mann erforderten, wenn man den üblichen Tonnagebedarf von vier Tonnen pro Mann annahm, einen Schiffsraum von zwanzigtausend Tonnen. - Das war ein riesiger Geleitzug. Er wußte wirklich nicht, ob sein Einfluß ausreichte, die Regierung zur Gestellung von zwanzigtausend Tonnen Schiffsraum zu bestimmen, um diese Spanier von Riga nach Spanien zu befördern. Es gab ja ohnehin nie genug Schiffe. Dabei durfte man auch nicht außer acht lassen, welch schlechten Eindruck es auf die Besatzung von Riga machen mußte, wenn sie sah, wie ihr diese willkommene, vom Himmel gesandte Verstärkung sozusagen unter den Händen zerrann, nachdem sie eben erst eingetroffen war. Anderseits stand immer zu befürchten, daß Rußland eines Tages mit Bonaparte Frieden machte. Rechnete man damit, daß dieser Fall eintrat, dann war es natürlich am besten, die Spanier so schnell wie möglich aus der Reichweite dieser beiden Mächte zu entfernen. Diese fünftausend Mann waren in Spanien viel wert, vor allem deshalb, weil sie dort als Spanier mit echter Begeisterung ins Zeug gingen - hier dagegen, in diesem Krieg der Millionen, spielten sie kaum eine Rolle. Aber wichtiger als alle diese Gründe war die moralische Wirkung. Was mußten die übrigen höchst unfreiwilligen Bundesgenossen Bonapartes, die Preußen, Österreicher, Bayern und Italiener, denken, wenn sie hörten, daß das Truppenkontingent einer anderen Nation sich zum Gegner durchgeschlagen hatte und dort als geschätzter und gefeierter Freund mit offenen Armen aufgenommen worden war, mehr noch, daß man alle diese Soldaten sogar ohne Verzug zu Schiff in ihre Heimat zurückgeschickt hatte? Hornblower erwartete sich davon einen entscheidenden Gesinnungswandel unter den Trabanten der bonapartischen Macht, auf den man besonders dann rechnen konnte, wenn Rußland seinem Entschluß, den Winter durchzukämpfen, treu blieb. Dann begann das Riesengebäude jenes Reiches vielleicht wirklich zu bröckeln und zu stürzen. »Ich werde mich glücklich schätzen, Ihre Leute nach Spanien zurückzusenden, sobald es sich irgend ermöglichen läßt«, sagte er. »Noch heute werde ich die zur Versammlung des nötigen Schiffsraumes erforderlichen Maßnahmen treffen.«

Der Conde dankte ihm mit überschwenglichen Worten, aber Hornblower hatte noch etwas hinzuzufügen.

»Ich habe nur eine bescheidene Gegenbitte«, sagte er. Dieser Satz genügte, um die Freude des Conde zu dämpfen.

»Und die wäre, Sir?« fragte er, und schon stand in seinem Gesicht jenes verbitterte Mißtrauen geschrieben, das sich eines jeden bemächtigen mußte, der, wie er, Jahre hindurch Opfer internationaler Doppelzüngigkeit, endloser Lügen, Täuschungen und infamer Drohungen gewesen war - angefangen von Godoys elendem Betrug bis zu Bonapartes rücksichtsloser Gewalttätigkeit. »Nur Ihre Unterschrift unter einen Aufruf, sonst nichts. Ich möchte unter den anderen unfreiwilligen Verbündeten Bonapartes die Nachricht verbreiten, daß Sie sich unserer guten Sache, der Sache der Freiheit, angeschlossen haben, und ich möchte gern, daß Sie die Wahrheit dieser Nachricht bestätigen.« Der Conde warf noch einen scharf prüfenden Blick auf Hornblower, dann gab er seine Zustimmung. »Ja, ich werde unterschreiben«, sagte er.

Diese sofortige Bereitschaft war ein schmeichelhaftes Zeugnis sowohl für den ehrlichen Eindruck, den Hornblower machte, als auch für den Ruf unbedingter Zuverlässigkeit in der Erfüllung aller Verpflichtungen, den die Navy ganz allgemein genoß.

»Es bleibt uns also nichts mehr zu tun«, sagte Hornblower, »als den Aufruf zu formulieren und die Transportschiffe für Ihren Verband zusammenzusuchen.«

Essen, der neben ihnen hielt, ratschte während dieser auf spanisch geführten Unterhaltung unruhig in seinem Sattel hin und her. Offenbar verstand er kein Wort von dieser Sprache, und das machte ihn nervös. Hornblower stellte dies mit einiger Schadenfreude fest, hatte er doch während der ganzen beiden letzten Monate gerade genug russischen und deutschen Gesprächen beiwohnen müssen, ohne zu wissen, worum es ging.

Er genoß also hier eine nette, kleine Rache.

»Hat er Ihnen erzählt, wie es bei der ›Grande Armee‹ aussieht?« fragte Essen. »Haben Sie von Hunger und Seuchen gehört?«

»Noch nicht«, sagte Hornblower.

Nun begann der Conde aber zu berichten, rasch, in abgerissenen Sätzen, gedrängt durch Essens polternde Ungeduld.

Bonapartes Armee war schon vom Tode gezeichnet, lange ehe sie Moskau erreichte. Bonaparte jagte sie in Eilmärschen durch die endlosen, einsamen Weiten Rußlands, aber Hunger und Krankheit lichteten dabei ständig ihre Reihen.

