19. Kapitel
Hornblower schlief gerade in seiner Kammer auf der Nonsuch als der Alarm gegeben wurde. Selbst während er schlief - oder war er zwischendurch gelegentlich aufgewacht, ohne es selbst zu merken? - hielt er sich unterbewußt über alle Vorgänge auf dem laufenden. So kam es, daß er beim Erwachen schon so ungefähr über die Veränderungen im Bilde war, die sich während der Nacht ergeben hatten. Im Schlaf - oder im Halbschlaf - hatte er sowohl das Umlaufen des Windes gespürt, das die Nonsuch an ihrem Anker schwojen ließ, als auch die kurzen, heftigen Regenböen wahrgenommen, die auf das Deck herniederprasselten. Richtig aufgewacht war er dann von dem durchdringenden Schrei der Deckswache und hatte schon die Schritte des Wachfähnrichs über sich gehört, der ihm die Meldung brachte. Als der Fähnrich klopfte und hereinkam, war er jedenfalls bereits hellwach.
»Eine Rakete von der Raven Sir!«
»Gut«, sagte Hornblower und schwang seine Beine aus der Koje. Da war auch schon Brown, der tüchtige Bursche - Gott allein wußte, wer ihn gewahrschaut hatte -, und hängte eine brennende Laterne an den Decksbalken. Er hielt Hose und Rock bereit, die Hornblower gleich über das Nachthemd anzog, um so rasch wie möglich an Deck zu kommen. Auf dem Weg nach dem finsteren Achterdeck rannte er krachend mit einer anderen Schattengestalt zusammen, die es ebenso eilig hatte.
»Verdammt, kannst du nicht aufpassen!« hörte man die schimpfende Stimme Bushs und dann in ganz verändertem Ton:
»Ich bitte um Entschuldigung, Sir.«
Überall im Schiff trillerten die Pfeifen, um die Männer aus den Hängematten zu holen, und auf dem Großdeck klangen die Tritte von Hunderten nackter Füße wie ein Trommelwirbel.
Montgomery, der wachhabende Offizier, stand an der Steuerbordreling.
»Die Raven schoß vor zwei Minuten eine Rakete, Sir. Sie peilt Süd zu Ost.« Bush warf einen Blick in das durch ein Lämpchen erhellte Nachthaus des Kompasses und stellte fest:
»Der Wind ist West zu Nord.« Westwind und dunkle, stürmische Nacht, das waren Bedingungen, wie sie sich Macdonald nicht besser wünschen konnte, wenn er an der Mündung des Stromes Truppen übersetzen wollte. Er hatte zwanzig große Flußschiffe, auf denen er zur Not fünftausend Mann und einige Geschütze unterbringen konnte. Gelang es ihm, einen Verband von dieser Stärke über den Fluß zu werfen, dann war die russische Stellung nicht mehr zu halten. Wenn er umgekehrt das Spiel verlor und die fünftausend Mann als Tote, Ertrunkene oder Gefangene einbüßte, dann bedeutete das einen Schlag, der ihm wahrscheinlich für einige Zeit Einhalt gebot und damit den Russen einen wertvollen Zeitgewinn verschaffte.
Befestigte Stellungen hatten ja letzten Endes keinen anderen Zweck als den, Zeit zu gewinnen. Hornblower hoffte jetzt nur eins, daß Cole auf der Raven ruhig abgewartet hatte, bis der Kopf der Franzosen auch richtig in der Schlinge saß, ehe er sein Alarmsignal gab. Ein Ruf aus dem Topp ließ ihn aufmerken:
»Geschützfeuer in Luv, Sir!«
Von Deck aus konnte man nur ein winziges Flämmchen beobachten, das weit im Westen, einer Nadelspitze gleich, die Dunkelheit durchstach, gleich darauf sah man ein zweites.
»Das ist zu weit westlich«, sagte Hornblower zu Bush. »Das glaube ich auch, Sir, schade!«
In dieser Richtung lag die Raven dicht am Rande der Untiefen vor Anker. Ihr geringer Tiefgang bestimmte sie für diese Verwendung. Vickery mit der Lotus schützte das andere Flußufer, und die Nonsuch lag gezwungenermaßen im Fahrwasser. Alle bewaffneten Boote des Geschwaders pullten Streifendienst in der Mündung des Stromes - ein Kriegsschiffskutter mit einem Dreipfünder am Bug wurde allemal mit einem Flußschiff fertig, auch wenn dieses dreihundert Soldaten an Bord hatte. Nach der Richtung des Geschützfeuers zu urteilen, hatte Cole den Alarm doch zu früh gegeben. Nun flammte auch in Lee ein Geschütz auf, der Knall konnte jedoch gegen den Wind nicht zu ihnen herdringen.
