6. Kapitel

»Acht Glasen, Sir!«

Hornblower fiel es ausgesprochen schwer, sich zum wachen Bewußtsein des Tages zurückzufinden. Er hatte das Gefühl, daß man ihn aus einem köstlichen Traum herausriß, obwohl er sich hinterher nicht erinnern konnte, was sein Inhalt gewesen war.

»Noch Nacht, Sir«, sprach die Stimme Browns ohne Erbarmen weiter, »aber klar und sichtig. Wind stetig und frisch aus West zu Nord. Die Korvetten und die übrigen Fahrzeuge des Verbandes sind zu luward in Sicht. Wir liegen beigedreht unter Kreuzmarssegel, Großstengestagsegel und Klüver. Hier ist Ihr Hemd, Sir.«

Hornblower schlug seine Beine über den Rand der Koje und zog sich verschlafen das Nachthemd über den Kopf. Im ersten Augenblick hätte er sich am liebsten damit begnügt, in ein paar warme Sachen zu fahren, aber dann fiel ihm noch rechtzeitig ein, was er sich als Kommodore schuldig war. Außerdem legte er doch besonderen Wert darauf, den Ruf eines Mannes zu genießen, der auch in den kleinsten Dingen korrekt und genau war. Er hatte sich ja auch nur deshalb schon jetzt, eine Viertelstunde eher, als es nötig war, wecken lassen, weil er sich nicht so gehenlassen wollte. Also zog er Rock, Hose und Stiefel an und scheitelte bei dem flackernden Licht der Laterne, die Brown ihm dazu hielt, sorgfältig sein Haar. Den Gedanken, sich zu rasieren, ließ er wieder fallen. Morgens um vier Uhr frisch rasiert an Deck zu kommen, sah allzusehr nach übertriebener Eitelkeit aus. Zuletzt stülpte er sich den Dreimaster auf den Kopf und schlüpfte mit Hilfe Browns in sein warmes Peajackett.

Draußen vor der Kajütentür fuhr der Posten zur Ehrenbezeigung zusammen, als der große Mann erschien. Auf dem Halbdeck versank eine Gruppe lustig lärmender Leute, die eben von Wache kamen, beim Anblick des Kommodore in ehrfurchtsvolles, verschüchtertes Schweigen. Das gehörte sich so und durfte nicht anders sein.

Auf dem Achterdeck war es so rauh und unfreundlich, wie es an einem Frühlingsmorgen im Kattegat vor Anbruch der Dämmerung zu erwarten war. Der Lärm des Wachwechsels war eben verklungen, die Gestalten, die hier und dort wie Schatten auftauchten und eilig nach Backbord verschwanden, um die Steuerbordseite für ihn frei zu machen, waren im Dunkel nicht zu erkennen. Nur Bush war durch den stampfenden Takt seines Holzbeins leicht herauszuhören. »Kapitän Bush!«

»Sir?«

»Wann ist heute Sonnenaufgang?«

»Sonnenaufgang? - Ungefähr um fünf Uhr dreißig, Sir.«

»Ich will nicht wissen, Herr Kapitän, wann ›ungefähr‹die Sonne aufgehen wird. Wie Sie sich erinnern werden, lautete meine Frage:›Wann ist heute Sonnenaufgang?‹ «

Eine Sekunde herrschte Schweigen, während der völlig entgeisterte Bush diesen Rüffel hinunterwürgte, dann ließ sich eine andere Stimme vernehmen: »Fünf Uhr vierunddreißig, Sir.«

Das war doch dieser Carlin gewesen, der junge Mensch, mit dem frischen Gesicht, Artillerieoffizier des Schiffes.

Hornblower hätte etwas dafür gegeben, zu erfahren, ob Carlin wirklich wußte, wann der Sonnenaufgang war, oder ob er bloß riet und sich darauf verließ, daß der Kommodore seine Angaben ja doch nicht nachprüfte. Für Bush war es natürlich Pech, daß er diesen Tadel vor aller Welt hatte einstecken müssen, er hätte aber die Zeit des Sonnenaufgangs auch wirklich wissen sollen, nachdem er am Abend zuvor mit ihm, Hornblower, zusammen die heutige Operation durchgesprochen hatte, die von diesem Zeitpunkt ihren Ausgang nahm. Im übrigen konnte es der Disziplin des Verbandes nicht schaden, wenn es sich herumsprach, daß der Kommodore jedem schonungslos seine Meinung sagte, auch wenn er Linienschiffskommandant und sein bester Freund war. Hornblower ging ein-, zweimal an Deck auf und ab. Vor sieben Tagen hatte er die Downs verlassen, und noch hatte er keinerlei neuere Nachrichten über die Lage. Bei dem stetigen Westwind kam kein Schiff aus der Ostsee, ja, nicht einmal aus Göteborg heraus, er konnte also noch gar nichts erfahren haben. Seit er gestern Skagen gerundet hatte und im Kattegat nach Süden gelaufen war, hatte er kein einziges Segel in Sicht gehabt. Seine letzte Information über Schweden war schon fünfzehn Tage alt, seither konnte natürlich eine Menge geschehen sein. Zum Beispiel konnte Schweden inzwischen leicht von unfreundlicher Neutralität zu offenen Feindseligkeiten übergegangen sein. Vor ihm lag der Sund, er war an der engsten Stelle nur drei Meilen breit. An Steuerbord lag das von Bonaparte beherrschte Dänemark, das freiwillig oder unfreiwillig Englands Gegner war, an Backbord lag Schweden, und das Hauptfahrwasser durch den Sund führte unter den Geschützen von Helsingborg vorüber. War auch Schweden mit England im Kriegszustand, dann konnten die dänischen und schwedischen Geschütze von Helsingör und Helsingborg aus vereint seinen Verband natürlich leichter niederkämpfen, wenn er die kritische Strecke durchlief. Ein Rückzug war dann immer schwierig und gefährlich, wenn er überhaupt noch in Frage kam. Vielleicht war es doch das beste, einen Verzug in Kauf zu nehmen, um sich zunächst durch ein ausgesandtes Boot von der augenblicklichen Haltung Schwedens zu überzeugen.

