10. Kapitel

Bush wischte sich mit seiner Serviette - wie immer unter umständlicher Wahrung der besten Manieren - den Mund.

»Was, glauben Sie, werden die Schweden dazu sagen, Sir?«

Das war eine kühne Frage, denn er wußte aus Erfahrung, daß Hornblower es nicht liebte, wenn er, Bush, sich mit solchen Dingen befaßte.

»Sie können sagen, was sie wollen«, antwortete Hornblower, »jedenfalls können sie nichts sagen, was die Blanchefleur wieder heil macht.«

Bush war ganz überrascht, wie herzlich das klang, verglichen nämlich mit der Abfuhr, auf die er gefaßt war. Nun wunderte er sich, wie diese ungewohnte Zugänglichkeit zustande kam.

Vielleicht war sie eine Wirkung des Erfolgs, der Anerkennung, der Beförderung oder aber seiner Heirat. Und seltsamerweise stellte sich Hornblower in diesem Augenblick die gleiche Frage und kam zu dem Ergebnis, daß dieses veränderte Benehmen eine Folge seines zunehmenden Alters war. Für einige Augenblicke versenkte er sich in eine seiner unerbittlichen, fast krankhaft strengen Selbstprüfungen. Im Lauf der Zeit hatte er sich mit der leidigen Tatsache abgefunden, daß sein Haar immer dünner wurde und daß sich seine Schläfen allmählich grau färbten. Als er zum ersten Male beim Kämmen seine Kopfhaut rosig durchschimmern sah, da war er völlig aus dem Gleichgewicht gekommen, jetzt hatte er sich längst daran gewöhnt. Sein Blick wanderte über die beiden Reihen junger Gesichter hier an seinem Tisch, und er spürte, wie dabei ein warmes Gefühl in ihm aufstieg. Das war es, er bekam väterliche Empfindungen. daß ihm diese Jugend plötzlich so nahe stand, war ihm eine ganz neue Erfahrung. Und nun entdeckte er noch mehr, daß nämlich sein Herz nicht nur der Jugend, sondern allen Menschen, jungen und alten, gehörte. Damit verlor er aber auch - zeitweilig, wie er sich vorsichtig einschränkend zuflüsterte - jenes unwiderstehliche Bedürfnis, sich selbstquälerisch von seiner Umgebung abzusondern. Er hob sein Glas.

»Meine Herren«, sagte er, »ich trinke auf das Wohl der drei Offiziere, deren vorbildlicher Pflichterfüllung und hervorragendem beruflichen Können wir die Vernichtung eines gefährlichen Gegners zu verdanken haben.« Bush, Montgomery und die beiden Fähnriche hoben ihre Gläser und taten begeistert Bescheid, Mound, Duncan und Freeman dagegen hielten ihren Blick mit echt englischer Bescheidenheit auf das Tischtuch gesenkt. Mound, den diese Ehrung völlig überrascht hatte, errötete wie ein junges Mädchen und rutschte in verlegener Unruhe auf seinem Stuhl hin und her.

»Wollen Sie nicht antworten, Mr. Mound?« sagte Montgomery. »Sie sind der Älteste.«

»Es war doch der Kommodore und nicht wir«, sagte Mound immer noch mit niedergeschlagenen Augen. »Er hat alles gemacht.«

»Richtig!« stimmte ihm Freeman zu und warf seine schwarzen Zigeunerlocken zurück.

Es wird Zeit, das Gesprächsthema zu wechseln, dachte Hornblower bei sich. Nach diesem Austausch von Glückwünschen war sonst eine unangenehme Stockung der Unterhaltung unvermeidlich.

»Wie wäre es mit einem Lied, Mr. Freeman. Wir wissen alle nur vom Hörensagen, daß Sie ein großer Sänger sind. Geben Sie uns einmal eine Probe davon.«

Was Hornblower nicht sagte, war, daß seine Kenntnis über Freemans Talent von einem der jüngeren Lords der Admiralität stammte, vor allem aber verheimlichte er, daß er selbst mit der Gesangskunst überhaupt nichts anzufangen wußte. Die anderen waren nun einmal seltsamerweise auf die Musik versessen, da war es schon das beste, wenn man ihnen ihr kindisches Vergnügen ließ.

