5. Kapitel
»Die Pistolen lege ich hier in den Schrank, Sir«, sagte Brown, der eben die letzten Handgriffe beim Auspacken und Einräumen tat. »Pistolen?« fragte Hornblower.
Brown brachte ihm den Kasten, er hatte sie eben nur deshalb erwähnt, weil er wußte, daß Hornblower von ihrem Vorhandensein keine Ahnung hatte. Der Kasten war aus poliertem Mahagoni und innen mit Samt ausgeschlagen. Das erste, was ihm beim Öffnen in die Augen fiel, war ein weißes Kärtchen mit einigen Zeilen in Barbaras Handschrift: »Meinem lieben Gatten. Möge er es nie nötig haben, sie zu gebrauchen.
Sollte es aber dennoch sein, so mögen sie ihm gute Dienste leisten, jedenfalls aber mögen sie ihn daran erinnern, daß er eine Frau besitzt, die ihn innig liebt und jeden Tag für seine Sicherheit, für sein Glück und für seinen Erfolg beten wird.«
Hornblower las diese Worte zweimal langsam durch, ehe er die Karte weglegte, um sich die Pistolen selbst anzusehen. Es waren wunderbare Waffen aus blankem Stahl mit silberner Einlegearbeit. Sie hatten Zwillingsläufe und Schäfte aus Ebenholz, mit denen sie vollendet in der Hand des Schützen lagen. Dann öffnete er zwei kupferne Röhren, die in dem Kasten lagen: sie enthielten nichts als Pistolenkugeln, die allerdings völlig fehlerfrei gegossen und von mathematisch genauer Kugelgestalt waren. Die Tatsache, daß die Hersteller sich die Mühe gemacht hatten, eigene Kugeln zu gießen und ihren Waffen beizugeben, lenkte Hornblowers Aufmerksamkeit wieder auf die Pistolen selbst. In die Läufe waren glänzende, spiralige Rillen eingeschnitten, es waren also gezogene Waffen.
Da war aber noch eine weitere Kupferschachtel. Diese enthielt eine Anzahl dünner, mit Öl getränkter Lederblättchen, die wahrscheinlich dazu dienten, die Kugel einzuhüllen, ehe man sie in den Lauf einführte, damit ihr genauer Abschluß gewährleistet war. Mit dem Messingstäbchen und dem kleinen Messinghammer schlug man die Kugel dann vollends im Laufe fest. Und der kleine Messingbecher hier mußte das Maß für die Pulverladung sein. Er war sehr klein, aber nach einer bekannten Regel erzielte man mit wenig Pulver, einer schweren Kugel und natürlich einem einwandfreien Lauf die besten Schießergebnisse.
Hier war aber noch eine kupferne Büchse mehr. Sie war bis zum Rand voller kleiner, besonders dünner, viereckiger Kupferblättchen, deren Zweck sich Hornblower zunächst nicht erklären konnte. Jedes dieser Blättchen war in der Mitte etwas aufgeheult, und dort war auch das Metall besonders dünn, so daß der schwarze Inhalt ein wenig durchschimmerte. Allmählich nur dämmerte es Hornblower, daß er hier diese neumodischen Zündblättchen vor sich hatte, über die ihm in letzter Zeit einiges zu Ohren gekommen war. Um die Richtigkeit seiner Vermutung zu prüfen, legte er eines der Blättchen auf seinen Schreibtisch und hieb dann scharf mit dem Messinghammer darauf. Es gab einen hellen Knall und etwas Rauch; als er den Hammer hob, sah er, daß das Blättchen aufgerissen war, und außerdem hatte die kleine Explosion auf dem Schreibtisch einen Fleck hinterlassen.