»Lassen Sie mein Boot klar machen«, befahl Hornblower. Er brachte es einfach nicht fertig, hier an Deck stehenzubleiben und sich in nutzloser Spannung zu verzehren.
Das Chefboot setzte gleich darauf von der Nonsuch ab, die Männer an den Riemen mußten alle Kraft aufbieten, um gegen den Wind anzukommen. Brown, der im Dunkeln neben Hornblower saß, fühlte die gespannte Unruhe seines Vorgesetzten.
»Pullt, ihr A...!« brüllte er die Bootsgäste an. Mit der Hand an der Pinne stand er achtern auf der Ducht, während das Boot in dem kurzen Seegang mühsam gegenan kroch.
»Wieder ein Schuß, Sir, recht voraus«, meldete er Hornblower. »Danke.«
Es dauerte eine endlose Viertelstunde. Das Boot arbeitete sich mit harten Stampfbewegungen durch die kurzen, steilen Seen voran, während die Männer an den Riemen alles hergaben, was sie an Kraft besaßen. Das Klatschen der Spritzer und das Knarren der Riemen in den Dollen bildete die eintönige Begleitmusik zu Hornblowers rasenden Gedanken. »Dort schießen jetzt eine ganze Menge Geschütze, Sir«, meldete Brown. »Ja, ich sehe«, erwiderte Hornblower.
Schuß um Schuß durchbohrte das Dunkel der Nacht.
Augenscheinlich hatten die Wachboote alle ein einzelnes Opfer umringt. »Da liegt die Raven Sir. Soll ich längsseit gehen?«
»Nein, halt auf das Feuer zu.«
Die dunklen Umrisse der Korvette waren voraus eben zu erkennen. Brown legte etwas Ruder und brachte das Chefboot auf einen Kurs, der etwa eine Kabellänge an der Raven vorüberführte. Er hatte nun das Geschützfeuer genau voraus. Als sie die Raven einige Minuten später querab hatten, blitzte es an ihrer Bordwand plötzlich auf, dann donnerte ein Schuß, und die Kugel heulte dicht über ihre Köpfe hinweg.
»Um Gottes willen!« rief Brown. »Haben diese Narren denn keine Augen im Kopf?«
Wahrscheinlich hatte man auf der Korvette das vorüberfahrende Boot angerufen. Als keine Antwort kam, weil der starke Wind den Anruf verwehte, hatte man sofort zu feuern begonnen. Schon wieder fiel auf der Raven ein Schuß, und einer von den Bootsgasten stöhnte vor Angst. Es war auch ein scheußlich bedrückendes Gefühl, von den eigenen Leuten beschossen zu werden.
»Längsseit gehen!« befahl Hornblower. »Ein Blaufeuer abbrennen!« Auf der Korvette konnte jeden Augenblick eine volle Breitseite losdonnern, und dann blieb wahrscheinlich von dem Chefboot nicht mehr viel übrig. Hornblower nahm jetzt die Pinne, während Brown leise fluchend mit Feuerstein, Stahl und Zunder hantierte. Der Schlagmann legte ihm durch eine Bemerkung nahe, sich damit etwas zu beeilen. »Halt's Maul!« fuhr in Hornblower an.
Ein heilloses Durcheinander! Das entging natürlich keinem der Leute. Endlich gelang es Brown, einen Funken in den Zunder zu schlagen. Sogleich hielt er die Zündschnur des Blaufeuers daran und blies sie dann in Glut. Im nächsten Augenblick tauchte der Feuerwerkskörper Boot und Wasser ringsum in sein unirdisches Licht. Hornblower stand auf, daß man sein Gesicht und seine Uniform von der Korvette aus möglichst deutlich sehen konnte. Es war eine etwas dünne Rache, sich die Bestürzung auf der Raven vorzustellen, wenn sie dort merkten, daß sie auf ihren eigenen Kommodore geschossen hatten. Hornblower raste innerlich vor Zorn, als er der Korvette längsseit kam. Cole stand natürlich am Fallreep, um ihn zu empfangen. »Nun, Mr. Cole?«
»Ich bitte um Entschuldigung, daß ich auf Sie geschossen habe, Sir, aber Sie haben meinen Anruf nicht beantwortet.«
»Sind Sie nicht auf den Gedanken gekommen, daß ich Sie bei dieser Windrichtung nicht gut hören konnte?«
»Jawohl, Sir, aber wir wissen, daß die Franzosen unterwegs sind. Die Boote haben sie vor einer Stunde angegriffen, und meine halbe Besatzung ist mit den Booten unterwegs.