Andererseits würde Schweden aber grade durch dieses Boot auf seine Anwesenheit aufmerksam gemacht. Brach er dagegen jetzt sofort mit höchster Fahrt durch, sobald es nur hell genug war, um die Fahrrinne auszumachen, so konnte es ihm gelingen, die Küstenwerke so zu überrumpeln, daß er selbst dann ungeschoren blieb, wenn Schweden sich feindlich verhielt.

Schlimmstenfalls gab es bei seinem Verband etwas Kleinholz, aber bei der frischen Brise und der geradezu idealen Windrichtung West zu Nord konnte sich auch ein Havarist noch weiterhelfen, bis der Sund wieder breiter wurde und der Schußbereich der Küste hinter ihm lag. War die Neutralität Schwedens noch immer wacklig, dann konnte es bestimmt nicht schaden, wenn er den Leuten einmal den Anblick eines kühn und zielbewußt geführten englischen Kriegsschiffsverbandes gönnte, außerdem gab es ihnen Stoff zum Nachdenken, wenn sie wußten, daß es von nun an in der Ostsee englische Seestreitkräfte gab, die ihre Küsten bedrohen und ihre Schiffahrt verheeren konnten. Den Sommer über konnte er sich in der Ostsee auf jeden Fall halten, auch wenn die Schweden zum Gegner wurden - was konnte schließlich in einem ganzen langen Sommer nicht alles geschehen? Und wenn er ein bißchen Glück hatte, dann gelang es ihm sogar, sich im Herbst auch wieder den Rückweg zu erkämpfen. Gewiß gab es Gründe genug, die dafür sprachen, sich Zeit zu nehmen, abzuwarten und zunächst einmal eine Verbindung mit der Küste zu suchen, aber die anderen Gründe, die ihn zum sofortigen Handeln bestimmten, erwiesen sich eben doch als stärker und zwingender.

Ein scharfer Schlag der Schiffsglocke - ein Glas. Also war noch eine knappe Stunde Zeit, ehe es hell wurde, dort drüben in Lee zeigte sich am Himmel schon der erste graue Schein.

Hornblower öffnete den Mund, um etwas zu sagen, besann sich aber im letzten Augenblick eines Besseren. In der aufregenden Spannung des Augenblicks, die seine Pulse schneller schlagen ließ, war er drauf und dran gewesen, auch seine Befehle in lautem, scharfem Ton zu geben, aber er wollte sich dieses unbeherrschte Benehmen nicht durchgehen lassen. Solange er Zeit hatte, in Ruhe nachzudenken und sich vorzubereiten, konnte er auch den Mann mit den eisernen Nerven spielen.

»Kapitän Bush!« rief er und brachte es fertig, seinen Befehl mit lässig gedehnter Stimme zu geben und dabei eine vollkommen gleichmütige Miene zur Schau zu tragen: »Signal an alle Schiffe: Klarschiff zum Gefecht.«

»Aye, aye, Sir.«

Zwei rote Laternen an der Großrah und ein Kanonenschuß waren das Nachtsignal bei Gefahr einer Berührung mit dem Feind und bedeuteten für alle Mann den Befehl, sich auf die Gefechtsstationen zu begeben. Es dauerte natürlich ein bißchen, bis die Laternen angezündet waren, so kam es, daß die Nonsuch in der Herstellung der Gefechtsbereitschaft schon ziemlich weit gediehen war, ehe auch die anderen Schiffe das Signal verstanden hatten. Die Freiwache war geweckt, die Decks waren mit Sand bestreut, die Feuerlöschpumpen besetzt, die Geschütze ausgerannt, die Schottwände niedergelegt. Die zusammengewürfelte Besatzung war noch recht ungeschult - Bush mußte bei dem Unternehmen, die Leute aufzutreiben, die Hölle durchgemacht haben -, aber man mußte zufrieden sein, es hätte bestimmt schlechter klappen können. Inzwischen war die graue Dämmerung am Osthimmel immer höher gekrochen, die anderen Fahrzeuge, die man vorhin als dunkle Kernschatten in der allgemeinen Finsternis nur geahnt hatte, waren nun bereits als Schiffe erkennbar, aber für den Durchbruch war es immer noch nicht hell genug. Hornblower wandte sich an Bush und den Ersten Offizier Hurst: »Bitte«, sagte er und bemühte sich dabei, jedes Wort so lässig und langsam zu sprechen, wie er nur konnte, »lassen Sie das Signal anstecken: In Gefechtskiellinie auf befohlenen Kurs gehen, und halten Sie es klar zum Heißen.«

»Aye, aye, Sir.«

Nun war alles getan, was zu tun war. Diese letzten zwei Minuten der Untätigkeit, des Wartens, gingen besonders auf die Nerven. Hornblower war gerade im Begriff, seine Wanderung wieder aufzunehmen, da fiel ihm ein, daß es natürlich das Gegebene war, stehenzubleiben, wenn er unerschütterlichen Gleichmut beweisen wollte. Vielleicht hatten die Küstenbatterien schon die Essen geheizt, um ihre Kugeln glühend zu machen, und unter Umständen war seine ganze Streitmacht, auf die er jetzt so stolz war, innerhalb weniger Minuten zu einer traurigen Prozession lichterloh brennender Wracks zusammengeschossen... Nun war es Zeit.

»Heiß das Signal!« sagte Hornblower. »Kapitän Bush, ich darf Sie bitten, voll zu brassen und dem Verband zu folgen.«

»Aye, aye, Sir«, sagte Bush.

