16. Kapitel
Hornblower saß allein bei seinem Dinner. Er hatte seinen Gibbon sicher an die vor ihm stehende Käseglocke gelehnt und streckte die Beine bequem unter den Tisch. Heute hatte er sich ausnahmsweise eine halbe Flasche Wein geleistet, und das Labskaus, von dem er sich eben nahm, duftete höchst appetitlich. Dies war einer jener Tage, an denen er mit Gott und der Welt zufrieden war. An solchen Tagen konnte er sich unbeschwert und ohne viel zu denken von seinem Schiff wiegen lassen, da schmeckte ihm jede Speise, da war jeder Schluck Wein ein köstlicher Genuß. Er hatte den Löffel eben in das Labskaus gesteckt, da klopfte es an die Tür, und ein Fähnrich trat ein. »Clam zu luward in Sicht, Sir«, meldete er. »Sehr gut.«
Hornblower fuhr fort, das Labskaus aus der Schüssel auf seinen Teller zu löffeln, und verteilte dann seine Portion so, daß sie schneller abkühlte. Erst jetzt begann sein Geist, sich mit der Gegenwart zu befassen. Die Clam brachte sicher Neuigkeiten, er hatte sie ja nur deshalb in St. Petersburg zurückgelassen, weil sie dort auf Nachrichten warten sollte. Vielleicht war Rußland schon im Krieg mit Bonaparte. Oder hatte sich Alexander doch wieder zu der verächtlichen Nachgiebigkeit verleiten lassen, die ihn allein vor dem Krieg bewahren konnte? Vielleicht war er aber auch schon tot, von seinen Offizieren ermordet wie sein Vater. Es wäre nicht das erstemal, daß ein Wechsel in der russischen Politik durch eine Palastrevolution eingeleitet würde.
Vielleicht - vielleicht... Was lag nicht alles im Bereich der Möglichkeiten? Aber darüber wurde das Labskaus kalt. Eben besann er sich wieder auf sein Essen, da klopfte der Fähnrich schon wieder an die Tür. »Clam macht Signal: ›Habe Depeschen für Kommodore‹ , Sir.«
»Wie weit ist sie noch weg?«
»Mit dem Rumpf über der Kimm in Luv, Sir. Wir laufen ihr entgegen.«
»Machen Sie: ›Kommodore an Clam: Senden Sie Depeschen so schnell wie möglich an Bord‹ .«
»Aye, aye, Sir.«
Das Signal der Clam hatte nichts Überraschendes.
Überraschend wäre es gewesen, wenn sie keine Depeschen gebracht hätte. Hornblower löffelte das Labskaus so hastig in sich hinein, als ob er dadurch die Ankunft der Depeschen hätte beschleunigen können. Als er es merkte, zwang er sich, langsam zu essen, und nahm dazu ab und zu einen Schluck Wein. Aber Wein und Labskaus wollten ihm nicht mehr schmecken. Nun servierte Brown den Käse, Hornblower kaute bedächtig weiter und sagte sich, daß er wirklich ganz anständig gegessen habe.
Dabei lauschte er gleichzeitig nach den Geräuschen, die oben an Deck über seinem Kopf zu hören waren, und schloß daraus, daß ein Boot längsseit kam. Gleich darauf trat nach neuerlichem Klopfen Lord Wychwood bei ihm ein. Hornblower stand auf, bat ihn Platz zu nehmen, bot ihm ein Dinner an und nahm dann den dicken, in Leinwand eingeschlagenen Brief entgegen, den ihm Wychwood reichte. Er unterschrieb gleich einen Empfangsschein dafür und saß dann, den Brief auf den Knien haltend, einen Augenblick in regungsloser Spannung da. »Es ist soweit«, begann Wychwood. »Der Krieg ist ausgebrochen.«
Hornblower verbot sich die drängende Frage: Krieg mit wem?
Er zwang sich zur Geduld.
»Alexander hat sich dazu entschlossen, das heißt, eigentlich war es doch Boney. Er hat vor zehn Tagen den Njemen mit zehn Armeekorps überschritten. Natürlich ohne Kriegserklärung. Es wäre auch absurd gewesen, von zwei Machthabern, die einander auf jedem Blatt Papier, in jeder europäischen Sprache in gröblichster Art zu beschimpfen pflegten, eine solche Höflichkeit zu erwarten. Durch die Antwort, die Alexander vor einem Monat - am Tage, ehe Sie uns verließen - erteilte, war der Krieg unvermeidlich geworden. Nun werden wir ja sehen...«
»Wer, glauben Sie, wird siegen?«
Wychwood zuckte die Achseln.
»Ich kann mir nicht vorstellen, daß Boney geschlagen wird.