Daraufhin sah er sich noch einmal die Pistolen an. War er denn blind gewesen, daß ihm das Fehlen des Feuersteins und der Pfanne völlig entgangen war? Der Hahn ruhte, wie es zunächst schien, einfach auf einem kleinen Metallblock. Der aber ließ sich mit dem Finger drehen, und unter ihm befand sich eine flache Vertiefung, die offenbar zur Aufnahme eines Zündblättchens bestimmt war. Die Vertiefung hatte in ihrer Mitte ein kleines Loch, das war natürlich die Verbindung zum Boden des Laufes. Man brauchte also nur in der gehörigen Weise zu laden und dann ein Zündblättchen in die Vertiefung zu legen und mit dem Metallblock in seiner Lage zu sichern. Ließ man nun den Hahn auf den Block niederschnappen, dann wurde das Blättchen gezündet, die Flamme fuhr durch das Zündloch in die Ladung, und der Schuß fiel. Da gab es kein unsicheres Hantieren mit Feuerstein und Zündpulver mehr, diese Pistolen waren gegen Regen und Spritzwasser völlig unempfindlich.
Hornblower schätzte, daß man bei diesem System unter hundert Schuß kaum einen einzigen Versager zu gewärtigen hatte. Das war wirklich ein wunderbares Geschenk - wie lieb und fürsorglich von Barbara, daß sie auf diesen Gedanken gekommen war. Der Himmel allein mochte wissen, was sie dafür bezahlt hatte. Selbst ein sehr geschickter Handwerker mußte Monate darauf verwandt haben, die Züge in die vier Läufe zu schneiden, und die Zündblättchen, fünfhundert an der Zahl, jedes einzelne handgearbeitet, hatten sicher allein ein schönes Stück Geld gekostet. Dafür hatte er aber, wenn diese Pistolen schußbereit waren, wirklich vier Menschenleben in der Hand. Mit zwei Feuerstein-Doppelpistolen mußte er auch bei schönem Wetter mindestens mit einem, wenn nicht mit zwei Versagern rechnen, wenn es regnete oder wenn Spritzer überkamen, dann konnte er von Glück sagen, wenn auch nur einer von den vier Schüssen fiel. Nach Hornblowers Auffassung waren die Züge nicht so wichtig für ihn wie die Zündblättchen, denn bei dem an Bord von Schiffen üblichen Handgemenge, wobei der Gebrauch von Pistolen hauptsächlich in Frage kam, war die Treffsicherheit der Waffe nicht so entscheidend. Bei solchen Gelegenheiten preßte man die Mündung ja doch meist gegen den Leib seines Gegners, ehe man abdrückte.
Hornblower legte die Pistolen wieder in ihr samtenes Behältnis zurück und hing weiter seinen Gedanken nach. Ja, seine liebe Barbara! Immer dachte sie für ihn, suchte sie seine Wünsche zu erraten. Nein, ihre Fürsorge ging sogar darüber hinaus. Gerade diese Pistolen hier waren ein Beispiel dafür, wie gut sie es verstand aufzuspüren, was er brauchte, und dabei auf Dinge kam, die ihm selbst nicht im Traume eingefallen wären.
Als er sagte, daß er sich während dieses Kommandos keine andere Lektüre wünschte als Gibbon, da hatte sie die Augenbrauen hochgezogen, wie das so ihre Art war, und dann hatte sie ganz einfach noch ein paar Dutzend andere Bücher für ihn gekauft und mit eingepackt. Eins davon - er konnte es von seinem Platz aus stehen sehen - war dieses neue Epos in Spenserschen Stanzen mit dem merkwürdigen Titel Childe Harald (was das nur heißen sollte?), das der verrückte Pair, Lord Byron, geschrieben hatte. Kurz vor seiner Abreise war es gerade das Londoner Tagesgespräch gewesen. Gewiß, er freute sich darüber, daß er es jetzt lesen konnte, dennoch hätte er nicht im entferntesten daran gedacht, sich das Buch selbst anzuschaffen. Hornblower besann sich auf sein ganzes verflossenes Leben, das so viel spartanische Entsagung von ihm verlangt hatte, und empfand dabei ein seltsames Bedauern, daß es nun damit zu Ende war. Ärgerlich erhob er sich von seinem Stuhl. Was denn nicht gar! Im nächsten Augenblick befiel ihn womöglich noch der Wunsch, nicht mit Barbara verheiratet zu sein, und das wäre denn doch die Höhe des Unfugs.