»Die Pferde sind schon fast alle verendet, es gab nur noch grünen Roggen als Futter«, sagte der Conde.

Waren die Pferde tot, dann war es für das Gros der Armee nicht mehr möglich, die nötigen Mengen an Versorgungsgütern heranzuschaffen. Dieses Gros stand also vor der Wahl, entweder zu verhungern oder sich auf einen weiten Raum auseinanderzuziehen. Das Auseinanderziehen verbot sich aber von selbst, solange es noch irgendeine russische Armee gab. Es kam also ganz auf Alexander an. Solange der die Nerven behielt, solange er den Kampf unentwegt weiterführte, bestand noch Hoffnung. Man hatte immer mehr den Eindruck, als ob die Armee Bonapartes in Moskau wirklich am Ende ihrer Kraft wäre. Dann gab es nur noch eine Möglichkeit für ihn, neuen Druck auf Alexander auszuüben. Die bestand darin, daß die hier vor Riga stehende Armee ihren Vormarsch gegen St. Petersburg fortsetzte. Es kam also jetzt erst recht darauf an, hier den Widerstand nicht erlahmen zu lassen. Hornblower konnte nicht recht daran glauben, daß Alexanders Abwehrkraft den Verlust seiner beiden Hauptstädte überdauerte.

Die armen spanischen Infanteristen hatten während dieser ganzen langen Unterhaltung mit präsentiertem Gewehr stillgestanden. Hornblower fühlte sich dadurch unangenehm berührt, deshalb wandte er ihnen jetzt, um den Conde an seine Pflicht zu gemahnen, in möglichst auffälliger Weise seine Aufmerksamkeit zu. Dieser verstand den Wink und gab seinem Stab einen Befehl, den die Obersten wiederholten. Die Regimenter nahmen mit einem linkischen Griff Gewehr ab, und dann rührte jedermann so, wie es ihm gerade einfiel.

»Seine Exzellenz sagt mir«, wandte sich der Conde wieder an Hornblower, »Sie hätten unlängst in Spanien gedient. Können Sie mir berichten, was es in meiner Heimat Neues gibt?«

Es war nicht ganz einfach, einem Spanier, der vier Jahre von allen Nachrichten aus seinem Vaterlande abgeschnitten war, in kurzen Worten einen Überblick über die verwickelten Ereignisse zu geben, die sich während dieser Zeit dort abgespielt hatten.

Hornblower tat sein Bestes, die unzähligen spanischen Niederlagen zu erklären und zu beschönigen und umgekehrt den Opfergeist und die Tüchtigkeit der Guerilleros hervorzuheben.

Er endete mit einem hoffnungsvollen Ausblick, indem er von der unlängst erfolgten Einnahme Madrids durch Wellington erzählte. Während er sprach, umdrängte ihn der spanische Stab in einem immer engeren Kreis. Seit vier langen Jahren, seit dem Tage, an dem das spanische Volk sich dazu entschlossen hatte, dem Empire die Gefolgschaft zu kündigen, und dem Tyrannen Todfeindschaft schwor, hatte Bonaparte dafür gesorgt, daß diese spanischen Truppen, die dreitausend Meilen von ihrer Heimat entfernt standen, nicht ein Wort über die wirkliche Lage ihres Landes erfuhren. Sie konnten höchstens unsichere Vermutungen anstellen, die sich auf die lügenhaften kaiserlichen Verlautbarungen gründeten. Es war ein seltsames Erlebnis, diesen aus ihrer Heimat verschleppten Menschen über die Vergangenheit zu berichten. Hornblower hatte plötzlich wieder seine eigene Lage vor Augen und erinnerte sich daran, wie ihm zumute war, als er von dem Frontwechsel der Spanier erfuhr.

Dabei hatte er die merkwürdige Empfindung, als vollzöge sich in seinem Gehirn ein förmlicher Szenenwechsel. Er stand wie damals an Deck der Lydia draußen in den Gewässern des tropischen Pazifiks, von denen es noch kaum eine Seekarte gab.

Sekundenlang glich sein Gedächtnis geradezu einem Schlachtfeld von Erinnerungen. Da waren das Blau und das Gold des Stillen Ozeans, die Hitze und die Stürme der Tropen, da waren die Gefechte, da waren El Supremo und der Gouverneur von Panama - mit Gewalt mußte er sich von diesen Bildern losreißen, um sich wieder hierher, auf den Exerzierplatz am Strande der Ostsee, zurückzufinden.

Ein Ordonnanzoffizier kam in wilder Karriere auf sie zugeritten, unter den klingenden Hufen seines Hengstes wirbelte der Staub. Mit flüchtigem Gruß parierte er vor dem General von Essen und sprudelte seine Meldung hervor, ehe sich seine Hand noch gesenkt hatte. Ein Wort des Gouverneurs, und er jagte in fliegender Eile in der gleichen Richtung davon, aus der er gekommen war. Dann wandte sich Essen an Hornblower.