Freeman dachte gar nicht daran, sich in Szene zu setzen, als er sich nun anschickte, zu beginnen. Er hob einfach den Kopf, öffnete den Mund und sang: »Wann immer ich in Chloes Augen schau', erblick' ich Meergeleucht und lichtes Himmelsblau.«

Es war doch etwas Eigenartiges um die Musik. Da führte dieser Freeman ein offenbar interessantes und auch schwieriges Kunststück vor, mit dem er den anderen (Hornblower blickte sie verstohlen an) entschieden eine Freude bereitete. Dabei bestand seine ganze Tätigkeit darin, auf verschiedene Art zu quieken und zu brummen und dabei die Worte willkürlich in die Länge zu ziehen - und was für törichtes Zeug! Zuletzt gab Hornblower wieder einmal, zum tausendsten Male in seinem Leben, den Versuch auf, vielleicht doch noch zu ergründen, was es mit dieser Musik auf sich hatte, in die andere Menschen so vernarrt waren. Wie immer sagte er sich, daß ein solches Unterfangen für ihn ebenso sinnlos war, als wenn sich ein Blinder darum bemühte, eine Vorstellung von der Farbe zu gewinnen. »Chloe, ich liebe dich, nur diiich allein.«

Freemans Lied war verklungen, und alle gaben ihren begeisterten Beifall kund, indem sie mit den Fäusten auf den Tisch donnerten.

»Ein sehr schönes Lied, und Sie haben es ausgezeichnet gesungen«, sagte Hornblower.

Montgomery versuchte, sich bemerkbar zu machen.

»Gestatten Sie, daß ich mich verabschiede, Sir?« sagte er.

»Ich habe Mittelwache.«

Das war für alle das Zeichen zum Aufbruch. Die drei Leutnants mußten auf ihre Schiffe zurück, Bush wollte einen Rundgang an Oberdeck machen, und die beiden Fähnriche beeilten sich, in richtiger Würdigung ihrer bescheidenen Rolle, für die Einladung zu danken und gleichfalls zu verschwinden.

Das war eine gelungene Einladung, dachte Hornblower, als er ihnen zum Abschied die Hand drückte: gutes Essen, angeregte Unterhaltung und rechtzeitiger Schluß. Er trat auf die Heckgalerie hinaus und nahm sich dabei sorgfältig in acht, nicht mit dem Kopf an die niederen Decksbalken zu stoßen. Es war jetzt um sechs Uhr abends immer noch heller Tag, die Sonne stand noch ein gutes Stück über der Kimm, sie schien genau von achtern in die Galerie, und gerade unter ihr lag als schwacher dunkler Schatten auf dem Horizont die Insel Bornholm. Mit angeholter Großschot, so daß das Großsegel stand wie ein Brett, passierte dicht unter ihm der Kutter, der hart am Wind das Heck der Nonsuch rundete, um die Leutnants auf ihre Schiffe zurückzubringen. Der Wind stand jetzt wieder aus Nordwest.

Drüben auf dem Achterdeck des Kutters trieben die drei jungen Offiziere ihren Schabernack, bis plötzlich einer von ihnen den Kommodore auf seiner Heckgalerie stehen sah. Da fuhren sie alle drei zusammen und grüßten ihn in militärischer Haltung.

Hornblower mußte über sich selbst lächeln - daß ihm diese Jungen da so ans Herz wachsen konnten! Dann wandte er sich in die Kajüte zurück, er wollte sie von dem Zwang befreien, unter dem sie standen, solange sie unter seinen Augen waren. Drinnen wartete Braun auf ihn.