Er konnte hier in seiner Kajüte feststellen, daß die Nonsuch bei steifem Nordwest noch immer hart am Wind lag. Der Winddruck ließ sie leicht überliegen und stützte ihre Bewegungen, so daß sie kaum rollte, dagegen setzte sie in den kurzen Seen der Nordsee ziemlich stark ein. Der ›Spion‹ über seinem Kopf zeigte ihm, daß das Schiff den Kurs nach Skagen noch gut anliegen konnte, und die ganze Kajüte erdröhnte vom Harfen des Windes in den steifen Riggen, das durch die Inhölzer des Schiffes übertragen wurde. Beim Stampfen krachte das ganze Gebäude jedesmal mit solchem Getöse, daß es schwer war, dabei ein Gespräch zu führen. Da war vor allem ein bestimmtes Spant, das bei jeder einzelnen Stampfbewegung immer im gleichen Augenblick knackte wie ein Pistolenschuß.
Er hatte sich schon so daran gewöhnt, daß er dieses laute ›Knack‹ immer erwartete, wenn es im Rhythmus der Bewegung wiederkehren mußte. Dagegen gab ihm ein sonderbares, unregelmäßiges Pochen über seinem Kopf längere Zeit ein Rätsel auf, und zuletzt machten ihn die vergeblichen Versuche, seine Ursache festzustellen, so nervös, daß er den Hut aufsetzte und sich auf das Achterdeck begab, um ihm dort auf die Spur zu kommen. Aber auch hier war nichts zu entdecken, was man als Ursache dieses Pochens hätte ansprechen können.
Eine Pumpe war nicht in Tätigkeit, und es war auch niemand zu sehen, der vielleicht irgendwo die Kalfaterung aus den Decksnähten schlug - eine absurde Vorstellung übrigens, so etwas auf dem geheiligten Achterdeck eines Linienschiffs überhaupt für möglich zu halten. Da waren nur Bush und die Offiziere der Wache, sie alle erstarrten und machten sich möglichst klein und unauffällig, als er, der große Mann, aus der Kajütsklappe auftauchte. Wo, in aller Welt, kam also dieses Pochen her? Hornblower begann nachgerade zu vermuten, daß ihn sein Gehör getäuscht hatte und daß das Geräusch in Wirklichkeit aus einem der unteren Decks stammte. Das hieß aber, daß er jetzt einen Vorwand brauchte, der sein Andeckkommen erklärte - bemerkenswert, schoß es ihm durch den Kopf, daß sich sogar ein Kommodore erster Klasse noch zu solchen faulen Ausflüchten hergeben mußte. Jedenfalls begann er zunächst einmal, die Hände auf dem Rücken und den Kopf vorgebeugt, also in der altgewohnten, bequemen Haltung, an der Luvseite des Achterdecks auf und ab zu wandern. Da schrieben und redeten die Leute unermüdlich über die verschiedensten Freuden des Daseins, schwärmten von Gärten, von Frauen, von Wein, vom Angeln, um so seltsamer, daß sich bis jetzt noch niemand gefunden hatte, der das Lob einer solchen Wanderung auf dem Achterdeck eines guten Schiffes sang.
Woher kam aber dieses langsame Pochen? Das wollte er doch herausbringen. Beinahe hätte er vergessen, daß er vorhin deshalb an Deck gekommen war. Zwar hatte er das Geräusch jetzt nicht mehr gehört, aber dennoch quälte ihn die Neugier.
Nun blieb er an der Heckreling stehen und blickte nach achtern auf seinen Verband. Die schmucken Korvetten mit ihrer Rahtakelage kamen bei der steifen Brise mühelos gegenan, aber den Kanonenbooten ging es nicht so gut. Mit dem riesigen, dreieckigen Vorsegel, das sie an Stelle des fehlenden Fockmastes führten, waren sie selbst bei stärkerem Wind nur schwer auf Kurs zu halten. Ab und zu steckten sie ihren kurzen Stummel von Bugspriet ganz weg und nahmen eine grüne See über.