»Der Feind sammelt starke Kräfte in seinen Gräben«, sagte er, »der Sturm auf Dünamünde kann jeden Augenblick beginnen.«

Essen begann seinem Stab Befehle zuzuschreien, Pferde stiegen und warfen sich herum, als die Sporen in ihre Flanken schlugen und die grausamen Kandaren ihnen die Köpfe zur Seite rissen. Binnen weniger Augenblicke galoppierte ein halbes Dutzend Offiziere, mit den Befehlen, die sie erhalten hatten, nach den verschiedensten Richtungen auseinander. »Ich reite hin«, sagte Essen. »Und ich komme mit«, sagte Hornblower.

Er wäre beinahe aus dem Sattel geratscht, als sein aufgeregter Gaul neben dem des Gouverneurs auf der Hinterhand kehrtmachte. Mit der Hand am Sattelknopf suchte er wieder festen Sitz zu gewinnen und angelte noch immer nach dem einen verlorenen Steigbügel, als sie schon mit klappernden Hufen dahingaloppierten. Essen wandte den Kopf und schrie einer der wenigen Ordonnanzen, die sie noch begleiteten, einen Befehl zu, dann hieb er seinem Pferd noch einmal die Sporen in die Flanken. Das Tempo der Gäule wurde schärfer und schärfer, aber auch das Grollen der Beschießung nahm an Lautstärke und Deutlichkeit von Minute zu Minute zu. Sie rasselten durch die Straßen von Riga, sie jagten dröhnend über den Holzbelag der Schiffsbrücke. In der klaren Herbstsonne rann Hornblower der Schweiß von der Stirn, der Säbel hieb ihm immerzu schmerzhaft gegen das Bein, und der dumme Dreimaster rutschte ihm ein ums andere Mal ins Genick, so daß er ihn nur durch einen raschen Griff im letzten Augenblick vor dem Davonfliegen rettete. Er konnte gerade noch so viel auf seine Umgebung achten, daß er wußte, wo er sich befand, als er unter sich das wirbelnde Wasser der Düna sah und als er dann am anderen Ufer den Strom zu seiner Rechten hatte. Immer lauter und heftiger wurde das Geschützfeuer, dann aber hörte es mit einem Schlage auf. »Jetzt stürmen sie!« schrie Essen und beugte seinen massigen Körper nach vorn, um aus seinem armen Gaul das letzte herauszuholen. Sie waren im Dorf. Sie ritten zwischen den zerschossenen Bauernhäusern hindurch, da sahen sie die ersten Anzeichen einer beginnenden Niederlage: müde Soldatengestalten, die ihnen ohne Ordnung und Zusammenhalt entgegenwankten. Ihre blauen Uniformen waren ganz grau von Staub, Offiziere bemühten sich fluchend, sie zum Stehen zu bringen, und hieben mit der flachen Klinge auf sie ein. Nun begann auch Essen sie anzubrüllen, seine Stimme klang heiser wie eine geborstene Trompete. Er schwang den Säbel über seinem Kopf und sprengte mitten in das Gedränge hinein. Bei seinem Anblick kehrten sofort Ordnung und Disziplin zurück, die Leute sammelten sich, machten wieder Front gegen den Feind und schlossen sich ganz von selbst zu einer Gefechtslinie zusammen.

Da tauchte auch schon der nachdrängende Gegner in völlig aufgelöster Ordnung zwischen den Ruinen auf, er mußte wie ein Sturmwind durch die Bresche eingedrungen sein, aber jetzt glichen diese Soldaten eher einem Pöbelhaufen als einer stürmenden Truppe. Die Offiziere eilten ihren Männern mit wilden Freudentänzen voraus und schwangen dabei begeistert ihre Hüte und Säbel. Über den Stürmenden wehte eine Standarte. Als sie sich plötzlich einer geschlossenen Widerstandslinie gegenübersahen, verhielten sie unwillkürlich einen Augenblick, dann setzte von beiden Seiten regelloses Feuer ein. Hornblower sah, wie einer der aufgeregt umhereilenden Offiziere tot umsank, als er seine Leute zum Vorgehen anspornte. Unwillkürlich suchte er Essen, aber der ragte mitten im Qualm des Gefechts wie ein Turm aus der Menge. Nun riß Hornblower sein Pferd herum und jagte zum Flügel der Linie. Sein Geist arbeitete mit jener unwirklichen Geschwindigkeit und Klarheit, die uns in Augenblicken höchster Erregung geschenkt wird. Eins war ihm klar - dies war der entscheidende Augenblick des ganzen Angriffs. Kommt eine stürmende Truppe einmal zum Stehen, dann genügt unter Umständen eine Kleinigkeit, um das Glück zu wenden und sie vielleicht schneller zurückzujagen, als sie vorgegangen war. Er erreichte das Kirchentor. Da strömte gerade eine ungeordnete Masse Soldaten heraus. Das war die Besatzung des Gebäudes, die sich soeben in aller Eile aus dem Staube machen wollte, um nicht umzingelt und abgeschnitten zu werden Hornblower riß den Säbel aus der Scheide, wie durch ein Wunder blieb er dabei sicher im Sattel.

»Vorwärts! Drauf« schrie er sie an und schwang seine Waffe über dem Kopf.

Sie konnten seine Worte nicht verstehen, sie sahen nur eine kampfbesessene Gestalt in Blau und Gold vor sich, aber jeder begriff, was von ihm verlangt wurde. Hornblower erhaschte einen kurzen Blick von Diebitsch und Clausewitz, die die Kirche als letzte verließen. Ihnen hätte hier natürlich das Kommando zugestanden, aber jetzt war keine Zeit, sich mit solchen Dingen aufzuhalten. Außerdem schoß ihm in diesem Augenblick der Gedanke durch den Kopf, daß die beiden zwar ausgezeichnete Militärwissenschaftler sein mochten, aber wahrscheinlich fehl am Platze waren, wenn es auf Hieb und Stich ging.