»Ich habe die Zeitungen durchgelesen, Sir«, sagte er. Die Lotus hatte am Nachmittag ein preußisches Fischerboot angehalten, den Fang beschlagnahmt und die an Bord befindlichen Zeitungen mitgenommen. Dann hatte sie das Fahrzeug wieder entlassen. »Nun?«

»Dies hier ist die Königsberger Hartungsche Zeitung, Sir, sie steht natürlich unter französischer Zensur. Die Titelseite ist ausschließlich der Dresdener Zusammenkunft gewidmet.

Bonaparte hat dort sieben Könige und einundzwanzig souveräne Fürsten um sich versammelt.«

»Sieben Könige?«

»Ja, die Könige von Holland, Neapel, Bayern, Württemberg, Westfalen, Sachsen und Preußen, Sir«, las Braun ab, »dann die Großherzöge von...«

»Den Rest können wir uns schenken«, unterbrach ihn Hornblower. Er warf selbst einen Blick in die zerfetzten Seiten des Blattes. Was war doch dieses Deutsch für eine barbarische Sprache! Das mußte er jedesmal denken, wenn er es gedruckt vor sich sah.

Aber was führte Bonaparte im Schild? Offenbar wollte er irgendwem Angst einjagen. England konnte es nicht gut sein, denn das trotzte seinem Zorn und seiner Macht nun schon seit einem Dutzend von Jahren, ohne mit der Wimper zu zucken.

Vielleicht galt seine Einschüchterungspolitik nur den eigenen Untertanen, all den Völkern Westeuropas, die er schon mit Waffengewalt unterworfen hatte. Weitaus am nächsten lag jedoch die Annahme, daß er damit den Zaren von Rußland schrecken wollte. Rußland hatte wirklich allen Anlaß, sich gegen die ständigen Übergriffe seines unruhigen Nachbarn widerspenstig zu zeigen, da mochte diese unerhörte Machtentfaltung Bonapartes sehr wohl den Zweck haben, die aufkeimende Feindseligkeit in der Angst vor der drohenden Übermacht zu ersticken. »Steht da auch etwas über Truppenbewegungen?« fragte Hornblower. »Jawohl, Sir. Es überrascht mich, daß sie so offen gemeldet werden. Die kaiserliche Garde ist in Dresden. Dann ist noch das erste, das zweite und« - Braun blätterte um - »das neunte Armeekorps erwähnt. Sie sind in Preußen - Hauptquartier Danzig - und in Warschau.«

»Neun Armeekorps«, überlegte Hornblower, »das werden zusammen 300 000 Mann sein -.«

»Da steht etwas über Murats Reservekavallerie:›Sie ist 40 000

Mann stark und durchweg hervorragend beritten und ausgerüstet‹. Bonaparte hat sie besichtigt.«

Offenbar wurde zur Zeit an der Grenze zwischen dem Herrschaftsbereich Bonapartes und Rußland eine riesige Truppenmasse angesammelt. Auch die preußische und die österreichische Armee standen ja unter Bonapartes Befehl. Eine halbe Million - vielleicht 600 000 Mann! Solche Zahlen überstiegen jede Vorstellungskraft. Eine wahre Flut von Menschen staute sich hier im östlichen Europa. Wenn sich Rußland durch diese gewaltige Drohung nicht einschüchtern ließ, dann konnte man sich wirklich kaum vorstellen, wie es diesem Massenansturm widerstehen konnte. Das Schicksal Rußlands schien besiegelt, es blieb ihm nur die Wahl zwischen Unterwerfung oder Vernichtung. Noch hatte sich keine Festlandsmacht mit Erfolg gegen Bonaparte zur Wehr gesetzt, jede einzelne von ihnen hatte die brutale Gewalt seines Angriffs erfahren müssen. England allein leistete ihm Widerstand, und Spanien kämpfte unerschrocken weiter gegen ihn, obgleich Napoleons Armeen jedes Dorf, jedes Tal der unglücklichen Halbinsel verwüsteten. Und doch kam Hornblower nicht über seine Zweifel hinweg. Was gewann denn Bonaparte, wenn er Rußland niederwarf? Stand dieser Gewinn in irgendeinem Verhältnis zu dem riesenhaften Aufwand, den das Unternehmen kostete, ja selbst zu dem geringen Risiko, das er dabei lief? Man sollte doch glauben, daß Bonaparte für seine Soldaten und sein Geld eine bessere Verwendung hätte. Nein, wahrscheinlich kam es eben doch nicht zum Krieg. Rußland gab sicher nach, und dann, ja dann stand England ganz allein gegen dieses Europa, das nun von einem Ende bis zum anderen in der Gewalt des Tyrannen war. Und doch...