Die Kanonenboote interessierten ihn aber im Augenblick nicht. Er hätte viel lieber gewußt, was da vorhin so merkwürdig gepocht hatte, als er noch in seiner Kajüte war. Endlich half ihm sein gesunder Menschenverstand, mit den lächerlichen Hemmungen fertig zu werden, die ihn wieder einmal so tyrannisierten. Warum sollte es ihm als Kommodore eigentlich nicht gestattet sein, sich nach einem einfachen Sachverhalt zu erkundigen? Warum, in aller Welt, hatte er damit auch nur einen Augenblick gezögert? Entschlossen wandte er sich um.
»Kapitän Bush!« rief er.
»Sir!« antwortete dieser und eilte mit seinem Holzbein polternd achteraus. Das also war das Geheimnis! Bei jedem zweiten Schritt stauchte Bush seine lederbewehrte Prothese mit dumpfem Pochen auf die Decksplanken. Nun durfte Hornblower natürlich die Frage, die er sich eben zurechtgelegt hatte, nicht mehr stellen.
Geistesgegenwärtig sagte er statt dessen: »Ich hoffe, daß Sie mir heute abend die Freude machen, zum Dinner mein Gast zu sein.«
»Besten Dank, Sir. Jawohl, Sir, sehr gern«, sagte Bush. Er strahlte förmlich vor Freude über diese Einladung, so daß Hornblower sich recht häßlich und heuchlerisch vorkam, als er wieder die Kajüte aufsuchte, um beim Verstauen seiner Sachen noch einige Anweisungen zu geben. Es war nicht einmal so übel, daß nun als Auswirkung der eigentümlichen Schwächen seines Wesens diese Einladung zustande gekommen war.
Andernfalls hätte er wohl den ganzen Abend mit Gedanken an Barbara verträumt und wäre im Geist noch einmal mit ihr durch die Pracht des englischen Frühlings von Smallbridge nach Deal gefahren. Was hätte er aber damit erreicht? Doch höchstens das eine, daß er hier auf See in die gleiche jämmerliche Stimmung geriet wie kurz zuvor an Land, und zwar auch diesmal wieder nur durch seine Unzulänglichkeit.
Außerdem konnte ihm Bush bei dieser Gelegenheit über die Offiziere und Mannschaften der Nonsuch berichten, ihm sagen, wer zuverlässig war und wer der Aufsicht bedurfte, ihn über den Zustand des Schiffes, die Beschaffenheit der Vorräte und tausend andere Dinge ins Bild setzen, die er notwendig wissen mußte, und morgen, sobald das Wetter handiger wurde, wollte er das Signal: ›Alle Kommandanten an Bord des Flaggschiffes‹ setzen, um möglichst bald auch seine anderen Untergebenen kennenzulernen und sich ein Urteil über sie zu bilden. Vielleicht konnte er gleich bei dieser Gelegenheit beginnen, sie mit seinen eigenen Ansichten und Willensmeinungen so vertraut zu machen, daß es später im Fall eines Gefechtes nur noch weniger Signale bedurfte, um ein verständiges, zielbewußtes Zusammenwirken aller zu erreichen.
Zuvor aber war noch etwas anderes zu erledigen, und zwar sofort. Seufzend sagte er sich, daß es keinen Sinn hatte, die Sache auf die lange Bank zu schieben, aber gleichzeitig konnte er ein leises Gefühl des Widerwillens nicht unterdrücken.
»Ich lasse Mr. Braun bitten, meinen Sekretär«, sagte er zu Brown, der gerade damit beschäftigt war, die letzten Uniformen hinter dem Vorhang an der Schottwand aufzuhängen. »Aye, aye, Sir«, sagte Brown.