»Vorwärts! Ran an den Feind!« brüllte er wieder und wies mit dem Säbel auf die Flanke der Sturmkolonne. Da machten die Russen kehrt und gehorchten, kein Mensch hätte es vermocht, sich der magischen Wirkung seines Beispiels und seiner befeuernden Gesten zu entziehen. Angreifer und Verteidiger wechselten immer noch knatternde Gewehrsalven, die Sturmkolonne gewann dabei langsam, aber ständig Boden, die Linie der Abwehr wankte und fiel zurück.

»In Linie angetreten!« schrie Hornblower und wandte sich dabei im Sattel um.

Die deutliche Zeichensprache seiner ausgebreiteten Arme sagte den Russen, was er wollte, auch wenn sie seine Worte nicht verstanden. »Laden!« Die Linie kam zustande und folgte ihm nach vorn, während die Hände der Männer eifrig mit den Ladestöcken hantierten. Es waren höchstens ein paar hundert Mann, die sich da drängend und stolpernd durch das Ruinenfeld bewegten. Jetzt hatten sie die Flanke der Sturmkolonne erreicht.

Hornblower sah, wie sich die Gesichter herüberwandten, er war sogar nahe genug, um den Männern ihre Überraschung und ihren Schrecken anzusehen, als sie plötzlich entdecken mußten, daß sie von frischen Truppen in der Flanke angepackt wurden.

»Feuer!« lautete Hornblowers nächstes Kommando, und seine Gefechtslinie brachte trotz ihrer Dürftigkeit so etwas wie eine Salve zustande. Er sah zwei Ladestöcke in tollen Bögen durch die Luft segeln. Ein paar aufgeregte Männer, die der Feuerbefehl noch beim Laden überrascht hatte, mußten ihre Gewehre dennoch ohne Besinnung hochgerissen und abgefeuert haben.

Einer dieser Ladestöcke durchbohrte einen französischen Soldaten wie ein Pfeil. Die Angriffskolonne stutzte, hielt, begann zu wanken - nicht einer unter hundert hatte in diesem Augenblick einen Flankenangriff erwartet, ihre ganze Aufmerksamkeit war ja von der Linie des Generals von Essen in Anspruch genommen, die ihnen frontal entgegentrat.

»Sturm, marsch, marsch!« schrie Hornblower, schwenkte seinen Säbel und gab seinem Gaul die Sporen.

Die Russen folgten ihm mit Hurra, und Hornblower sah, daß nun die ganze feindliche Kolonne in Unordnung geriet. Sie begann sich aufzulösen, verlor jeden Halt, zerbröckelte. Da!

Begannen sie nicht schon den Rücken zu kehren? Bei aller Aufregung fuhr ihm ein Ausspruch durch den Kopf, den er irgendwo gehört hatte: Der schönste Anblick für den Soldaten sei der Brotbeutel des Gegners. In diesem Augenblick sah er, wie sich drüben ein Mann umwandte und das Gewehr gegen ihn anschlug. Der Qualm des Schusses fuhr aus dem Lauf, sein Pferd machte einen krampfhaften Satz, steckte dann den Kopf zwischen die Vorderbeine und überschlug sich. Hornblower fühlte, wie er durch die Luft flog, war jedoch infolge seiner Erregung nicht im geringsten erschrocken und wurde erst durch den krachenden Aufprall, mit dem sein Flug ein Ende fand, aufs peinlichste überrascht. Die gewaltige Erschütterung nahm ihm den Atem und schien ihm alle Knochen zerschlagen zu haben, dennoch arbeitete sein immer wacher Geist so klar wie je. Er hörte und fühlte, wie der Flankenangriff, den er eingeleitet hatte, mit Hurra über ihn hinwegging und alles vor sich herfegte. Erst als er sich langsam erhob, merkte er plötzlich, wie schwach und mitgenommen er war. Er konnte sich kaum im Gleichgewicht halten, und als er ein paar Schritte vorwärts humpelte, um seinen Säbel aufzuheben, der ihm dort zwischen zwei Gefallenen aus dem Staub entgegenblitzte, da drohten seine Beine unter ihm nachzugeben. Unvermittelt überkam ihn ein Gefühl der Verlassenheit, aber noch ehe es sich seiner bemächtigen konnte, schlug auch schon eine Woge menschlicher Herzlichkeit und Kameradschaft über ihm zusammen. Essen und sein Stab stießen ein begeistertes Freudengeschrei aus und überhäuften ihn mit Glückwünschen, von denen er kein Wort verstand, während er, seinen Säbel in der Hand, mit zerschundenen Gliedern und zerrissener Uniform vor ihnen stand. Einer der Offiziere sprang von seinem Gaul, und Hornblower sah sich von vielen Händen in den Sattel gehoben. Dann trabten sie an, und die Pferde suchten sich achtsam ihren Weg zwischen den Toten und Verwundeten hindurch. Der Weg führte sie über das von der Beschießung zerrissene und gemarterte Land bis nach vorn zu den Brustwehren. Unter regellosem Musketenfeuer wurden die letzten Reste der Sturmtruppen gerade durch die offene Bresche zurückgejagt. Als der Reitertrupp den eigenen Befestigungen näher kam, eröffneten die Geschütze des geschlagenen Gegners wieder ihr Feuer, und ein paar ihrer Schüsse heulten ihnen dicht über die Köpfe weg. Da verhielt Essen als vernünftiger Mann seinen Gaul und zog sich im Schritt aus dem Feuerbereich zurück.