»Dies hier ist die Warschauer Zeitung, Sir«, fuhr Braun fort.

»Obgleich sie polnisch geschrieben ist, bringt sie den offiziellen französischen Standpunkt sogar noch etwas deutlicher zum Ausdruck als das andere Blatt. Hier ist zum Beispiel ein längerer Artikel über Rußland. Darin stehen Sätze über die ›Bedrohung Europas durch die Kosaken‹. Alexander wird der›barbarische Beherrscher eines barbarischen Volkes‹und der›Nachfolger Dschingis Khans‹genannt. Weiter heißt es darin, St. Petersburg sei›der Brennpunkt aller Bestrebungen, die in Europa auf Anarchie abzielten‹-›eine Bedrohung des Weltfriedens‹-›der grimmigste Feind aller Segnungen, die das französische Volk der Welt gebracht habe.‹ «

»Und das alles wird mit Bonapartes Einverständnis gedruckt«, bemerkte Hornblower halb zu sich selbst. Aber Braun war noch immer in seinen Artikel vertieft. » ›Der unersättliche Räuber Finnlands‹ «, las Braun weiter und mehr halb für sich. Dann hob er seine grünen Augen von dem Blatt. In ihrem Blick glühte ein solcher Haß, daß Hornblower förmlich erschrak. Natürlich - er war auf dem besten Wege gewesen, es zu vergessen -, der Angriff auf Finnland hatte diesen Braun zum mittellosen Emigranten gemacht. Er war in englische Dienste getreten, aber zu einer Zeit, als Rußland mindestens dem Namen nach Englands Gegner war. So, wie die Dinge jetzt lagen, war es nicht ratsam, Braun in irgendwelche vertraulichen Angelegenheiten einzuweihen, die Rußland betrafen.

Hornblower wollte sich das auf jeden Fall merken, daß Rußland freiwillig die finnische Unabhängigkeit wiederherstellte, kam gar nicht in Frage, viel eher war so etwas von Bonaparte zu erhoffen, das war dann natürlich eine Unabhängigkeit nach Bonapartes Begriffen. Aber immerhin! Es gab immer noch Leute genug, die sich durch Bonapartes Erklärungen trotz aller seiner Betrügereien, Wortbrüche, Grausamkeiten, Raubzüge nach wie vor täuschen ließen. Er mußte also ein wachsames Auge auf Braun halten, folgerte Hornblower - noch eine Sorge mehr, als ob er nicht schon genug zu bedenken, genug zu verantworten hätte. Wenn er auch mit Bush über die Schweden und Russen Witze machte, insgeheim nagte an ihm die Sorge.

Die Zerstörung der Blanchefleur in den pommerschen Gewässern konnte in Schweden leicht böses Blut gemacht haben. Vielleicht gab sie für Bernadotte den Ausschlag, sich offen auf die Seite Bonapartes zu stellen und am Krieg gegen England aktiven Anteil zu nehmen. Die Aussicht aber, Schweden und Frankreich zu Gegner zu haben, mochte Rußland veranlassen, seinen möglicherweise schon gefaßten Entschluß zum Widerstand wieder umzustoßen. Dann bestand das Endergebnis seiner Handlungsweise darin, daß sich England allein einer ganzen Welt in Waffen gegenübersah. Das wäre wahrhaftig ein glänzender ›Erfolg‹ seines ersten, unabhängigen Kommandos! Er malte sich im Geist schon das süffisante Grinsen aus, mit dem die Brüder Barbaras, diese ekelhaften Kerle, einen solchen Versager ihres Schwagers zur Kenntnis nehmen würden.

