30

Abraham vertraute und fürchtete Gott so sehr, dass er bereit gewesen wäre, seinen eigenen Sohn Isaak zu opfern, weil Gott es befohlen hatte (Genesis 22,2).

Abraham wusste, dass Gott am Ende alles gut machen würde. Darauf vertraue auch ich.

Wir reihen uns in die Schlange vor dem Durty Nevin’s ein, bis Jess uns entdeckt und direkt zum Eingang lotst. Sie murmelt irgendwas von ihrem Onkel, der einer der Inhaber des Sicherheitsdienstes ist, bei dem die Türsteher angestellt sind. Wir steuern geradewegs auf einen bulligen Türsteher zu, der nur einen kurzen Blick auf Jess wirft und uns drei dann durchwinkt.

Ich halte Avi an der Hand, während wir uns durch die Menschenmenge schieben.

An einem der vordersten Tische sitzt Miranda. Sie hat ihr Haar zu einem Pferdeschwanz hochgebunden und sich tatsächlich geschminkt. »Wow, Miranda, du siehst toll aus!«, sage ich zu ihr.

Sie lächelt, als hätte ich ihr gerade verkündet, dass sie eine Million im Lotto gewonnen hat. »Hat Jess gemacht.«

Ich halte Jess den erhobenen Daumen hin und helfe dann den anderen, Stühle für uns drei zu organisieren.

Nachdem wir uns gesetzt haben, taste ich nach Avis Hand, doch da greift seine bereits nach meiner. Ich blicke auf und muss schlucken, als er mir heimlich zuzwinkert.

»Ich bin froh, dass ihr euch wieder zusammengerauft habt«, sagt Jess mit einem Blick auf unsere Hände. »Aber wenn ihr hier mit irgendwelchen ausführlichen ÖLs anfangt, dann schwöre ich, verbanne ich euch von diesem Tisch.«

»Was bedeutet ÖLs?«, flüstert Avi mir ins Ohr. Jess verdreht die Augen, weil sie denkt, er wispert mir zu, wie sehr er mich liebt und wie toll ich bin und dass er nicht ohne mich leben kann.

Ich beuge mich zu ihm, meine Hand auf seiner Brust, und flüstere zurück: »Öffentliche Liebesbekundungen. Du weißt schon, wenn man vor anderen rummacht.«

Jess zieht mich von ihm weg. »Ich muss mit dir reden, Amy. Es ist wichtig. Natürlich nur, wenn du dich mal eine Sekunde von deinem Freund losreißen kannst.«

Ich werfe Avi ein entschuldigendes Lächeln zu und lasse mich am Ellbogen von Jessica zum Gang vor den Toiletten ziehen. Musik dröhnt und hämmert in meinen Ohren, doch es klingt gut. Aber für mich würde sich gerade alles gut anhören. Ich bin glücklich.

Jess wird rot, als sie stehen bleibt und sich zu mir umdreht. Es geht um etwas Wichtiges, das erkenne ich an ihrem aufgeregten Gesichtsausdruck und ihrer angespannten Körperhaltung. »Ich habe mich verliebt, Amy. Ich weiß, es klingt verrückt, und ich will nicht so ein dämliches verliebtes Grinsen kriegen wie du und Avi, aber ich bin mir sicher, dass er ›der Richtige‹ ist. Und meine Eltern schmelzen bestimmt total dahin, wenn ich ihn ihnen vorstelle, weil er genau der Mann ist, den sie sich für mich gewünscht haben. Er ist Jude, er ist Israeli, er sieht super aus, ist intelligent, süßer als eine Zimtschnecke … er ist der feuchte Traum aller jüdischen Eltern –«

Ich halte eine Hand hoch und frage mich, was sie da für ein Zeug redet. Zimtschnecke? Israeli? Feuchter Traum? »Jess, die einzigen Israelis, mit denen du in letzter Zeit Kontakt hattest, sind Avi und mein Dad. Avi ist schon vergeben und mein Dad …« Ich verziehe das Gesicht, weil die Vorstellung einfach zu eklig ist.