Seine Stimme verriet unterdrückte Erregung, und dieser Umstand verhalf Hornblower zu der blitzartig aufleuchtenden Erkenntnis, daß er Bush mit seiner erzwungenen Haltung und Ruhe ja nicht täuschen konnte. Der wußte aus jahrelanger Erfahrung, daß er, Hornblower, immer dann auf einer Stelle stehen blieb, statt auf und ab zu gehen, und so langsam und gedehnt zu sprechen begann, wie auch jetzt wieder, wenn er eine Gefahr witterte. Das war eine hochinteressante Entdeckung, nur schade, daß er jetzt keine Zeit hatte, sich damit zu beschäftigen, weil er seinen Verband durch den Sund führen mußte. Bei dieser Aufgabe durfte er sich nicht ablenken lassen. Die Lotus war Spitzenschiff. Ihr Kommandant Vickery hatte nach Hornblowers Meinung die besten Nerven, auf ihn konnte man das Vertrauen setzen, daß er ohne Wimpernzucken durchhielt. Am liebsten hätte Hornblower natürlich selbst geführt, bei der bevorstehenden Operation war aber das Schlußschiff am meisten gefährdet - die Spitzenschiffe mochten den Feuerbereich schon passiert haben, ehe die Bedienungen der Küstenbatterien an ihre Geschütze geeilt waren und das Ziel gefunden hatten -, und die Nonsuch als das stärkste und widerstandsfähigste Schiff des ganzen Verbandes mußte unbedingt den Schluß bilden, damit sie nötigenfalls imstande war, manövrierunfähig geschossenen Schiffen zu Hilfe zu kommen und sie womöglich aus dem Gefecht zu schleppen. Hornblower beobachtete, wie die Lotus ihre Mars- und Untersegel setzte und Vierkant braßte. Ihr folgte der Kutter Clam das schwächste Schiff des Verbandes. Ihn konnte ein einziger unglücklicher Treffer zum Sinken bringen, daher gebührte ihm auch der sicherste Platz in der Linie. Dann kamen die beiden häßlichen Kanonenboote und darauf die zweite Korvette, die Raven die also unmittelbar vor der Nonsuch fuhr. Das gab eine gute Gelegenheit, zu beobachten, wie sich ihr Kommandant Cole im Gefecht benahm. Zuletzt schor endlich die Nonsuch in die Linie ein. Die steife Backstagsbrise von Steuerbord schob das schwere Schiff ganz mächtig, und Hornblower beobachtete, wie Bush das Kreuzmarssegel lebend brassen mußte, um hinter Raven genau Position zu halten. Im Vergleich zu den schlanken, zierlichen Korvetten nahm sich der mächtige Zweidecker aus wie ein unförmiges, schwerfälliges Ungeheuer.

Jetzt war die schwedische Küste in Sicht. Kullen lag an Backbord voraus. »Lassen Sie bitte loggen, Mr. Hurst.«

»Aye, aye, Sir.«

Hornblower hatte den Eindruck, als ob ihm Hurst einen fragenden Seitenblick zugeworfen hätte. Vielleicht hielt er es für einen verrückten Einfall, in einem Augenblick loggen zu lassen, in dem für das Schiff alles auf dem Spiel stand. Aber Hornblower wollte eben wissen, wie lange er diese Spannung noch auszuhalten hatte, und wozu war man schließlich Kommodore, wenn man solche Augenblickswünsche nicht befriedigen durfte? Da kam schon ein Fähnrich mit ein paar Steuermannsmaaten mit Logg und Stundenglas nach achtern gelaufen. Der eine der Maate hielt die Loggrolle hoch über seinen Kopf, während sich bei der guten Fahrt die Leine so rasch abhaspelte, daß seine Arme zitterten.

»Fast neun Knoten, Sir«, meldete der Fähnrich an Hurst.

»Fast neun Knoten, Sir«, gab Hurst an Hornblower weiter. »Ich danke sehr.«

Also mußten noch volle acht Stunden vergehen, ehe sie Saltholm passiert hatten und die Gefahr mehr oder weniger überstanden war. Jetzt zeigte sich an Steuerbord voraus auch die dänische Küste, sie war im morgendlichen Zwielicht noch kaum zu unterscheiden, aber nun verengte sich das Fahrwasser zusehends. Hornblower stellte sich vor, wie dort drüben verschlafene Wachen und Ausguckposten nach den Segeln starrten, die sie kaum ausmachen konnten, wie sie dann ihre wachhabenden Unteroffiziere heranholten, die sich erst den Schlaf aus den Augen reiben mußten, ehe sie etwas sahen, und endlich davoneilten, um ihrem Leutnant Meldung zu machen.

Dann schlugen die Trommeln Alarm, und die Kanoniere eilten an ihre Geschütze. Auf der dänischen Seite machten sie sich als treue Soldknechte Bonapartes auf jeden Fall gefechtsbereit, da sie jedes aufkommende Schiff zunächst einmal für einen Gegner halten mußten. Wie aber stand es mit Schweden? Welche Entscheidungen hatte Bernadotte in diesen letzten Tagen getroffen? War Napoleons alter Marschall noch neutral, oder hatte er sich etwa doch entschlossen, das Gewicht der schwedischen Macht mit in die Waagschale seiner Heimat zu werfen?

Da waren schon die niederen Steilufer von Helsingör, dort an Backbord ebenso deutlich die spitzen Türme von Helsingborg und über der Stadt drohend die massige Burg. Die Lotus stand fast eine Meile voraus und mußte jetzt die Enge erreicht haben.

Hornblower beobachtete sie durch das Glas. Da, nun braßte sie ihre Rahen, sie war also an dem Punkt angelangt, wo sie Kurs ändern mußte. Aber immer noch kein Schuß. Als nächster erreichte der Kutter Clam die gleiche Stelle - gebe Gott, daß sich die schwerfälligen Kanonenboote nicht danebenbenahmen. Halt!