»Diesen Augenblick werde ich nie vergessen«, sagte er und blickte nachdenklich über den Schauplatz des Gefechtes.

Hornblower hatte nach wie vor einen völlig klaren Kopf. Er konnte sich vorstellen, wie hart dieser Rückschlag für den Belagerer sein mußte. Nach all den schweren, vorbereitenden Kämpfen hatte er seine Sappen endlich bis zu den Wällen der Verteidiger vorgetrieben, hatte eine Bresche geschossen und zuletzt den entscheidenden Sturm unternommen, der Dünamünde zu Fall bringen sollte. Da sah er sich im letzten Augenblick wieder auf seine Ausgangsstellungen zurückgeworfen, obwohl die Bresche schon in seiner Hand gewesen war. Er wußte, wie schwer es jetzt für Macdonald sein würde, seine Leute zu einer Wiederholung dieses Angriffs zu bewegen, ein blutiger Rückschlag wie dieser nahm dem Soldaten alle Angriffslust und Einsatzfreudigkeit. Auch im günstigsten Fall mußte Macdonald bis zum nächsten Angriff erhebliche Zeit verstreichen lassen. Er mußte sein hämmerndes Feuer noch tagelang fortsetzen und seine Sappen und Parallelgräben vervielfältigen, ehe er einen neuen Sturm wagen konnte. Vielleicht wies der Ort auch diesen ab. Vielleicht kam nun wirklich der letzte vergebliche Versuch, wurde dem Eroberer endgültig Halt geboten. Hornblower fühlte sich zu erleuchteter Schau erhoben. Er dachte an die Nachricht von Massenas Rückzug vor Lissabon - damit hatte es im Süden angefangen, hatte es dort begonnen, im Gebälk des napoleonischen Reiches zu knistern, heute stand Wellington in Madrid und bedrohte von dort aus Frankreich selbst. Vielleicht gebot Riga dem Eroberer im Norden Halt, blieb diese zerschossene und einmal vergeblich gestürmte Bresche für immer der nördlichste Punkt, den die Soldaten Bonapartes erreichten. Jedenfalls - Hornblowers Pulse schlugen rascher - hatte er mit seinem Flankenangriff, dem überraschenden Ansturm einiger hundert im Toben der Schlacht zusammengeraffter Männer, einen entscheidenden Schlag gegen Bonapartes ausschweifende Welteroberungspläne geführt. Das war ein Verdienst, das ihm niemand nehmen konnte, und in der Times nahm es sich bestimmt glänzend aus, wenn es dort hieß, daß »dem Kommodore Sir Horatio Hornblower K. B. ein Pferd unter dem Leibe erschossen wurde, während er seine Leute zum Angriff führte«. Barbara würde sich darüber freuen. Aber plötzlich verlor die überschwengliche Begeisterung ihre Wirkung, und Hornblower fühlte sich auf einmal schwach und elend. Er wußte bestimmt, daß er im nächsten Augenblick aus dem Sattel fiel, wenn er nicht sofort absaß. Also klammerte er sich an den Sattelknopf, nahm den rechten Fuß aus dem Bügel und schwang das Bein herüber. Dann sprang er ab und hatte dabei das seltsame Gefühl, als flöge ihm der Boden entgegen.

Als er wieder zu sich kam, hatte er keine Ahnung, wie lange er ohnmächtig gewesen war. Er saß mit offenem Kragen auf der Erde, auf seiner Stirn perlte der kalte Schweiß. Essen beugte sich besorgt über ihn, und ein zweiter Mann, anscheinend ein Arzt, kniete an seiner Seite. Sein Ärmel war bis über den Ellbogen aufgekrempelt, und der Arzt war eben im Begriff, ihm mit seiner Lanzette eine Vene zu öffnen, um ihn zur Ader zu lassen. Mit einer raschen Bewegung entzog ihm Hornblower den Arm, er wollte unter keinen Umständen mit diesem Instrument oder mit den Händen dieses Mannes in Berührung kommen, die vom Blut anderer noch voll dunkler Flecke waren. Diese Widerspenstigkeit gegen den Arzt veranlaßte die versammelten Herren des Stabes zu lauten Vorstellungen, die Hornblower jedoch mit dem überlegenen Eigensinn, den man bei Kranken so oft findet, einfach überhörte. Dann erschien Brown mit dem Entermesser und ein paar griffbereiten Pistolen am Koppel, gefolgt von einigen weiteren Bootsgasten des Chefboots.