Jess stemmt die Hände in die Hüften. »Ich stehe nicht auf deinen Dad, Amy.«

»Uff«, mache ich und verspüre körperliche und mentale Erleichterung. Ich bin gerade um jahrelange Therapie herumgekommen.

»Ich habe mich in Tarik verliebt. Du weißt schon, Avis Freund an der Northwestern. Nach deinem Entführungsfiasko hat er Miranda und Nathan heimgefahren. Dann haben wir vor meinem Haus noch über eine Stunde geredet.« Ihr Redeschwall ist nicht zu bremsen und ich komme überhaupt nicht zu Wort. Sie ist wie ein Zug in voller Fahrt. Obwohl – eher wie ein Zugwrack, denn sie hat nicht den leisesten Schimmer. Ich höre mir den Rest ihrer Ausführungen an, bevor ich ihr die schlechte Nachricht überbringe.

»Er ist unheimlich klug, Amy. Ich kann es nicht fassen, dass du ihn schon seit letztem Sommer kennst und ihn mir nicht vorgestellt hast, obwohl du wusstest, dass er an die Northwestern geht. Ich würde ernsthaft deine Loyalität mir gegenüber infrage stellen, wenn ich nicht so schrecklich verliebt wäre. Hättest du gedacht, dass ich je an Liebe auf den ersten Blick glauben würde? Ich habe letzte Nacht kein Auge zubekommen, weil ich die ganze Zeit an ihn denken musste, und heute Morgen war ich schon fast drauf und dran, ihm einen Überraschungsbesuch im Wohnheim abzustatten. Du weißt ja, wie du für Avi empfindest. Mir geht es bei Tarik genauso.«

»Meinst du, ich könnte auch mal was sagen, Jess?«, frage ich sie. Sie lacht so ein verrücktes Ich-habe-mich-verliebt-und-kann-nicht-normal-sein-Lachen. Meine Nerven, ich hoffe, ich benehme mich nicht genauso, wenn Avi in der Nähe ist. Bitte gebt mir einen Tritt, sollte ich jemals so übers Ziel hinausschießen. »Worüber habt ihr euch denn eine Stunde lang unterhalten?«

»Über alles. Das Leben, die Familie, Freunde.«

»Jess, ich sage dir das echt nur ungern, aber …« Wie bringe ich ihr bei, dass 1. Liebe auf den ersten Blick ein Haufen Scheiße ist und 2. Tarik kein … Jude?

»Warte. Bevor du mich für verrückt erklärst und auf mich losgehst, weil ich in unserer Freundschaft sonst immer die Realistische und Vernünftige bin, musst du mir erst seinen Nachnamen verraten. Ich weiß noch nicht mal, wie mein Zukünftiger heißt.«

»Moslem.«

Jess legt verwirrt den Kopf schief. »Tarik Moslem? Das ist kein jüdischer Name, das ist eine Religion. Amy, hör auf, mich auf den Arm zu nehmen, und sag mir jetzt seinen Nachnamen. Oder muss ich erst sauer werden?«

»Er ist Moslem, Jess«, sage ich langsam und mit ernstem Gesicht. Es ist eigentlich eine mitleidige Miene, weil ich ihr verkünden muss, dass ihre Zimtschnecke Rosinen drin hat – dabei wollte sie doch eine ohne Rosinen.

»Amy, du hast gesagt, er wäre Israeli.«

»Nein, ich habe gesagt, dass er Avis Freund aus Israel ist. Und sosehr du dich in ihn verliebt hast, so sehr wären deine Eltern schockiert. Vor allem dein Dad. Ist er nicht Vorsitzender des Männervereins der Synagoge? Ich finde Tarik ja auch echt gut, Jess. Aber deine Eltern wünschen sich einen netten jüdischen Jungen für dich, und ich bin sicher, seine Eltern wünschen sich ein nettes muslimisches Mädchen für ihn.«

Ich hätte es anders formulieren sollen. Ein Blick auf Jessica sagt mir, dass sie aus allen Wolken fällt. Innerhalb von Sekunden wird aus ihrer Euphorie erst Verwirrung, dann Sorge und schließlich Trotz. Wenn mich meine beste Freundin so ansieht, wird mir mulmig.