Es kostete Hornblower Mühe, diesen Alptraum von sich abzuschütteln; als es ihm endlich gelungen war, bemerkte er erst, daß Braun den seinigen immer noch weiter träumte. Der glühende Haß in seinem Blick, der finstere Ausdruck seines Gesichts waren geradezu erschreckend anzusehen. Es klopfte an der Tür. Davon erwachte auch Braun aus seinen Träumen und fand sofort zu seiner alten, respektvoll dienstbereiten Haltung zurück. »Herein!« rief Hornblower. Es war einer der Fähnriche der Wache.

»Mr. Montgomery schickt mich mit diesem Signal der Raven Sir.« Er reichte ihm die Schiefertafel, auf die der Signaloffizier den Wortlaut hingekritzelt hatte:

»Habe schwedisches Fahrzeug getroffen, das mit Kommodore Verbindung aufnehmen will.«

»Ich komme gleich an Deck«, sagte Hornblower. »Sagen Sie dem Kommandanten, ich ließe ihn bitten, auch an Deck zu kommen.«

»Der Kommandant ist an Deck, Sir.«

»Sehr schön.«

Bush, Montgomery und noch ein halbes Dutzend anderer Offiziere richteten ihre Gläser auf die Marssegel der Raven die ihren Posten weit draußen an Backbord hatte, während der Verband in breiter Formation durch die Ostsee streifte. Noch war eine gute Stunde Tageslicht.

»Kapitän Bush«, sagte Hornblower, »ich wäre Ihnen verbunden, wenn Sie auf die Raven zuhalten wollten.«

»Aye, aye, Sir.«

»Und dann bitte Signal an den Verband: Machtpositionen einnehmen«

»Aye, aye, Sir.«

Dick und schwerfällig wälzte sich die Nonsuch auf den neuen Kurs und legte sich über, als sie den Wind von der Seite bekam.

Die Wache braßte die Rahen Steuerbord an.

»Gleich hinter der Raven ist ein Segel in Sicht, Sir«, sagte Montgomery. »Sieht aus wie eine Brigg. Nach dem Schnitt der Marssegel ist es ein Schwede, Sir, einer der Ostseefahrer, wie man sie auf der Reede von Leith sehen kann.«

»Danke«, sagte Hornblower.

Nun dauerte es nicht mehr lange, bis er hörte, was es Neues gab. Vielleicht, ja wahrscheinlich, waren es höchst unerfreuliche Dinge. Ob es schon die gefürchtete Unglücksbotschaft war? Auf jeden Fall lud man ihm neue Verantwortung auf die Schultern.

Er ertappte sich dabei, daß er Montgomery um seine herrlich einfache Aufgabe als wachhabender Offizier beneidete. Der brauchte nur seine Befehle auszuführen und ein wachsames Auge auf das Wetter zu richten und damit basta! Und bei allen wichtigen Entscheidungen mußte er einen Vorgesetzten zu Rate ziehen. War das nicht wunderbar? Allmählich verringerte sich der Abstand zwischen der Nonsuch und der Brigg, zuerst kamen ihre Untersegel in Sicht, und endlich tauchte auch ihr Rumpf über dem Horizont auf. Hornblower zwang sich dazu, ruhig wartend auf dem Achterdeck stehenzubleiben. Am Westhimmel stand schon ein flammendes Abendrot, aber die Dämmerung zog sich in die Länge, so daß immer noch Zwielicht herrschte, als die Brigg endlich in den Wind schoß. »Kapitän Bush«, sagte Hornblower, »bitte, drehen Sie bei. Drüben wird ein Boot ausgesetzt.«