Offenbar hatte er seinen Kommodore über die Brücke reiten sehen und war ihm als guter, verständiger Untergebener mit dem Boot nachgefahren. Browns Gesicht war von Sorge ganz verzerrt, er warf sich gleichfalls sofort neben Hornblower auf die Knie. »Verwundet, Sir? Wo? Kann ich...«

»Nein, nein, nein«, sagte Hornblower in ärgerlichem Ton, schob Brown beiseite und stand im nächsten Augenblick schwankend auf den Beinen. »Es ist nichts.«

Er wurde ganz wütend, als er nun in Browns Blick einen Ausdruck der Bewunderung entdeckte. Jetzt dachten sie alle, er benähme sich heldenhaft, dabei handelte er doch nur wie ein vernünftiger Mensch. Gott sei Dank wurden die Leute jetzt etwas von ihrer Besorgnis um ihn abgelenkt: Man hörte nämlich ganz in der Nähe, offenbar von der Bresche her, die hohen, schmetternden Töne eines Trompetensignals. Alles blickte nach der Richtung, aus der sie kamen. Dort erschienen auch bald darauf einige russische Offiziere. Sie führten einen Mann an den Armen, dessen Augen verbunden waren und der die blaue, astrachanbesetzte Uniform des kaiserlichen Stabes trug. Auf einen Befehl von Essen wurde ihm die Binde abgenommen, und der Offizier - er trug einen grauen Schnurrbart nach dem Schnitt der Husaren - entbot den Umstehenden in selbstbewusster Haltung seinen Gruß.

»Rittmeister Verrier«, stellte er sich vor, »Adjutant des Marschalls Herzog von Tarent. Ich habe vom Marschall Befehl erhalten, Ihnen die Einstellung der Feindseligkeiten für die Dauer von zwei Stunden vorzuschlagen. In der Bresche liegen überall Verwundete beider kämpfenden Parteien, die Menschlichkeit gebietet, sie zu bergen. Während des Waffenstillstandes könnten sich beide Seiten ihrer eigenen Leute annehmen.«

»Die russischen Verwundeten sind aber dort erheblich in der Minderzahl, es handelt sich hauptsächlich um Franzosen und Deutsche«, erwiderte Essen in seinem schauderhaften Französisch.

»Franzosen oder Russen, Monsieur«, sagte der Parlamentär, »sie werden sterben, wenn ihnen nicht bald geholfen wird.«

Hornblowers Geist begann wieder zu arbeiten. Wie nach dem Sinken eines Schiffes einzelne Wrackstücke an die Oberfläche emporschießen, so traten ihm jetzt neue Einfälle ins Bewußtsein.

Er fing Essens Blick auf und bedeutete ihm seine Ansicht durch ein stummes Kopfnicken. Essen verriet als guter Diplomat mit keiner Miene, daß er den Wink verstanden hatte. Er wandte sich wieder an Verrier.

»Im Namen der Menschlichkeit«, sagte er, »wird Ihnen Ihre Bitte gewährt.«

»Ich danke Eurer Exzellenz im Namen der Menschlichkeit«, erwiderte Verrier grüßend. Dann sah er sich nach dem Offizier um, der ihm die Binde wieder anlegen sollte, um ihn durch die Bresche zurückzubringen. Sofort nachdem er gegangen war, wandte sich Hornblower an Brown. »Fahre mit dem Chefboot an Bord«, befahl er ihm, »und zwar so schnell wie möglich.

Bestelle Kapitän Bush meine Empfehlung und melde ihm, daß du mir sofort den Leutnant von Bülow an Land bringen sollst.

Er soll einen unserer eigenen Leutnants von entsprechendem Dienstalter zu seiner Begleitung kommandieren. Aber beeile dich!«

»Aye, aye, Sir.«

Mehr brauchte er, Gott sei Dank, Brown und Bush nicht zu sagen. Beide wußten einen einfachen Befehl einfach, aber doch mit Verständnis auszuführen. Hornblower trat grüßend auf Essen zu.

»Wäre es möglich, Eure Exzellenz«, fragte er, »die spanischen Truppen über den Fluß herüber und hierher zu bringen? Ich habe einen deutschen Gefangenen, den ich zum Feind zurückschicken will, und möchte gern, daß er die Spanier vorher mit eigenen Augen sieht.« Essens dicke Lippen verzogen sich zu einem breiten Grinsen. »Ich tue also nicht nur mein Möglichstes, um alle Ihre Wünsche zu erfüllen, Sir, nein, ich komme ihnen sogar zuvor. Der letzte Befehl, den ich bei unserem plötzlichen Aufbruch von drüben gegeben habe, war der, die Spanier herüberzubringen. Ich hatte keine anderen geschlossenen Einheiten in greifbarer Nähe und wollte sie daher als Besatzung der Magazine am Quai verwenden. Sicher sind sie inzwischen dort eingetroffen. Sie möchten also, daß sie hierher rücken sollen?«

»Wenn Sie die Güte haben wollen, Exzellenz...«

Hornblower stand zufällig und ohne besondere Absicht an der Landungsbrücke, als das Boot längsseits kam. Leutnant von Bülow vom 51. preußischen Infanterieregiment stieg in Begleitung von Mr. Tooth, Brown und dessen Bootsgasten an Land.

»Ah, Herr Leutnant!« rief Hornblower, als er ihn sah.

Bülow grüßte steif und förmlich, offenbar wußte er nicht, was er daraus machen sollte, daß man ihn von einem Augenblick zum anderen aus seinem Gewahrsam an Bord herausgeholt und hierher in dieses zerstörte Dorf gebracht hatte.