»Er hat mich gefragt, ob ich am nächsten Samstag mit ihm ausgehe«, sagt sie sachlich.

Oh Mann. »Und?«

»Ich hab natürlich zugesagt. Mist«, murmelt sie. Tränen steigen ihr in die Augen. Sie dreht sich um und rennt zur Toilette. Jetzt kann ich ihr entweder wie eine gute Freundin hinterhergehen oder mich wieder meinem Freund widmen, der vermutlich schon denkt, ich hätte ihn vergessen.

Ich spähe um die Ecke, um zu checken, was Avi so macht. Er sitzt nicht mehr am Tisch, sondern unterhält sich mit ein paar Leuten an der Bar.

Ich beschließe, eine gute Freundin zu sein, und hoffe, dass Avi sich noch fünf Minuten lang alleine amüsieren kann.

In der Toilette haben sich bereits ein paar andere Mädchen aus der Schule um Jess geschart und fragen, was los ist. Erst hat Mitch so mies mit ihr Schluss gemacht, und jetzt entpuppt sich der Junge ihrer Träume als jemand, mit dem eine Beziehung so gut wie unmöglich ist. Jessica geht zweimal die Woche in die Hebräischschule, besucht die Sonntagsschule, und im Sommer fährt sie mit dem Bus den ganzen Weg bis nach Wisconsin, um vier Wochen in einem jüdischen Übernachtungscamp zu verbringen. Unnötig zu sagen, dass schon immer, quasi von Geburt an, klar war, dass sie einen Juden heiraten muss. Ihre Kinder müssen jüdisch werden, und sie ist verantwortlich dafür, die jüdische Tradition und Religion weiterzuführen.

Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf. Es muss irgendein Hintertürchen geben, irgendeine Möglichkeit, wie Tarik und Jess doch zusammenkommen können, ohne dass ihre Großmutter Pearl deswegen von heute auf morgen ein Fall fürs Pflegeheim wird.

Mit einer Handbewegung gibt Jessica den anderen zu verstehen, dass sie uns allein lassen sollen. »Mir geht’s gut. Wirklich«, sagt sie. So richtig überzeugend klingt das nicht. Vor allem, weil ihr die Wimperntusche übers ganze Gesicht läuft wie Ascheschlieren, denen die Tränen den Weg weisen.

Ich dränge mich an den anderen vorbei. Dann hebe ich mit den Fingern ihr Kinn an und sage ganz ruhig: »Jess, hör auf zu weinen. Ich bin sicher, wenn du deinen Eltern alles in Ruhe erklärst, dann ist es gar nicht so ein Problem. Du wirst sehen.«

Sie nimmt mich ein Stück beiseite, sodass uns niemand hören kann. »Nein, das werde ich nicht tun«, sagt sie. »Die Familie meiner Mutter ist dem Holocaust zum Opfer gefallen, Amy. Meinem Urgroßvater haben sie im Konzentrationslager eine Nummer auf dem Arm tätowiert … Eine Erinnerung, die man nicht einfach mit Seife und Wasser wegbekommt. Wenn ich in seiner Gegenwart auch nur den Namen eines Jungen erwähne, der kein Jude ist, fühle ich mich schuldig.«

Ich glaube trotzdem, dass Gott sich um Jessica kümmern und auf sie aufpassen wird. Ich bin voller Vertrauen. Und dann kann man ja immer noch ein Schuldopfer bringen, indem man ein Tier verbrennt …

Jess trocknet ihre Tränen und versucht, sich zusammenzureißen. Sie schnappt sich Papiertücher und sieht in den Spiegel, um festzustellen, dass ihr Gesicht eine einzige gestreifte Katastrophe ist. »Sieh mich nur mal an, Amy«, sagt sie. »So kann ich doch nicht da rausgehen.«