Seltsam, daß die Namen des Sekretärs und des Bootssteuerers ganz gleich ausgesprochen wurden. Dieser Zufall hatte ihn dazu veranlaßt, seinem Befehl die letzten beiden Worte beizufügen, die im Grunde ganz unnötig waren. Mr. Braun war groß und hager, er stand offenbar noch in jüngeren Jahren, hatte aber vorzeitig sein Haupthaar eingebüßt Im ersten Augenblick machte er auf Hornblower einen schlechten Eindruck, aber bezeichnenderweise benahm er sich gerade deshalb herzlicher gegen ihn, als wenn er ihm von vornherein gefallen hätte. Er bot ihm seinen Stuhl an und setzte sich selbst auf die Backskiste.
Als er bemerkte, daß Mr. Braun den Pistolenkasten, Barbaras Geschenk, neugierig betrachtete, ließ er sich sogar darauf ein, mit ihm zur Einleitung des Gesprächs ein paar Bemerkungen über diese Waffen auszutauschen, wobei er die Vorzüge der Zündblättchen und der gezogenen Läufe hervorhob. »Da haben Sie sehr gute Waffen, Sir«, meinte Mr. Braun, indem er sie in den Kasten zurücklegte.
Er sah Hornblower an. Auf seinen Zügen lag das sterbende Tageslicht, das durch die Heckfenster hereindrang, und spiegelte sich seltsam in seinen blaßgrünen Augen.
»Sie sprechen sehr gut englisch«, sagte Hornblower.
»Ich danke Ihnen für die Anerkennung, Sir. Vor dem Krieg hatte ich viel geschäftlich mit England zu tun. Aber ich spreche ebenso gut russisch, schwedisch, finnisch, polnisch, deutsch und französisch. Dazu noch ein wenig litauisch und dann auch ein bißchen estnisch, weil diese Sprache der finnischen so ähnlich ist.«
»Aber Ihre Muttersprache ist doch schwedisch?« Mr. Braun zuckte seine mageren Achseln.
»Mein Vater sprach schwedisch, meine Mutter sprach deutsch, Sir. Ich selbst sprach finnisch mit meiner Kinderfrau, französisch mit dem einen Hauslehrer und englisch mit dem anderen. Und in meinem Kontor sprachen wir russisch, wenn wir uns nicht auf polnisch unterhielten.«
»Ich habe geglaubt, Sie seien ein Schwede.« Wieder zuckte Mr. Braun die Achseln.
»Ich bin wohl schwedischer Untertan, Sir. Aber ich bin in Finnland geboren und habe mich bis vor drei Jahren selbst für einen Finnen gehalten.« Dieser Mr. Braun war also auch einer jener Heimat- und Staatenlosen, die heute ganz Europa zu bevölkern schienen - Männer und Frauen ohne Vaterland, Franzosen, Deutsche, Österreicher, Polen, die irgendeine Wendung des Krieges entwurzelt hatte und die jetzt irgendwo ein trauriges Dasein fristeten und sich an die Hoffnung klammerten, daß sie ein neuerlicher Wechsel des Kriegsglücks eines Tages wieder in den Sattel hob.