»Zwischen Ihren und unseren Streitkräften«, erklärte Hornblower, »herrscht zur Zeit Waffenstillstand. Nein, kein Friede, nur eine Unterbrechung der Feindseligkeiten, damit die Verwundeten von der Bresche weggeschafft werden können. Ich wollte nun diese Gelegenheit benutzen, um Sie in Freiheit zu setzen, so daß Sie zu Ihren Freunden zurückkehren können.«

Bülow sah ihn fragend an.

»Dieses Verfahren erspart uns viele Scherereien mit Parlamentären und Austauschverträgen«, erklärte Hornblower.

»Wenn ich Sie jetzt freigebe, dann brauchen Sie ja nur durch die Bresche zu gehen; kein förmlicher Austausch, aber Sie können mir ja Ihr Ehrenwort geben, daß Sie bis zum Zustandekommen eines regelrechten Austauschvertrages weder gegen Seine Britische noch gegen Seine Kaiserlich Russische Majestät kämpfen wollen.« Bülow dachte einen Augenblick nach und sagte dann: »Ja, ich gebe Ihnen mein Ehrenwort.«

»Ausgezeichnet! Dann darf ich mir vielleicht selbst das Vergnügen machen, Sie bis zur Bresche zu begleiten?«

Als sie die Brücke verließen und ihren kurzen Gang durch die Ruinen des Dorfes antraten, warf Bülow forschende Blicke um sich. Darüber konnte man sich bei einem Berufssoldaten in einer solchen Umgebung nicht wundern. Nach soldatischer Auffassung war er durchaus berechtigt, aus der Nachlässigkeit und Sorglosigkeit seines Gegners jeden möglichen Vorteil zu ziehen. Berufliche Wißbegierde verlockte in seiner augenblicklichen Lage allzu stark zu neugierigen Blicken. Im Gehen unterhielt sich Hornblower mit ihm in verbindlichster Form.

»Ihr Sturmangriff heute morgen - ich nehme an, daß Sie den Gefechtslärm sogar an Bord hören konnten - wurde von ausgesuchten Grenadieren ausgeführt, ich glaubte wenigstens, aus den Uniformen daraus schließen zu können. Diese ausgezeichneten Truppen! - es war wirklich ein Jammer, daß sie so schwere Verluste erleiden mußten. Sie werden mir meine Bitte nicht abschlagen, Ihren Kameraden bei Ihrer Rückkehr deswegen mein aufrichtiges Bedauern zum Ausdruck zu bringen. Aber sie hatten natürlich nicht die geringste Aussicht auf einen Erfolg.«

Am Fuß des Kirchturms hielt ein spanisches Regiment, die Leute lagen in Reih und Glied ausruhend auf dem Boden. Als Hornblower und sein Begleiter sich näherten, sprangen sie auf Befehl ihres Obersten auf und machten ihm ihre Ehrenbezeigung. Hornblower schritt, gleichfalls grüßend, ihre Front ab und merkte dabei, daß Bülow an seiner Seite plötzlich einen anderen Gang angenommen hatte. Ein verstohlener Seitenblick zeigte Hornblower, daß er in den steifen, preußischen Paradeschritt gefallen war, den er so lange beibehielt, bis sie am anderen Flügel der Spanier angelangt waren. Das machte eben die militärische Erziehung, für Bülow war es undenkbar, eine solche Ehrenbezeigung anders als im Paradeschritt entgegenzunehmen und zu erwidern. Und doch war ihm darüber offensichtlich nicht entgangen, daß es mit dieser Truppe eine besondere Bewandtnis hatte. Seine Augen quollen ihm von all den Fragen, die er nicht auszusprechen wagte, förmlich aus dem Kopf. »Spanier«, sagte Hornblower in beiläufigem Ton. »Vor kurzem ist eine ganze Division Spanier und Portugiesen von der Hauptarmee Bonapartes zu uns übergelaufen. Sie stehen im Gefecht ihren Mann, diesmal haben sie das Verdienst, den Sturmangriff endgültig abgewiesen zu haben. Es ist interessant zu beobachten, wie die armen Opfer Bonapartes jetzt allmählich von ihm abfallen, weil sich immer deutlicher herausstellt, wie hohl sein ganzes Machtgebilde in Wirklichkeit ist.«

Bülow war vor Staunen ganz aus der Fassung. Er gab nur ein paar Laute von sich - oder war es ein deutsches Wort?

Hornblower konnte nicht verstehen, was er sagte, aber sein Ton allein verriet deutlich genug, was er meinte. »Ich brauche Ihnen nicht zu sagen«, fuhr Hornblower wieder in höflichem Plaudertone fort, » daß ich auch die glänzende preußische Armee gern in den Reihen der Gegner Bonapartes, der Verbündeten Englands, sehen möchte. Aber Ihr König wird ja selbst am besten wissen, was seinem Lande frommt - sofern er allerdings noch die Freiheit hat, seine Politik selbst zu bestimmen. Seit er nur noch von Kreaturen Bonapartes umgeben ist, darf man leider füglich daran zweifeln, daß dies noch der Fall ist.« Bülow starrte ihn voller Bestürzung an. Hornblower hatte da einen Gedanken ausgesprochen, der ihm völlig neu war.

Er wollte eine Frage stellen, allein Hornblower sprach schon weiter, immer bemüht, den leichten Plauderton beizubehalten, als ginge es ihm nur darum, mit seinem Partner eine höfliche Unterhaltung zu führen.