Also doch! Das war das dumpfe Grollen eines einzelnen Schusses und gleich hinterher der rollende Donner einer ganzen Salve. Hornblower richtete sein Glas auf die schwedische Küste, dort war kein Rauch zu sehen; dann nach Dänemark hinüber, richtig, hier erkannte man noch deutlich den Mündungsqualm, obwohl der frische Wind ihn rasch auflöste. In Erwartung der Kursänderung befahl Bush bereits dem Rudergänger, das Ruder um eine oder zwei Speichen zu legen. Sowohl Helsingör wie Helsingborg erschienen plötzlich unheimlich nahe, drei Meilen war ja die ganze Breite der Durchfahrt, und Vickery auf Lotus hielt sich genau nach Befehl gut an der Backbordseite des Fahrwassers, so daß sie zwei Meilen von der dänischen und nur eine Meile von der schwedischen Küste entfernt blieb. Die anderen Schiffe folgten genau in ihrem Kielwasser. Traten die schwedischen Geschütze in Aktion und wurden sie einigermaßen bedient, dann konnten sie dem Verband mit Leichtigkeit ein paar tüchtige Hiebe versetzen. An Steuerbord spritzten jetzt drei Wassersäulen auf, das Auge konnte zwar die Kugel, die sie verursachte, nicht ausmachen, aber man mochte sich leicht einbilden, sie über das Wasser hinspringen zu sehen.

Immerhin, die letzte Fontäne lag noch eine volle Kabellänge zu kurz. Und die Schweden feuerten noch immer nicht.

Hornblower hätte nur zu gern gewußt, ob er die schwedischen Küstenartilleristen nur überrumpelt hatte, oder ob sie wirklich Befehl hatten, nicht zu feuern.

Helsingör lag bereits achterlicher als querab, und der Sund dehnte sich wieder zu großer Breite. Mit einem Ruck schob Hornblower seinen Kieker zusammen und empfand dabei eine wohltuende Entspannung. Rückblickend konnte er sich kaum mehr vorstellen, warum er sich solche Sorgen gemacht hatte.

Nun rief er sich die Karte ins Gedächtnis, die er vorher so genau studiert hatte, und rechnete sich aus, daß sie erst in einer Stunde wieder in Reichweite der Küste kamen, das Fahrwasser führte dort dicht an der schwedischen Insel Hven vorbei (wenn man nur wüßte, wie man diese barbarischen nordischen Namen aussprach).

Bei diesem Gedanken fiel ihm etwas anderes ein, und er sah sich um. Richtig, dort stand er, Braun, er war auf seinem Posten und hielt sich auf dem Achterdeck zur Verfügung des Kommodore, wie es befohlen war. Die Hände auf die Reling gestützt, starrte er unverwandt zur schwedischen Küste hinüber.

Hornblower konnte sein Gesicht zwar nicht erkennen, aber jede Linie seiner ganzen Gestalt verriet ihm ohnehin die fieberhafte Spannung, die den Mann völlig in ihrem Bann hielt. Da stand er, ein armer Flüchtling, und sah voll Sehnsucht zur Küste hinüber, ohne Hoffnung, sie jemals wieder betreten zu dürfen. Gewiß, es wimmelte überall von solchen Flüchtlingen, aber für diesen hier empfand Hornblower aufrichtiges Mitleid.

Da kam auch die Sonne zum Vorschein, sie blitzte zwischen zwei schwedischen Hügeln auf, die sich eben auseinanderschoben und den Blick in ein Tal freigaben. Nun war es hellichter Tag, und alle Anzeichen deuteten auf schönes Wetter hin. Die Sonne strahlte schon ein winziges bißchen Wärme aus, und der Schatten des Kreuztopps mit seiner Takelage huschte über das Achterdeck. Da kam es Hornblower erst zu Bewußtsein, wie steif und durchgefroren er war; das kam davon, daß er sich gezwungen hatte, so lange bewegungslos an einer Stelle stehenzubleiben. Nun ging er ein-, zweimal auf und ab, um seinen Blutumlauf wieder in Gang zu bringen, und dabei dämmerte ihm eine weitere Erkenntnis: Er war hungrig und sehnte sich nach seinem Frühstück. Einen Augenblick umgaukelten ihn verlockende Visionen von dampfendem Kaffee, bis er sich mit einem Gefühl heftiger Enttäuschung darauf besann, daß sich das Schiff im Gefechtszustand befand.

Dabei waren alle Feuer gelöscht, es bestand also keinerlei Aussicht, irgend etwas Warmes in den Magen zu bekommen. daß er darüber so enttäuscht sein konnte? Wahrscheinlich, so stellte er schuldbewußt fest, hatten die sechs Monate Landleben schon genügt, ihn richtig zu verweichlichen und bequem zu machen. daß ihn zum Frühstück nichts anderes als Hartbrot und kaltes Fleisch erwarteten und daß er dieses Zeug mit dem sogenannten Trinkwasser hinunterspülen mußte, dem man seinen langen Aufenthalt in Fässern deutlich genug anmerkte, dieser Gedanke erfüllte ihn mit ausgesprochenem Widerwillen.

Dabei fielen ihm auch gleich die Leute ein, die so geduldig an ihren Geschützen standen. Er hatte den Wunsch, daß auch Bush an sie denken möchte. Er selbst konnte sich ja unmöglich in solche Einzelheiten des Dienstbetriebes einmischen. Versuchte er etwas dieser Art, dann stiftete er auf jeden Fall mehr Schaden als Nutzen damit; dabei empfand er ein brennendes Bedürfnis, die Befehle geben zu können, die ihm eben in den Sinn gekommen waren. Also versuchte er für einige Augenblicke wenigstens, sie Bush auf telepathischem Wege zu übermitteln.

Aber der blieb völlig teilnahmslos, genau wie Hornblower erwartet hatte. Nun ging er nach Lee hinüber, als wollte er sich eine bessere Sicht auf die schwedische Küste verschaffen. Ein paar Meter von Bush entfernt blieb er stehen.

»Schweden scheint doch noch neutral zu sein«, bemerkte er wie beiläufig. »Jawohl, Sir.«

»Wir werden endgültige Klarheit haben, wenn wir Hven - weiß Gott, wie man dieses Wort aussprechen soll - erreichen.