Angenommen, ich wäre von zweihundert französischen Soldaten geentert worden! Darauf durfte ich es doch nicht ankommen lassen.«
Cole war so zerfahren und aufgeregt, daß es gar keinen Sinn hatte, ihm etwas klarmachen zu wollen. »Haben Sie die Alarmrakete geschossen?«
»Jawohl, Sir. Ich hatte Befehl, Sie davon in Kenntnis zu setzen, daß die Franzosen unterwegs waren.«
»Haben Sie sofort geschossen, als Sie das bemerkten?«
»Jawohl, Sir, natürlich, Sir!«
»Haben Sie sich nicht überlegt, daß Sie damit auch die Franzosen alarmierten?«
»Ich dachte, das hätte Ihrer Absicht entsprochen, Sir.«
Hornblower wandte sich verärgert ab. Der Mann hatte in seiner Aufregung einfach jeden Befehl vergessen, den er erhalten hatte.
»Ein Boot nähert sich von Luv, Sir«, meldete da die Stimme eines Mannes, dessen weiße Bluse in der beginnenden Dämmerung undeutlich zu erkennen war. Sofort rannte Cole aufgeregt nach vorn, Hornblower eilte ihm mit großen Schritten nach und holte ihn ein, als er an dem Kranbalken stehenblieb und nach dem Boot Ausschau hielt. »Boot ahoi!« rief Cole durch sein Megaphon.
»Ja, ja!« kam die Antwort von Luv. Das war die richtige Antwort für ein Boot, das einen Offizier an Bord hatte. Das Boot war ein Kriegsschiffskutter, der unter seinem Luggersegel rasch näher kam. Hornblower sah, daß das Segel recht ungeschickt geborgen wurde und daß man für den Rest des Weges zur Korvette die Riemen klarnahm. In gleicher Höhe mit dem Bug der Raven drehte der Kutter schwerfällig auf und schor dann längsseit. Hornblower konnte erkennen, daß er gedrängt voll Menschen war. »Soldaten!« rief Cole plötzlich und deutete aufgeregt mit dem Zeigefinger auf das Boot. »An die Geschütze! Kutter! Sofort ablegen!«
Auch Hornblower erkannte Tschakos und Lederzeug; das war wohl genau der Anblick, mit dem Coles Phantasie schon die ganze Nacht über gespielt hatte. Da drang eine beruhigende englische Stimme aus dem Boot herüber. »Halt! Stopp! Dies ist der Kutter der Lotus mit Gefangenen.« Kein Zweifel, das war Purvis' Stimme. Hornblower ging zum Mittelschiff und sah hinunter. Richtig, achtern saß Purvis, und an den Riemen saßen englische Seeleute in ihren karierten Hemden. Sonst aber war jedes Plätzchen mit Soldaten ausgefüllt, die sich teils niedergeschlagen, teils ängstlich aneinanderdrängten. Ganz vorn, rings um das Bootsgeschütz, saßen vier Seesoldaten mit schußbereiten Gewehren. Diese Maßnahme hatte Purvis getroffen, um jeden Befreiungsversuch der Gefangenen von vornherein zu vereiteln. »Lassen Sie sie an Deck kommen«, sagte Hornblower. Die Soldaten kletterten an der Bordwand empor und wurden von den Matrosen mit breitem Grinsen begrüßt, als sie das Deck betraten. Fassungslos starrten sie im dämmrigen Grau des Morgens um sich. Nun schwang sich auch Purvis über die Reling und machte grüßend vor Hornblower Front.
»Es sind alles Deutsche, glaube ich, Sir, keine Froschfresser.
Wir haben sie von der Schute heruntergeholt, die wir erwischten. Mußten lange schießen, ehe sie sich ergaben - haben die ganze Schute in Trümmer geschossen, wir und die anderen Boote. Sie kommen mit den übrigen Gefangenen nach, Sir.«
»Haben Sie denn nur eine Schute erwischt?«
»Jawohl, Sir. Die anderen machten kehrt und fuhren Hals über Kopf nach Hause, als die Rakete hochging. Aber wir haben mindestens zweihundert Gefangene gemacht, glaube ich, Sir, und vorher hatten sie wohl noch an die hundert Tote.«
Das war also der ganze Erfolg, eine einzige Schute mit zweihundert Mann! Und Hornblower hatte mindestens auf ein Dutzend davon gehofft, mit gut dreitausend Mann an Bord!
Aber Purvis in seiner Ahnungslosigkeit war von seinem Fang begeistert. »Hier ist einer ihrer Offiziere, Sir.«
Hornblower wandte sich an den Mann im blauen Waffenrock, der soeben müde über die Reling kletterte. »Wer sind Sie, Monsieur?« fragte er auf französisch.
Nach kurzem Zögern antwortete der Offizier stockend in der gleichen Sprache: »Leutnant von Bülow, vom 51.