»Hohe Politik!« sagte er lachend und machte dazu eine wegwerfende Geste. »Und doch, vielleicht denken wir eines Tages an unsere Unterhaltung zurück und staunen nachträglich, wie richtig wir die Entwicklung vorausgesehen haben. Man kann es nicht wissen. Vielleicht treffen wir uns eines Tages als Gesandte unserer Länder irgendwo wieder, dann werde ich mir erlauben, Sie an dieses Gespräch zu erinnern. Aber da sind wir schon an der Bresche. So groß mein Bedauern ist, mich von Ihnen verabschieden zu müssen, so aufrichtig ist meine Freude, Sie bald wieder bei Ihren Kameraden zu wissen. Nehmen Sie meine herzlichsten Wünsche für Ihre Zukunft mit auf den Weg.«

Bülow grüßte ihn noch einmal in seiner steifen Art, dann ergriff er die Hand, die Hornblower ihm entgegenstreckte, und schüttelte sie. Für einen Preußen war es ein bemerkenswertes Erlebnis, daß ein Kommodore sich herbeiließ, mit einem kleinen Leutnant einen Händedruck auszutauschen. Dann bahnte er sich seinen Weg durch die Bresche mit ihrem grausam aufgerissenen und umgewühlten Gelände, in dem noch überall wie aufgestörte Ameisen die Krankenträger mit ihren Bahren ausgeschwärmt waren, um nach Verwundeten zu suchen. Hornblower sah ihm nach, bis er bei seinen eigenen Leuten angekommen war, dann erst wandte er sich ab. Er war entsetzlich müde, im wahren Sinne des Wortes müde zum Umfallen, und ärgerte sich dabei wütend über seine eigene Schwäche. Unter dem Aufgebot seiner ganzen Willenskraft gelang es ihm gerade noch, den Weg bis zur Anlegebrücke in annehmbarer Haltung zurückzulegen, als er aber dort in sein Boot stieg, taumelte er. »Fehlt Ihnen etwas, Sir?« fragte Brown mit besorgter Miene. »Keine Spur«, fuhr ihn Hornblower an. Wie konnte sich der Mann eine solche Unverschämtheit erlauben!

Die Frage wurmte ihn während der ganzen Fahrt, sie machte ihn gereizt und wütend. An Bord angelangt, kletterte er das Seefallreep empor, so schnell er konnte, und erwiderte die Ehrenbezeigungen, die ihm auf dem Achterdeck erwiesen wurden, nur mit einer knappen, kalten Geste. Auch in der Kajüte hielt seine Gereiztheit noch an und verbot ihm, sich seiner ersten Eingebung entsprechend einfach auf die Koje zu werfen und die Augen zu schließen. Statt dessen ging er noch einen Augenblick herum. Nur um irgend etwas zu tun warf er einen Blick in den Spiegel. Dieser Brown hatte seine törichte Frage doch nicht so ganz ohne Grund an ihn gerichtet. Das Gesicht, das ihm da entgegensah, war über und über von Staub und Schweiß verschmiert, auf einem Backenknochen klebte geronnenes Blut, das von einer Hautabschürfung herrührte. Seine Uniform war völlig verschmutzt, und eine der Epauletten hing ihm schief von der Schulter herab. Kurz, man sah ihm an, daß er soeben aus einem verbissenen Kampf auf Leben und Tod zurückgekehrt war. Er musterte sich genauer. War das überhaupt sein Gesicht?

Diese Falten, diese müden Züge, diese rotgeränderten Augen!

Plötzlich machte er eine Entdeckung. Er wandte den Kopf ein bißchen zur Seite und sah noch schärfer hin. Wahrhaftig! Das Haar an seinen Schläfen war ganz weiß. Genügte wirklich eine einzige Schlacht, um einen so zu verändern? Nein, das hier war das Gesicht eines Mannes, dessen Leben eine endlos lange Zeit unter dem Druck einer unerträglichen Nervenanspannung gestanden hatte. Darin, im Ertragen dieser ewigen Spannung, lag seine wahre, eigentliche Leistung. Als er das feststellte, empfand er fast ein bißchen Hochachtung vor sich selbst. War es wirklich so, daß er die Last dieser schrecklichen Belagerung nun schon seit Monaten trug? Es war ihm nicht in den Sinn gekommen, daß sein Gesicht, Hornblowers Gesicht, je sein Inneres verraten könnte, so wie auch die Gesichter anderer Leute ihre Seele spiegeln. Hatte er denn nicht sein ganzes Leben lang danach gestrebt, seinen Gesichtsausdruck so vollkommen zu beherrschen, daß er seine Gefühle niemals verriet? Die Tatsache, daß sein Haar ergraute, daß die strengen Falten um seinen Mund sich immer tiefer eingruben, ohne daß er etwas daran zu ändern vermochte, schien ihm eine tiefe Ironie zu enthalten und bot ihm eine Menge Stoff zum Nachdenken.

Da begann das Deck unter seinen Füßen zu wanken, als befände sich das Schiff in See, so stark, daß es selbst seinen alten Seebeinen schwerfiel, das Gleichgewicht zu halten. Er mußte sich an der Konsole festhalten, die er gerade griffbereit vor sich hatte Nur mit größter Vorsicht ließ er diesen Halt los, wankte zu seiner Koje hinüber und fiel mit dem Gesicht nach unten quer darüber hin.