Dort müssen wir dicht unter den Geschützen passieren, weil das Fahrwasser unter Land entlangführt.«

»Jawohl, Sir, ich kann mich daran erinnern.«

»Aber wir haben bis dahin noch fast eine Stunde Zeit. Ich werde mir deshalb einen Bissen Frühstück an Deck bringen lassen, wollen Sie mir dabei Gesellschaft leisten, Herr Kapitän?«

»Danke, Sir, mit dem größten Vergnügen.«

Eine solche Einladung von einem Kommodore war für einen Kommandanten natürlich so gut wie ein Befehl. Aber Bush war ein viel zu gewissenhafter Offizier, als daß es ihm in den Sinn gekommen wäre, selbst zu essen, wenn seine Leute nicht auch zu essen hatten. Hornblower konnte ihm geradezu vom Gesicht ablesen, daß er während dieser Zeit der Spannung seine Mannschaften am liebsten ohne Unterbrechung an den Geschützen gelassen hätte. Bush war ja auch noch ein junger Kommandant, der schwer an seiner Verantwortung trug.

Schließlich gewann aber vernünftige Einsicht doch die Oberhand über seine nervöse Unruhe.

»Mr. Hurst, lassen Sie die Freiwache wegtreten. Eine halbe Stunde Frühstückspause.«

Das war genau der Befehl, den Hornblower haben wollte - aber die Freude, daß es ihm gelungen war, ihn herbeizuführen, konnte den Ärger nicht aufwiegen, daß er zu diesem Zweck ein außerdienstliches Gespräch beginnen mußte und jetzt, bei diesem gemeinsamen Frühstück, wieder eine höfliche Unterhaltung zu führen hatte. Die Stille der Spannung, die über jedem gefechtsklaren Schiff liegt, wich lärmender Betriebsamkeit, als jetzt die Freiwache ihre Stationen verließ.

Bush befahl mit lauter Stimme, einen Tisch und Stühle auf das Achterdeck zu bringen, und war dann umständlich darauf bedacht, ihn genau dort aufstellen zu lassen, wo es dem Kommodore am besten zusagte. Ein Blick Hornblowers genügte, daß Brown sogleich eine Reihe köstlicher Dinge aufmarschieren ließ, die zu dieser Tageszeit besonders schmeckten und aus den von Barbara besorgten Vorräten stammten: das beste Hartbrot, das es für Geld zu kaufen gab, Butter in einer Steinkruke, die noch nicht ein bißchen ranzig war, Erdbeermarmelade, ein kräftig geräucherter Schinken, eine geräucherte Hammelkeule von einem Bauern in Exmoor, Cheddar- und Stiltonkäse, Bachforellen in Gelee. Dazu hatte Brown den glänzenden Gedanken gehabt, ein paar Zitronen aus dem schwindenden Vorrat zu holen und auszuquetschen, um damit den muffigen Geschmack des Wassers zu übertäuben, wußte er doch, daß Hornblower völlig außerstande war, schon zum Frühstück Bier, auch wenn es nur Dünnbier war, zu trinken.

Eine dritte Möglichkeit gab es aber nicht. Bush ließ seine Blicke voll Genugtuung über diese Fülle schweifen und nahm dann auf Hornblowers Einladung mit einem gesunden Hunger Platz.

Auch er war ja die längste Zeit seines Lebens arm gewesen und mußte von seinem Gehalt eine ganze Schar bedürftiger weiblicher Verwandter mit durchbringen. Daher war er auch noch keineswegs durch Luxus verwöhnt. Bei Hornblower dagegen hatte die angeborene Querköpfigkeit ganz die Oberhand gewonnen, er hatte sich Kaffee eingebildet, und den konnte er nicht haben, also hätte er am liebsten gar nichts zu sich genommen. Diese Limonade war doch nur ein schlechter Witz. Gereizt und widerwillig begann er ein paar Bissen zu essen. Bush belegte sich ein Stück Hartbrot dick mit Forellenfleisch und aß mit dem gesunden Appetit eines Mannes, der die ganze Nacht nicht unter Deck gekommen war. Das brachte Hornblower auf den völlig lächerlichen Gedanken, daß er ihn mit diesem Benehmen absichtlich ärgern wollte. Bush warf heimlich einen verschmitzten Blick zu seinem Kommodore hinüber und ließ dann wohlweislich die lobenden Worte über das Frühstück ungesagt, die er schon auf der Zunge hatte. Wenn es seinem absonderlichen Herrn Kommodore gefiel, schlechter Laune zu sein, dann war es das beste, ihn nicht dabei zu stören - und Hornblower, der die Haltung seines Gegenübers sofort durchschaute, stellte fest, daß ihm dieser Bush jedenfalls lieber war als eine Frau. Jetzt zog er die Uhr, um Bush an die nächsten Maßnahmen zu erinnern.

»Freiwache auf Gefechtsstationen, Wache wegtreten zum Frühstück!« befahl Bush.

Ihre Lage war wirklich seltsam, man mochte sie sogar mit Fug als dramatisch bezeichnen. Da saßen sie im Sonnenschein eines skandinavischen Frühlingstages gemütlich beim Frühstück, während keine drei Meilen entfernt die Horden des Festlandstyrannen standen und sich damit begnügen mußten, ohnmächtig zu ihnen herüberzustarren. Brown reichte die Zigarren, Bush brachte aus seiner Hosentasche ein riesiges Bordmesser zum Vorschein und schnitt der seinigen damit die Spitze ab. Da kam Brown auch schon mit der glimmenden Lunte, die er aus der Pütz neben den Achterdecks-Karronaden geholt hatte, um den Herren Feuer zu geben. Hornblower sog mit Hochgenuß an dem duftenden Kraut und fand es nachgerade unmöglich, seiner schlechten Laune noch weiter nachzuhängen.

Die Sonne schien, die Zigarre zog ausgezeichnet, und drei Meilen entfernt standen die Vorhuten einer Millionenarmee französischer Soldaten. Was wollte er mehr? Der Tisch zwischen ihnen verschwand, behaglich streckte er seine Beine aus, und Bush folgte seinem Beispiel, das heißt, er setzte sich wenigstens etwas weiter auf seinem Stuhl zurück, statt sich immer noch mit der Kante zu begnügen, und hielt dabei nur das Holzbein steif nach vorn gestreckt, das andere aber blieb nach wie vor angewinkelt, wie es die gute Sitte verlangte. Die Nonsuch machte unter ihren gewöhnlichen Segeln immer noch eine glänzende Fahrt, der Wind krängte sie leicht nach Lee, und unter ihrem Bugspriet schäumte die grüne See in einer lustigen Bugwelle. Wieder sog Hornblower an seiner Zigarre und fühlte dabei, wie ihn wunderbarer innerer Friede durchströmte. Nach dem nörglerischen Unbehagen, das ihn eben noch beherrscht hatte, war ihm nun zumute, als sei er wie durch ein Wunder von bohrenden Zahnschmerzen befreit.