Und nach dem, was ich gehört habe, hat sich die russische Armee trotz ihrer Reorganisation voriges Jahr in Finnland nicht gerade ausgezeichnet. Boney hat immerhin eine halbe Million Mann auf Moskau in Marsch gesetzt.«
Eine halbe Million, das war die größte Armee, die die Welt gesehen hatte, seit Xerxes den Hellespont überschritt.
»Jedenfalls«, fuhr Wychwood fort, »ist Boney für diesen Sommer gut auf gehoben. Und im nächsten Jahr werden wir weiter sehen. Vielleicht hat er so große Verluste, daß das französische Volk nicht mehr mitmacht.«
»Wir wollen es hoffen«, sagte Hornblower.
Dann zog er sein Messer und schnitt den Umschlag auf.
Britische Botschaft in St. Petersburg, den 24. Juni 1812
Sir
Der Überbringer dieses Schreibens, Lord Wychwood, wird Sie von der Entwicklung der Lage unterrichten und davon in Kenntnis setzen, daß Seine Kaiserliche Majestät der Zar und Bonaparte sich nunmehr im Kriegszustand miteinander befinden. Sie werden natürlich alle notwendigen Maßnahmen treffen, um unserem neuen Verbündeten jede Unterstützung angedeihen zu lassen, die sie mit den Ihnen zu Gebote stehenden Machtmitteln gewähren können. Nach hier eingegangenen, glaubwürdigen Nachrichten rückt Bonaparte mit dem größten Teil seines Heeres gegen Moskau vor, soll aber außerdem erhebliche Streitkräfte, dem Vernehmen nach zwei preußische und ein französisches Korps, zusammen etwa sechzigtausend Mann, unter dem Befehl des Marschalls Macdonald, Herzogs von Tarent, in nördlicher Richtung gegen St. Petersburg in Marsch gesetzt haben. Es ist natürlich von höchster Bedeutung, zu verhindern, daß dieser Vorstoß sein Ziel erreicht. Auf Veranlassung des kaiserlich russischen Stabes soll ich Ihre Aufmerksamkeit auf die Tatsache richten, daß Ihr Geschwader unter den gegebenen Umständen vor Riga wertvolle Dienste leisten könnte, da sich die Franzosen dieser Stadt bemächtigen müssen, ehe sie ihren Vormarsch nach St. Petersburg fortsetzen können. Ich möchte diesen Vorschlag des russischen Stabes durch meinen persönlichen Rat unterstützen und stelle Ihnen daher auch von mir aus dringend anheim, der Stadt Riga so lange Ihre Unterstützung zu gewähren, als Ihre ursprünglichen Befehle das zulassen.
Auf Grund der mit meiner Stellung und Aufgabe verbundenen Vollmachten setze ich Sie davon in Kenntnis, daß ich es im Interesse der Landesverteidigung für wichtig halte, den gegenwärtig unter Ihrem Kommando stehenden Kutter Clam, unverzüglich nach England zu entsenden, um die Nachricht von dem Kriegsausbruch mit größtmöglicher Schnelligkeit dorthin zu übermitteln. Ich gebe mich der bestimmten Erwartung hin, daß, Sie hiergegen keine Einwendungen erheben werden. Es ist mir eine besondere Ehre, Sir, usw., usw.
Cathcart
Seiner Britischen Majestät bevollmächtigter Minister und außerordentlicher Gesandter am Hofe seiner Kaiserlichen Majestät
»Cathcart ist ein tüchtiger Mann«, bemerkte Wychwood, als er sah, daß Hornblower fertig gelesen hatte. »Sowohl als Soldat wie als Diplomat kann er Merry in Stockholm zweimal einstecken. Ich bin froh, daß Wellesley ihm diesen Posten gegeben hat.«
Jedenfalls war dieses Schreiben in einem ganz anderen Ton abgefaßt als das von Merry damals. Cathcart maßte sich eben nicht an, einem Kommodore Befehle zu erteilen.
»Sie kehren also mit der Clam nach England zurück«, sagte Hornblower. »Ich muß Sie nur bitten, so lange zu warten, bis ich meinen eigenen Bericht an die Admiralität abgeschlossen habe.«
»Das ist doch klar«, sagte Wychwood.
»Es dauert nur ein paar Minuten«, sagte Hornblower.
»Vielleicht leistet Ihnen Kapitän Bush so lange Gesellschaft.