Er wollte keine pöbelhafte Neugier zur Schau tragen und hinüberstarren, während man das Boot aussetzte, oder über die Reling blicken, wenn es längsseit kam. Also schritt er in der herrlichen Abendstimmung genießerisch auf dem Achterdeck auf und ab und ließ seine Blicke nach allen Richtungen schweifen, nur nicht nach dem Boot. Die übrigen Offiziere und die Mannschaften scherzten, gafften und stellten Vermutungen an. Das erste, was Hornblower sah, war ein Schiffshut mit einer weißen Feder, die ihm sofort bekannt vorkam. Dann tauchte unter dem Hut das massige Gesicht und die stattliche Figur des Barons Basse auf. Wieder legte er, wie neulich, zu seiner feierlichen Verbeugung den Hut auf die Brust. »Ihr Diener, Sir«, sagte Hornblower mit einem steifen Gegengruß. Zu dumm, daß ihm der Name des Mannes nicht einfallen wollte. Dabei wußte er genau, wen er vor sich hatte, und hätte jederzeit eine treffende Beschreibung von ihm geben können. Er wandte sich an den Fähnrich der Wache: »Mr. Braun soll zu mir kommen.« Der schwedische Gentleman sagte etwas, aber Hornblower hatte keine Ahnung, was er meinte.

»Wie bitte, Sir?« fragte er, und Basse wiederholte seinen Satz, konnte sich jedoch ebensowenig verständlich machen wie das erstemal. Geduldig wollte er zum dritten Male beginnen, unterbrach sich aber, als er bemerkte, daß Hornblower nicht mehr aufpaßte, sondern gespannt nach der Fallreepspforte sah.

Hornblower gab sich alle Mühe, immer höflich zu sein, aber der unverhoffte Anblick einer englischen Bärenmütze, die jetzt dort in der Pforte auftauchte, war eben doch so aufregend und rätselhaft, daß er es nicht vermochte, bei der Sache zu bleiben.

Die riesige Bärenmütze mit einer roten Feder, darunter ein struppiger, roter Schnurrbart, ein scharlachroter Waffenrock mit roter Schärpe, alles schwer mit Gold bestickt, blaue Reithosen mit roten Streifen, hohe Stiefel und ein Säbel, dessen goldener Griff in dem schwindenden Tageslicht seltsam aufglühte. Kein Zweifel, das war die Uniform der britischen Garde! Der Träger dieser Uniform war für einen Gardisten etwas klein geraten, aber er beherrschte die militärischen Formen, das mußte man ihm lassen. Während er durch die Fallreepspforte trat, hob er, nach dem Achterdeck gewandt, seine Hand zum Gruß, dann schritt er mit seinen kurzen Beinen feierlich auf Hornblower zu und klappte in echter, eleganter Gardemanier vor ihm die Hacken zusammen.

»Guten Abend, Sir«, sagte er. »Sie sind Kapitän Sir Horatio Hornblower?«

»Ja« sagte Hornblower.

»Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Lord Wychwood, Oberst à la Suite des Ersten Garderegiments.«

»Guten Abend«, sagte Hornblower kühl. Als Kommodore war er entschieden dienstälter als ein Oberst und konnte es sich leisten, die Weiterentwicklung der Dinge gelassen abzuwarten.

Es dauerte wohl nicht mehr lange, bis er erfuhr, was diesen Obersten der Gardegrenadiere in voller Uniform hierher, mitten auf die Ostsee, geführt hatte.

»Ich habe eine eilige Depesche unseres Gesandten in Stockholm für Sie«, sagte Lord Wychwood und fuhr in die Brusttasche seines Waffenrocks. »Wir gehen besser in meine Kajüte, Sir«, sagte Hornblower und warf dabei einen raschen Blick auf Basse.

»Sie haben bereits mit Baron Basse Bekanntschaft gemacht, nicht wahr? Er hat gleichfalls Nachrichten für Sie.«

»Dann hat der Baron vielleicht die Güte, sich uns anzuschließen. Wenn die Herren mir gestatten, voranzugehen, zeige ich Ihnen den Weg.« Während Hornblower sich anschickte, die Prozession anzuführen, dolmetschte Braun mit großer Förmlichkeit seine höflichen Worte.