»Der äußerste Schußbereich von Hven ist in Kürze erreicht«, meldete der Erste Offizier.

»Lassen Sie alle Mann auf Gefechtsstationen pfeifen«, befahl Bush und warf dabei einen Blick auf Hornblower.

Der blieb ruhig sitzen. Irgendwoher wußte er plötzlich ganz genau, daß die Geschütze von Hven das Feuer nicht eröffnen würden, außerdem wollte er auch nicht so undankbar sein, die Zigarre vorzeitig wegzuwerfen, die ihm so gute Dienste geleistet hatte. Bush warf ihm einen zweiten Blick zu und beschloß dann, gleichfalls sitzen zu bleiben. Kaum, daß er sich nach der Insel umwandte, als sie Backbord voraus immer näher kam, langsam achteraus wanderte und endlich wieder entglitt. Hornblower dachte an Saltholm und Amager, die noch voraus lagen. Das war der gefährlichste Punkt dieser ganzen Passage, denn beide Inseln waren dänisch, das Fahrwasser der Zwölf-Faden-Rinne führte zwischen ihnen hindurch, und zwar dicht an beiden vorüber. Bis dahin hatte er jedoch noch eine Menge Zeit, seine Zigarre zu Ende zu rauchen. Mit aufrichtigem Bedauern tat er schließlich den letzten Zug, dann stellte er sich langsam auf die Beine, schlenderte an die Leereling hinüber und warf den Stummel sorgsam über Bord.

Durch seinen plötzlichen Vorstoß im Morgengrauen hatte er wohl die Besatzung von Helsingör zu überraschen vermocht, aber in Saltholm und Amager konnte davon natürlich keine Rede sein. Von dort aus waren seine Schiffe bei dem klaren Wetter schon auf eine Entfernung von zwölf Meilen zu sehen, die Kanoniere hatten also reichlich Zeit, alle Vorbereitungen zu ihrem Empfang zu treffen. Er warf einen Blick nach vorn auf die Linie seines Verbandes. »Signal an Math« befahl er dann in scharfem Ton über die Schulter hinweg. »Besser Position halten!«

Wenn sich die Linie in die Länge zog, dann war sie auch um so länger dem Feuer ausgesetzt. Durch das Glas war das Land deutlich zu sehen, glücklicherweise lag Saltholm sehr niedrig, so daß die Geschütze dort auch keine besonders große Reichweite hatten. Kopenhagen mußte an Steuerbord eben unter der Kimm liegen. Vickery führte seine Lotus genau den Weg, den ihm Hornblower durch Befehl vorgeschrieben hatte. Da zeigte sich auf Saltholm eine Qualmwolke, und gleich darauf hörte man auch das Dröhnen der Geschütze, eine sehr unregelmäßige Salve. Auf den Schiffen vorn war nichts auszumachen, was nach einem Treffer aussah. Lotus erwiderte das Feuer, aber Hornblower bezweifelte, ob ihre Neunpfünder, diese Knallbüchsen, auf solche Entfernung etwas ausrichten konnten.

Immerhin mochte wenigstens der Qualm des Mündungsfeuers einige Deckung bieten. Nun war ganz Saltholm in Rauch gehüllt, und der Donner der Batterien rollte unaufhörlich wie ein Paukenwirbel über das Wasser. Vorläufig waren sie noch außer Schußweite von Amager. Da, jetzt änderte Vickery Kurs und fiel weiter ab. Bush hatte Lotgäste in den Rüsten klar, sehr vernünftig von ihm. »Gerade sieben!«

Sieben Faden war reichlich, zumal bei steigendem Wasser.

Die braunen Hecken, die sich gegen das Grün abhoben, das waren die Batterien auf Saltholm, man konnte sie durch den Qualm hindurch nur undeutlich ausmachen. Auf dem Großdeck bemühte sich der junge Carlin, den Zwölfpfündern der Backbordseite das Ziel genau zu bezeichnen. »Einhalb über sechs!«

Plötzlich ging alles in einem entsetzlichen Krachen unter.

Geschlossen hatte die Backbordbatterie eine Salve gelöst, so daß die Nonsuch durch den Rückstoß nach Steuerbord überholte. Da sang auch schon der Lotgast wieder aus: »Gerade sechs!«

»Backbord das Ruder!« kommandierte Bush, »klar bei den Steuerbordgeschützen!«

Langsam wanderte das Bugspriet der Nonsuch nach Backbord auf den neuen Kurs. Nach Hornblowers Beobachtungen hatte der Gegner bis jetzt noch keinen Schuß auf sie abgegeben.

»Gerade fünf!«

Offenbar rutschten sie genau am Rand der Untiefen entlang.

Nun waren auch die Batterien auf Amager deutlich in Sicht und sogar für die Steuerbordgeschütze schon zu erreichen, weil sie sich die zusätzliche Erhöhung zunutze machen konnten, die sich aus dem Überliegen des Schiffes nach Backbord ergab. Schon feuerten beide Breitseiten zu gleicher Zeit, der Krach war geradezu ohrenzerreißend. Dann wogte der Qualm aus den Steuerbordrohren in dicken Schwaden über Deck, er verursachte Hustenreiz und gab einen bitteren Geschmack auf der Zunge.

»Einhalb über fünf!«

Schon besser. Mein Gott, die Harvey hatte einen Treffer. Das Kanonenboot, zwei Kabellängen vor der Nonsuch verwandelte sich im Bruchteil einer Sekunde aus einem kämpfenden Kriegsschiff zum hilflosen Wrack. Sein hoher Großmast, für das kleine Schiffchen eine riesige Spiere, war gerade über Deck abgeschossen und hing nun samt dem Gewirr des stehenden Gutes und all seinen unbändig großen Segeln Backbord achtem im Wasser. Auch die kräftige Besanstenge war abgeknickt und hing am Eselshaupt ihres Mastes. Raven lief befehlsgemäß an der Harvey vorüber, die völlig hilflos dalag, als nun die Nonsuch herangebraust kam. »Back das Großmarssegel!« brüllte Bush.