Infanterieregiment.«
»Französische Infanterie?«
»Infanterie des Königs von Preußen«, gab der junge Offizier mit finsterer Miene zur Antwort. Dabei legte er einen Ton auf das Wort ›Preußen‹ , der keinen Zweifel darüber ließ, daß er es als Beleidigung empfand, für einen Franzosen gehalten zu werden. Macdonald war es offenbar nicht eingefallen, bei diesem gefährlichen Unternehmen das Leben französischer Soldaten aufs Spiel zu setzen. Das war nicht anders zu erwarten, denn Bonaparte führte seine Kriege schon das ganze letzte Jahrzehnt hindurch hauptsächlich auf Kosten seiner Bundesgenossen.
»Ich werde dafür sorgen, daß Sie zu essen und zu trinken bekommen«, sagte Hornblower höflich. »Ihre Leute können sich längs der Reling hinsetzen, sagen Sie ihnen das, bitte.«
Der Offizier gab den Befehl dazu. Es war erstaunlich, aber kennzeichnend, zu sehen, wie diese völlig ermatteten Gestalten auf das erste Ankündigungskommando: »Achtung!« zusammenfuhren und bewegungslos stillstanden Die meisten waren durchnäßt und schmutzig, offenbar hatten sie vor ihrer Gefangennahme im Wasser gelegen. Auf Hornblowers Befehl wurde Essen an sie ausgegeben, während gerade die anderen Boote, jedes mit seinem Anteil Gefangener an Bord, vor dem Wind angesegelt kamen. Als die zweihundert schließlich vollzählig waren, boten sie auf dem überfüllten Deck der Raven ein buntes Bild. Cole ließ die beiden Jagdgeschütze am Bug einrennen und herumschwenken, so daß sie mit der Mündung auf den Menschenhaufen gerichtet waren. Dann wurden sie mit Kartätschen geladen, und die Geschützführer standen mit brennender Lunte klar, um nötigenfalls in die Menge hineinzufeuern. Die Matrosen gingen, immer noch grinsend, durch die Reihen und gaben Brot und Bier aus.
»Sehen Sie nur, wie gierig sie alles hinunterschlingen, Sir«, sagte Purvis. »Schauen Sie den dort an, er fällt über sein Hartbrot her wie ein Wolf. Mein Gott, da hat er es schon vertilgt! Es muß doch wahr sein, was man sich allgemein erzählt: daß Boney seinen Leuten nie etwas zu essen gibt.« Die kaiserlichen Armeen pflegten auf dem Marsch aus dem Lande zu leben. Macdonalds sechzigtausend Mann traten aber nun schon vierzehn Tage auf der Stelle, und das noch dazu in einer ziemlich dünn bevölkerten Gegend. Kein Wunder, daß sie bereits auf schmale Rationen gesetzt waren. Jeder Tag, um den die Belagerung von Riga verlängert werden konnte, kostete Bonaparte Menschenleben in Fülle. Er pflegte zwar mit Menschen von jeher verschwenderisch umzugehen, aber einmal mußte doch der Tag kommen, an dem er keine mehr drangeben konnte, auch keine preußischen oder italienischen. Deshalb war es doppelt bedauerlich, daß ihn dieser Übersetzversuch nicht die ganze Division gekostet hatte. Hornblower gab sich selbst die Schuld an diesem Versager, er hätte bei dieser Operation einem nervösen alten Mann wie Cole niemals eine entscheidende Rolle zuteilen dürfen. Vielmehr hätte er selbst an Bord der Raven bleiben müssen. Und doch ließ sich auch darüber streiten, denn der andere Flügel, den er Vickery auf der Lotus anvertraut hatte, war ja nicht minder wichtig, und deshalb war es eben doch das richtigste gewesen, daß er in der Mitte auf der Nonsuch blieb, um von dort aus das Zusammenwirken der beiden Flügel sicherzustellen. Hätte er Vickery hüben und Cole drüben einsetzen sollen? Das wäre die andere Möglichkeit gewesen.
Gewiß, dann hätte er sich darauf verlassen können, daß Vickery die Falle nicht vorzeitig zufallen ließ, aber konnte er in diesem Falle sicher sein, daß Cole sie eisern geschlossen hielt? Hätte er ihn damit betraut, die Landung abzuwehren, dann stünden in diesem Augenblick vielleicht fünftausend Preußen auf dem jenseitigen Dünaufer. Wenn er nur eine Ahnung gehabt hätte, in welcher Nacht Macdonald diesen Landungsversuch unternahm!
Aber ebensogut mochte er sich das Blaue vom Himmel herunterwünschen.
»Mr. Cole«, sagte Hornblower, »geben Sie Signal an Nonsuch: › Kommodore an Kommandant: Laufe mit Gefangenen nach Riga ein‹ , und schicken Sie die Wachboote zu ihren Schiffen zurück. Dann wollen Sie bitte die Güte haben, Anker zu lichten und Segel zu setzen.«