In der Kajüte war es schon dunkel, aber Brown eilte bereits nach den Lampen und stellte Stühle bereit. Wychwood ließ sich in seiner engen ›Stehhose‹ ganz langsam und vorsichtig nieder.

»Wissen Sie schon, was Boney sich geleistet hat?« begann er.

»Nein, ich habe keine neueren Nachrichten.«

»Er hat 50 000 Mann nach Schwedisch-Pommern geschickt, als er hörte, was Sie ihm vor Stralsund angetan haben.«

»Nein, wirklich?«

»Sie sind in der üblichen Weise vorgegangen. Vandamme hatte das Kommando. Das erste war, daß er der Stadt Stralsund eine Buße von 100 000 Franken auferlegte, weil bei seinem Einmarsch nicht die Glocken geläutet hatten. In der Heiliggeistkirche unterbrach er den Gottesdienst, um den Abendmahlskelch zu beschlagnahmen. Der Generalgouverneur wurde verhaftet und ins Gefängnis gesteckt. Da die Besatzung von Rügen versuchte, die Franzosen am Übersetzen auf die Insel zu hindern, kam es dort zu Ausschreitungen. Auf ganz Rügen wurde geplündert, wurden Menschen gemordet und vergewaltigt. Der Baron hier ist in einem Fischerboot entkommen, alle anderen Beamten und die Truppen sind gefangen.«

»Also führt Boney jetzt Krieg gegen Schweden?«

Wychwood zuckte die Achseln. In der Ostsee schien jeder die Achseln zu zucken, dem man zumutete, eine eindeutige Aussage über Krieg oder Frieden zu machen. »Darüber kann Ihnen der Baron Auskunft geben«, sagte Wychwood. Damit wandten sich beide Baron Basse zu, der alsbald eine längere Erklärung in schwedischer Sprache hervorzusprudeln begann. Braun, der am Schott der Kajüte stand, übersetzte:

»Er sagt, die Entscheidung über Krieg und Frieden liege beim Kronprinzen, Seiner Königlichen Hoheit dem Prinzen Karl Johann, dem früheren Marschall Bernadotte. Seine Königliche Hoheit ist im Augenblick nicht in Schweden, er weilt zu einem Besuch des Zaren in Rußland.«

»Ich nehme an, daß sich darauf auch die Depesche bezieht, die ich Ihnen übergeben soll, Sir«, meinte Wychwood. Damit brachte er einen großen, schwer versiegelten Leinenumschlag zum Vorschein und händigte ihn Hornblower aus. Der riß ihn auf und las den Inhalt.

Gesandtschaft Seiner Britischen Majestät zu Stockholm, den 20. Mai 1812

der Überbringer dieser Depesche, Oberst Lord Wychwood, à la Suite des Ersten Garderegiments, wird Sie über die politische Lage in Schweden unterrichten. Es ist zu hoffen, daß der Einfall Bonapartes in Schwedisch-Pommern eine Kriegserklärung der schwedischen Regierung gegen ihn zur Folge haben wird. Deshalb ist es nötig, diejenigen schwedischen Amtspersonen, die die Absicht haben, mit Seiner Königlichen Hoheit dem Kronprinzen in Verbindung zu treten, bei Durchführung dieses Vorhabens nach Kräften zu unterstützen.

Sie werden daher ersucht und angewiesen, solche Amtspersonen unter Anwendung aller erdenklichen Sorgfalt und Eile auf ihrem Weg nach Rußland zu geleiten oder selbst zu befördern. Sie werden weiterhin ersucht und angewiesen, diese Gelegenheit voll auszunutzen, um Lord Wychwood eine persönliche Fühlungnahme mit der russischen Regierung zu ermöglichen, mit dem Ziel, seine Kaiserliche Majestät den Zaren für den Fall eines Krieges zwischen Seiner Kaiserlichen Majestät und der französischen Regierung der vollen Unterstützung durch die Streitkräfte Seiner Britischen Majestät zu Lande und zu Wasser zu versichern. Sie werden auch sonst jede sich bietende Gelegenheit benutzen, die guten Beziehungen zwischen Seiner Majestät und Seiner Kaiserlichen Majestät nach Kräften zu festigen.