»Einhalb über fünf!« sang der Lotgast aus. »Klar bei Wurfleine!« befahl Hurst.

»Luv das Ruder!« kommandierte Bush, dann brüllte mitten in all der Aufregung wieder die Steuerbordbatterie auf, als die Geschütze die Befestigungen auf Amager zu fassen vermochten.

Die Nonsuch holte über, zugleich faßte das backgebraßte Marssegel Wind und brachte das Schiff allmählich zum Stehen, während es sich langsam wieder aufrichtete. Endlich trieb die Nonsuch ohne Fahrt dicht neben der zerschossenen Harvey.

Hornblower konnte beobachten, wie drüben Mound, der Kommandant, von seinem Platz neben dem Besanmast aus die fieberhafte Arbeit seiner Besatzung leitete. Jetzt hob er das Megaphon an den Mund:

»Los, kappt das Zeug weg, beeilt euch!«

»Leine wahrnehmen!« rief Hurst.

Die Wurfleine war gut gezielt und verfing sich in den Besanwanten. Mound griff sie persönlich, und Hurst stürzte jetzt unter Deck, um dort das Hinübergeben der nächststärkeren Leine zu überwachen, die im unteren Batteriedeck klar lag und durch eine der Heckpforten ausgesteckt wurde. Ein splitterndes Krachen vom Vorschiff her gab Kunde, daß mindestens ein Schuß von Amager sein Ziel getroffen hatte. Auf der Harvey hieben die Äxte wütend auf das Gewirr von Wanten und Stagen ein, das über die Reling hing, und eine andere Gruppe von Männern holte wie besessen die dreizöllige Trosse der Nonsuch ein, die man hier auf die Wurfleine gesteckt hatte. Wieder krachte es auf dem Vorschiff, daß Hornblower herumfuhr. Er sah sofort, daß ein paar von den Fockwanten am Rüst gebrochen waren. Die Nonsuch lag jetzt beinahe im Wind, so kam es, daß weder die Steuerbord- noch die Backbordgeschütze das feindliche Feuer erwidern konnten, weil sie kein Ziel fanden.

Aber schon beeilte sich Carlin mit ein paar Geschützbedienungen, die beiden vordersten Kanonen mit Hilfe von Handspaken herumzuwuchten. Konnte man die Batterien wenigstens einigermaßen unter Feuer halten, so war das immer noch besser, als wenn das Gefecht für sie zur reinen Schießübung wurde. Hornblower wandte sich wieder nach achtern. Die beiden Schiffe lagen jetzt so zueinander, daß das Heck der Nonsuch jeden Augenblick mit dem Achterschiff der Harvey zusammengeraten konnte. Aber schon erschien irgendein tüchtiger Leutnant mit zwei Spieren auf der Heckgalerie, um das Kanonenboot abzusetzen. Inzwischen war das Manöver so weit gediehen, daß der Tamp der schweren Schlepptrosse drüben anlangte. Hornblower sah, wie er von der Besatzung wahrgenommen wurde.

»Über den Achtersteven, Mr. Mound, über den Achtersteven!« schrie er durch sein Megaphon. Man durfte nicht dadurch Zeit verlieren, daß man die Schlepptrosse erst lange nach vorn gab. Mound zeigte › Verstanden‹ . »Dreiviertel über vier!« hörte man dazwischen die Stimme des Lotgasten. Die beiden Schiffe machten natürlich starken Leeweg und trieben rasch auf die Sande bei Saltholm zu.

Unmittelbar nach dem Ruf des Lotgasten hörte man das ›Bum, bum‹ der beiden Kanonen, die Carlin endlich auf Amager gerichtet hatte, und gleich darauf heulte ein Weitschuß über das Schiff hin. Das Groß- und Kreuzmarssegel zeigten Schußlöcher - offenbar versuchte der Feind, nun auch die Nonsuch zu entmasten.

»Kann ich Fahrt aufnehmen?« fragte Bush, der neben Hornblower stand. Mound hatte nämlich mit der Schlepptrosse bereits einen Turn um den Fuß des Besanmastes genommen, der so weit achtern stand, daß er für dieses Schleppmanöver wie geschaffen war. Jetzt hob er beide Arme zum Zeichen, daß die Trosse sicher belegt war, und auch die Leute mit den Äxten kappten soeben die letzten Pardunen des Großmastes.

»Bitte, Herr Kapitän.« Es kostete Hornblower Überwindung, Bush Anweisungen für ein Manöver zu geben, das durchaus Aufgabe des Kommandanten war. »Lassen Sie aber langsam Kraft auf die Trosse kommen, sonst bricht sie Ihnen weg, oder Sie reißen der Harvey glatt ihren Besanmast aus. Holen Sie erst die Vorsegel back, und nehmen Sie ganz vorsichtig Fahrt auf, ehe Sie das Großmarssegel rundbrassen.«

»Aye, aye, Sir.«

Offenbar nahm es Bush nicht im mindesten übel, daß ihm Hornblower so genau auseinandersetzte, was er tun sollte. Er wußte eben gut, daß die Ratschläge dieses Seemannes nicht mit Gold aufzuwiegen waren.

»Wenn das mein Manöver wäre, dann würde ich auf jeden Fall mit kurzer Trosse schleppen. Die Harvey wird sich so bestimmt besser benehmen, bedenken Sie, daß Sie über den Achtersteven schleppen und daß Mound keine Gewalt über sein Schiff hat.«

»Aye, aye, Sir.«

Bush wandte sich ab und begann mit lauter Stimme seine Befehle zu geben. Durch das Backsetzen der Vorsegel drehte die Nonsuch aus dem Wind, und sogleich brachte auch Carlin seine Artillerie wieder ins Gefecht. Das Schiff hüllte sich in dicken Qualm und dröhnte vom höllischen Lärm der Geschütze. Von Amager her fand immer noch ab und zu eine Kugel ihr Ziel oder sie jagte als Weitschuß darüber hin. Dazwischen hörte man in einem vergleichsweise ruhigen Augenblick wieder die Stimme des Lotgasten: »Einhalb über vier!«

Je eher sie von diesen Untiefen freikamen, desto besser.