Sicher wird auch sonst eine Menge Post nach England mitzunehmen sein. Außerdem möchte ich meinen Sekretär gleichfalls an Bord der Clam nach England zurückschicken und darf Ihnen wohl die seinen Fall betreffenden Papiere anvertrauen.«
Als Hornblower wieder allein in seiner Kajüte war, öffnete er seinen Schreibtisch und holte Tinte und Feder heraus. Dem Bericht war wenig hinzuzufügen. Er las die letzten Worte: Ich darf mir erlauben, Korvettenkapitän William Vickery und Leutnant Percival Mound sowohl wegen ihres ausgezeichneten persönlichen Verhaltens, als auch wegen ihrer beruflichen Tüchtigkeit der besonderen Aufmerksamkeit Ihrer Lordschaften zu empfehlen. Dann begann er einen neuen Satz: Ich nehme die Entsendung der Clam nach England zum Anlaß, dieses Schreiben zu übermitteln. In Übereinstimmung mit dem Vorschlag Seiner Exzellenz Lord Cathcarts werde ich mich mit dem Rest meines Verbandes sofort nach Riga begeben, um dort den russischen Streitkräften alle mögliche Unterstützung zuteil werden zu lassen. Einen Augenblick dachte er daran, noch eine der üblichen Formeln hinzuzufügen, zum Beispiel: Ich hoffe, daß dieses Vorgehen die Billigung Ihrer Lordschaften finden wird oder etwas Ähnliches. Aber er ließ seine Absicht gleich wieder fallen, denn das wären doch nur leere und nichtssagende Worte gewesen. Er tauchte seine Feder ein und schrieb dann einfach: Ich habe die Ehre zu sein Ihr gehorsamer Diener Horatio Hornblower, Kapitän zur See und Kommodore.
Während er das Schreiben zusammenfaltete, rief er nach Brown. Dann schrieb er die Adresse: Edward Nepean Esq., Sekretär der bevollmächtigten Lords der Admiralität. Brown brachte ihm Kerze und Siegellack, er versiegelte seinen Brief mit Sorgfalt und legte ihn beiseite. Jetzt nahm er einen neuen Bogen und begann wieder zu schreiben:
H.M.S. Nonsuch, Ostsee
Meine liebe Frau,
Der Kutter wartet auf die Post nach England, deshalb kann ich den Briefen, die ich Dir in Erwartung einer solchen Gelegenheit schon früher geschrieben habe, nur diese wenigen Zeilen hinzufügen. Ich bin bei bester Gesundheit, und meine Unternehmungen haben bis jetzt einen günstigen Verlauf genommen. Soeben hat mich die große Nachricht vom Ausbruch des Krieges zwischen Bonaparte und Rußland erreicht. Ich hoffe, daß dieser Schritt Bonapartes sich zuletzt als sein größter Fehler erweisen wird, für die nähere Zukunft sehe ich allerdings nur langwierige und verlustreiche Kämpfe voraus. Leider wird es mir durch diese Umstände fürs erste nicht vergönnt sein, Deine liebe Nähe zu genießen, wenigstens so lange nicht, bis das Eis in den Häfen weitere Operationen in diesen Gewässern verbietet.
Ich nehme als gewiß an, daß Du wohlauf und guter Dinge bist, und daß die Anstrengungen der Londoner Season Dir nicht allzuviel anhaben konnten. Vor allem beruhigt mich der Gedanke, Dich wieder in der guten Luft von Smallbridge zu wissen, die bald wieder Rosen auf Deine Wangen zaubern wird, so daß auch die Launen der Schneiderinnen und Putzmacherinnen Deine Gesundheit und Deinen Seelenfrieden nicht mehr über Gebühr beeinträchtigen werden.
Ich hoffe auch, daß Richard so brav und gehorsam ist, wie es sich gehört, und daß seine Zähnchen auch weiterhin ohne größere Störungen und Schwierigkeiten durchbrechen. Wie schön wäre es, wenn er schon so groß wäre, daß er mir selbst schreiben könnte, besonders, wenn er mir dann über Dich berichtete - nur ein Brief von Dir selbst könnte mir noch mehr Freude machen. Ich denke, daß auch uns bald Post aus England erreichen wird, und freue mich schon jetzt darauf, von Dir nur Gutes zu hören.
Wenn Du Deinen Bruder, Lord Wellesley, siehst, dann bestelle ihm bitte meinen ergebensten Gruß. Dir allein aber gehört meine ganze Liebe.
Dein getreuer Mann Horatio
Wychwood nahm die Briefe, die ihm Hornblower gab, und schrieb auf Bushs Schreibtisch mit Bushs Feder eine Empfangsbescheinigung dafür. Dann streckte er ihm die Hand hin.
»Leben Sie wohl, Sir«, sagte er, zögerte einen Augenblick und fügte dann mit hastigen, verlegenen Worten hinzu: »Gott allein weiß, wie dieser Krieg ausgehen wird. Ich fürchte, die Russen werden geschlagen. Aber Sie haben mehr als irgendein anderer dazu beigetragen, den Krieg zum Ausbruch zu bringen.