Ihr ergebener Diener

H. L. Merry, Seiner Britischen Majestät Gesandter am Hof zu Stockholm

Herrn Kapitän z. S. Sir Horatio Hornblower, K. B., Kommodore und Befehlshaber des Britischen Ostseegeschwaders.

Hornblower las diese Order mit aller Aufmerksamkeit zweimal durch. Es galt nun, eine wichtige Entscheidung zu treffen. Merry hatte ihm keine Befehle zu erteilen, es stand ihm vor allem nicht zu, solche Befehle in die Formel: ›Sie werden ersucht und angewiesen‹ zu kleiden, diese Formel, die das eifersüchtig gehütete Vorrecht seiner militärischen Vorgesetzten war. Gewiß, ein Gesandter war eine wichtige Amtsperson - für einen Seeoffizier in fremden Gewässern sicher die wichtigste nach den Lords der Admiralität -, aber deshalb konnte er doch höchstens bitten und empfehlen, hatte aber niemals das Recht, Anweisungen zu geben. Wenn Hornblower sie befolgte, hatte er der Admiralität gegenüber keine Entschuldigung, falls die Sache schiefging. Andererseits wußte er aber nur zu gut, daß Merry sich in London bitter über ihn beklagen wurde, wenn er seine Weisungen nicht beachtete.

Hornblower rief sich die Befehle der Admiralität ins Gedächtnis. Sie gaben ihm für sein Verhalten gegen die skandinavischen Mächte große Handlungsfreiheit. Der Brief Merrys entband ihn nicht von seiner eigenen Verantwortung. Er konnte Wychwood und Basse entweder die Weiterreise mit der schwedischen Brigg gestatten, oder er konnte sie selbst befördern. Worauf es hierbei ankam, war die Frage, ob die Nachricht von der neuesten Angriffshandlung Bonapartes ausgerechnet durch ein britisches Geschwader überbracht werden sollte oder nicht. Wer eine schlechte Nachricht brachte, machte sich immer unbeliebt; es möchte lächerlich scheinen, wenn er solche Faktoren in Rechnung stellte, aber deshalb war es doch wichtig, es zu tun. Die beiden Herrscher mochten es aufreizend finden, in dieser Form wieder einmal an die britische Kriegsmarine erinnert zu werden, die ihre Finger in jeden Brei steckte und damit alle Welt in Ungelegenheiten brachte.

Andererseits konnte es sehr nützlich und heilsam sein, wenn das Auftreten eines britischen Geschwaders in der östlichen Ostsee, ja, unmittelbar an den Toren von St. Petersburg, die Leute daran erinnerte, wie lang der Arm Englands war. Unterwerfung unter Bonaparte bedeutete für Schweden und Rußland Krieg, diesmal richtigen, wirklichen Krieg gegen England. Bonaparte fand sich da bestimmt nicht mit Halbheiten ab. Bei dieser Lage der Dinge mußte es für die Entscheidungen der Russen und der Schweden da drüben schwer ins Gewicht fallen, wenn die Marssegel britischer Schiffe an der Kimm gemeldet wurden, wenn sie wußten, daß dieser Krieg gegen England augenblickliche Blockade, Wegnahme jedes Schiffes, das sich hinauswagte, ständige Bedrohung aller ihrer Küsten bedeutet. Bonaparte stand vielleicht an ihren Grenzen, ja, aber England stand vor ihren Toren. Hornblower traf seine Entscheidung. »Meine Herren«, sagte er, »ich glaube, es ist meine Pflicht, Sie mit meinem Geschwader nach Rußland zu bringen. Ich biete Ihnen die Gastfreundschaft dieses Schiffes und hoffe, daß Sie die Güte haben, sie anzunehmen.«