»Als Rußland seinen Pakt mit Bonaparte benutzte, um über Finnland herzufallen«, erklärte Mr. Braun, »da gehörte ich zu denen, die um ihre Freiheit kämpften. Aber was konnte uns das nutzen? Wie hätte das kleine Finnland der riesigen russischen Macht widerstehen sollen? Ich war einer der wenigen Glücklichen, die entkamen. Meine Brüder schmachten heute noch in russischen Gefängnissen, wenn sie noch am Leben sind, hoffentlich sind sie tot. In Schweden herrschte Revolution, auch dort gab es keine Zuflucht für mich, obgleich ich doch für Schweden kämpfte. Deutschland, Dänemark und Norwegen waren in den Händen Bonapartes, der mich mit Vergnügen ausgeliefert hätte, um seinem neuen russischen Bundesgenossen einen Gefallen zu tun. Aber ich befand mich, Gott sei Dank, auf einem englischen Schiff, einem von denen, die ich mit Holz belud, und so kam ich nach England. Ja, ich war einmal der reichste Mann in Finnland, wo die reichen Leute gezählt sind, und wurde von heute auf morgen zum ärmsten Mann in England, wo es doch schon so viel Armut gibt.«
Wieder spiegelte sich das Licht, das durch die Heckfenster fiel, in den blaßgrünen Augen, und bei Hornblower verstärkte sich der beunruhigende Eindruck, den dieser Sekretär auf ihn machte. Das lag gewiß zum Teil an der Tatsache, daß er ein Emigrant war und daß Hornblower, ungeachtet der Gewissensbisse, die er darüber empfand, wie alle anderen Leute diese Emigranten mit ihren ewigen Jammergeschichten gründlich satt hatte. Die ersten waren vor zwanzig Jahren aus Frankreich gekommen, und seither war dieser Menschenstrom aus Polen, aus Italien, aus Deutschland und weiß Gott aus welchen anderen Ländern immer mehr angeschwollen.
Hornblower konnte also annehmen, daß er gegen Braun einfach deshalb ein Vorurteil empfand, weil er Emigrant war, und stellte mit seinem genauen und gewissenhaften Rechtsbewußtsein auch sofort fest, daß es sich tatsächlich so verhielt. Aber dann wurde er doch gleich inne, daß er damit den letzten Grund seiner Abneigung noch nicht entdeckt hatte. Dieser lag also nicht so klar auf der Hand, er mußte sich schließlich sogar gestehen, daß es einen erkennbaren Grund dafür überhaupt nicht gab.
Jedenfalls war Hornblower von dem Gedanken, während der bevorstehenden Unternehmung aufs engste mit diesem Mann zusammenarbeiten zu müssen, alles andere als angenehm berührt. Aber die Befehle der Admiralität dort in seinem Schreibtisch schärften ihm ausdrücklich ein, dem Rat und den Informationen Mr. Brauns größte Aufmerksamkeit zu schenken.
Er sei, hieß es, ›ein Gentleman mit den ausgedehntesten und gründlichsten Kenntnissen über die Verhältnisse im ganzen Ostseeraum‹ . Und doch atmete er schon heute erleichtert auf, als ihm ein Klopfen an der Tür seinen Dinnergast Bush ankündigte, der ihn endlich von der Gegenwart dieses Mannes erlösen kam.
Mit einer Verbeugung vor Bush schlüpfte Braun bescheiden zur Tür hinaus. Jede Geste, jede Linie seines Körpers wirkte bei ihm - Hornblower konnte nicht entscheiden, ob absichtlich oder unbewußt -, als wollte er sagen: ›Ich habe einst bessere Tage gesehen, aber das Schicksal hat mich gestürzt, und nun spiele ich ergeben meine untergeordnete Rolle‹ . »Wie gefällt Ihnen Ihr schwedischer Sekretär, Sir?« fragte Bush. »Er ist gar kein Schwede, sondern ein Finne.«
»Ein Finne? Um Gottes willen, Sir! Es ist bestimmt besser, wenn die Mannschaft nichts davon erfährt.«
Bushs ehrliches Gesicht verriet eine Beunruhigung, die er vergebens niederzukämpfen suchte. »Natürlich«, sagte Hornblower.
Er bemühte sich dabei, durch ein möglichst gleichmütiges Gesicht zu verheimlichen, daß er erst jetzt durch Bush an die abergläubischen Ansichten über die Finnen erinnert worden war.
Der Seemann hielt jeden Finnen für einen Zauberer, der durch das bloße Heben eines Fingers einen Sturm heraufbeschwören konnte. Hornblower hatte bei dem schäbigeleganten Mr. Braun wirklich keine solchen gefährlichen Eigenschaften vermutet, selbst die unguten, blaßgrünen Augen des Mannes hatten ihn nicht auf diesen Einfall gebracht.