Schon begannen sich Vor- und Kreuzmarssegel langsam zu füllen, die Vorsegel wurden übergenommen und zogen mit.

Allmählich kam die Schleppleine steif, und als das Krachen der nächsten Salve verklungen war, da hörte man von unten ein unheimliches Knacken und Knirschen, ein Zeichen der riesigen Kraft, die Trosse und Betings beanspruchten, als sie den Zug aufnahmen. Auf dem Achterdeck der Nonsuch war deutlich zu hören, wie dabei auch der Besanmast der Harvey laut krachte.

Langsam, langsam wurde das Kanonenboot herumgeholt, dabei ging es natürlich nicht ohne ein lautes Donnerwetter für den Rudergänger der Nonsuch ab, weil der quer zum Achterschiff wirkende Zug den Zweidecker aus dem eingeleiteten Dreh zu bringen drohte. Aber das Manöver gelang wunderbar, und Hornblower nickte befriedigt vor sich hin. - Sollte ihm Bush einen heimlichen Blick zuwerfen (was er bestimmt annahm), dann mochte er dieses Kopfnicken ruhig sehen, das konnte nicht schaden.

»An die Brassen!« brüllte Bush nun über das Deck hin, und seine Stimme klang für Hornblower wie ein Echo seiner eigenen Gedanken. Vor- und Kreuzmarssegel wurden für den anliegenden Kurs gebraßt und getrimmt, so daß die Nonsuch allmählich mehr Fahrt bekam. Das Kanonenboot folgte ihr, so gut man es von einem Fahrzeug erwarten konnte, das nicht mit dem Ruder auf Kurs zu halten war. Plötzlich schor die Harvey in gefährlicher Weise nach Steuerbord aus, und es vergingen einige ängstliche Sekunden, ehe sie die überanstrengte Schlepptrosse wieder zurück ins Kielwasser zwang. Hornblower schüttelte zu diesem Schauspiel den Kopf, und Bush verschob den Befehl zum Anbrassen des Großtopps, den er eben hatte geben wollen.

»Backbord Ruder, Mr. Mound!« schrie Hornblower durch sein Megaphon hinüber. Es mochte etwas ausmachen, wenn die Harvey Ruder legte - sicher konnte man es allerdings nicht wissen, denn jedes Schiff benahm sich beim Schleppen anders.

Jetzt bekamen sie immer mehr Fahrt, auch das konnte das Verhalten der Harvey im guten oder im schlechten Sinne beeinflussen.

»Gerade fünf!«

Das war günstig. Auch die Harvey schien allmählich Vernunft anzunehmen und gierte nur noch ein bißchen nach beiden Seiten. Entweder war das eine Folge des Ruderlegens, oder es kam von der höheren Fahrt. »Ausgezeichnet, Kapitän Bush«, bemerkte Hornblower großartig. »Danke, Sir«, gab Bush zur Antwort und befahl dann sogleich, das Großmarssegel vollzubrassen. »Gerade sechs!«

Damit waren sie gut frei von den Bänken bei Saltholm. Jetzt fiel Hornblower plötzlich auf, daß die Geschütze schon seit einiger Zeit schwiegen und daß auch Amager nicht mehr schoß.

Das bedeutete, daß sie die Durchfahrt hinter sich hatten und außer Schußweite der Batterien waren und daß das ganze Unternehmen ihn nicht mehr gekostet hatte als eine abgeschossene Spier. Von nun an konnte er außer Reichweite jedes feindlichen Geschützes bleiben, vor allem war es ein leichtes, beim Runden von Falsterbo die schwedischen Batterien zu vermeiden. »Gerade neun!«

Bush blickte Hornblower mit jenem Ausdruck staunender Bewunderung an, den er schon von früher an ihm kannte. Dabei war das Ganze doch so einfach gewesen. Jedermann konnte, mußte einsehen, daß die Nonsuch zum Abschleppen havarierter Schiffe am besten taugte. War man sich aber erst einmal darüber im klaren, dann war es doch selbstverständlich, daß man eine geeignete Trosse aus der Last holte und achtern klar aufschoß, daß man Wurfleinen und alles andere nötige Geschirr bereithielt, um eine solche Aufgabe auch sofort und auf Anhieb lösen zu können. Außerdem wäre sicherlich auch jeder andere auf den Gedanken gekommen, die Nonsuch zum Schlußschiff der Linie zu bestimmen, weil dort das schwerste Feuer des Gegners zu erwarten war und weil sie selbstverständlich von dort aus jeden Havaristen am besten decken und ohne Zeitverlust in Schlepp nehmen konnte.

Alle diese Schlußfolgerungen ergaben sich doch ganz zwangsläufig - Hornblower mochte es nicht, und irgendwie ärgerte es ihn, daß ihn Bush deswegen so ansah.

»Geben Sie Signal an alle Schiffe: Beidrehen«, sagte Hornblower. »Kapitän Bush, machen Sie bitte klar zum Loswerfen. Die Harvey soll einen Notmast auftakeln, ehe wir Falsterbo runden. Vielleicht haben Sie die Güte, ein Arbeitskommando zur Hilfeleistung hinüberzuschicken.«

Mit diesen Worten verschwand er unter Deck. Für den Augenblick konnten ihm Bush und die ganze übrige Welt gestohlen bleiben. Er war hundemüde, und seine Energie war bis auf den letzten Rest erschöpft. Später fand er noch Zeit genug, sich am Schreibtisch mit den langweiligen Phrasen seines Berichts herumzuschlagen: »Sir, ich beehre mich zu melden...«

Leider hatte er dann auch eine Liste von Toten und Verwundeten beizufügen.