Sie haben wahrhaftig Ihre Pflicht getan, Sir.«
»Ich danke Ihnen«, sagte Hornblower.
Erregt und verstört stand er auf dem Achterdeck der Nonsuch während über ihm zum Abschiedsgruß für die Clam die Kriegsflagge gedippt wurde, und beobachtete den Kutter, der jetzt seine Reise nach England antrat. Er sah ihm nach, bis er aus der Sicht verschwand. Inzwischen hatte auch die Nonsuch wieder vollgebraßt, um Riga anzusteuern, wo ihn gewiß neue, unbekannte Abenteuer erwarteten. Er wußte ganz genau, was ihm fehlte, er hatte ganz einfach Heimweh. Wie immer, wenn er nach Hause schrieb, brachte ihn auch jetzt wieder ein Sturm von Gefühlen völlig aus dem Gleichgewicht, und - seltsam genug - Wychwoods letzte Worte hatten diesen Aufruhr in seinem Inneren noch verstärkt. Sie hatten ihn an die schreckliche Last der Verantwortung erinnert, die er trug. Seine Handlungen und Unterlassungen hatten einen entscheidenden Einfluß auf die Zukunft der ganzen Welt und das Schicksal seines Vaterlandes.
Endete dieses russische Abenteuer in Vernichtung und Niederlage, dann war es für jeden, der die Verantwortung dafür von sich abwälzen wollte, ein leichtes, ihm die Schuld daran zuzuschieben. Dann konnte man ihn als unfähig und kurzsichtig anprangern. Er ertappte sich sogar dabei, daß er sogar Braun beneidete, der jetzt als Gefangener auf dem Weg nach London war, den bestimmt ein Gerichtsverfahren und vielleicht sogar die Todesstrafe erwartete. Sehnsüchtig dachte er an seine winzigen Sorgen in Smallbridge und lächelte über sich selbst, als er sich daran erinnerte, welche Überwindung ihn der Empfang der Begrüßungsabordnung aus dem Dorf gekostet hatte. Er dachte auch an Barbaras immer bereite Herzlichkeit und an die Riesenfreude, die ihn durchströmte, als er sich darüber klar wurde, daß sein Richard ihn wirklich liebte und seine Gesellschaft genoß. Hier an Bord mußte er sich mit Bushs bedingungsloser Ergebenheit und der recht unbeständigen Bewunderung der jüngeren Offiziere begnügen.
Aber was nutzte diese Quälerei? Besser war es auf alle Fälle, sich ins Gedächtnis zu rufen, wie es wirklich gewesen war. Also zwang er sich, daran zu denken, mit welcher überschäumenden Erregung er jenen Befehl in Empfang genommen hatte, der ihn zum aktiven Dienst zurückrief, wie er leichten Herzens sein Kind verlassen und von seiner Frau sogar - hier gab es kein Beschönigen - mit einem Gefühl des Befreitseins Abschied genommen hatte. Die Aussicht, wieder einmal ganz sein eigener Herr zu sein, nicht auf Barbaras Wünsche hören zu müssen, nicht durch Richards Zähne belästigt zu werden, hatte ihm höchst erfreulich geschienen. Und nun beklagte er sich über die Last seiner Verantwortung, als ob Verantwortung nicht der Preis wäre, mit dem jede Unabhängigkeit unweigerlich zu bezahlen war! Es war unmöglich, gleichzeitig unabhängig und frei von Verantwortung zu sein. Das lag in der Natur der Dinge.
Das war alles gut und schön und logisch, aber es half ihm doch nicht an der Tatsache vorbei, daß er sich jetzt lebhaft wünschte, zu Hause zu sein. In der bloßen Vorstellung fühlte er den Druck von Barbaras Hand so lebhaft in der seinen, daß er nur mit einem Stich der Enttäuschung in die Wirklichkeit zurückfand. Er hätte auch Richard gern auf seinem Knie reiten lassen und hätte sich herzlich über den Jubel gefreut, in den er jedesmal ausbrach, wenn man sich den Riesenscherz erlaubte, ihn in die Nase zu kneifen. Dagegen hatte er nicht das geringste Bedürfnis, seinen Ruf, seine Freiheit und sein Leben bei gemeinsamen Operationen mit diesen undurchschaubaren Russen und in einem so gottverlassenen Winkel der Erde, wie Riga, aufs Spiel zu setzen. Bei diesem Gedanken überkam ihn jedoch ganz von selbst das Interesse an seiner neuen Aufgabe, und sogleich sagte er sich, daß er jetzt am besten unter Deck ging, um die Angaben des Segelhandbuchs über Riga nachzulesen und die Karte des Rigaischen Meerbusens genau zu studieren.