»Du musst. Nathan zählt auf uns.«

Wieder laufen ihr Tränen über die Wangen und sie dreht sich zu mir. »Tarik hat gesagt, es wäre ihm eine Ehre, mit mir zum Valentinstanz zu gehen, Amy. Eine Ehre. Als ich damit rausgerückt bin, dass ich keine Verab-redung habe, hat er mich gefragt. Gleich an Ort und Stelle, im Auto vor meinem Haus. Und wir hatten einen Moment. Ich weiß, es klingt verrückt und dumm, aber es war so.«

Einen Moment? Will sie mich verarschen? Einen Moment der Leidenschaft vielleicht, aber doch nicht Liebe.

Oh Mann. Ich weiß, wie gern sie zum Valentinstanz gehen will. Es geht nicht ums Tanzen. Es geht auch nicht um Liebe. Es geht darum, nicht wie übrig geblieben dazustehen, darum, sich akzeptiert zu fühlen.

Ich wünschte, ich könnte sie davon abhalten, wieder in den Spiegel zu schauen, aber es hat keinen Zweck. Einmal mehr wischt sie sich die verlaufene Wimperntusche weg, und ich kann in ihren Augen sehen, dass sie aufgegeben hat. »Ich gehe nach Hause. Sag Nathan und Miranda einen schönen Gruß und dass wir uns in der Schule sehen.«

Sie läuft an mir vorbei zur Tür hinaus, und ich versuche nicht, sie aufzuhalten, weil ich lange genug mit Jessica befreundet bin, um zu wissen, dass ich sie nicht zum Bleiben überreden kann. Außerdem, was soll ich noch sagen? Ich kann nicht einfach behaupten, dass Tarik kein toller Typ wäre, denn er ist es nun mal.

Apropos tolle Typen, ich habe meinen jetzt lang genug allein gelassen. Ich stürze mich wieder ins Gedränge, sehe mich suchend nach Avi um und entdecke ihn am Tisch bei Miranda. Sie sind von einem Pulk anderer Leute umgeben, die sich unterhalten und lachen. Zwei Mädchen, die ich nicht kenne, stehen bei Avi. Daran, wie die eine ihre Haare zurückwirft und die andere sich mit der Zunge über die Lippen fährt, kann ich erkennen, dass sie ihn anflirten. Sofort meldet sich mein Beschützerinstinkt (okay, mein Eifersuchtsradar schlägt ebenfalls Alarm) und ich bahne mir mit herausgestreckter Brust einen Weg durch die Menschenmenge und steuere auf meinen Freund zu wie eine Büroklammer auf einen Magneten.

Die Haarezurückwerferin erzählt von ihrer Reise nach Israel im Sommer vor zwei Jahren und wie unglaublich sie sich schon darauf freut, mal wieder hinzufahren. Die Details ihres Abenteuers sind kaum zu verstehen, weil die Musik so plärrt und ich hinter Miranda feststecke und nicht weiterkomme. Neben meinem Freund ist kein Platz.

Die Lippenleckerin lacht, während sie sich wieder mit der Zunge über die Lippen fährt – das hat sie bestimmt zu Hause vor dem Spiegel einstudiert, denn sie macht ihre Sache erschreckend gut. Avi ist so ins Gespräch vertieft, dass er mich gar nicht registriert.

Miranda blickt zu mir hoch. »Maya erzählt gerade von ihrer Israel-Reise«, erklärt sie mir. »Sie war eine Woche in Gadna. Das ist ein militärisches Trainingscamp.«

Ganz groß. Die haarewerfende Maya kann mit meinem Kommandosoldaten-Freund über Waffen fachsimpeln. Mir wird übel, und ich hätte gute Lust, einfach Jessica hinterherzulaufen und ebenfalls nach Hause gehen. »Ich war auch schon mal in Israel«, rufe ich dazwischen.

Mehr habe ich nicht beizutragen. Weder war ich in einem israelischen Militär-Trainingscamp noch kann ich meine Haare so nach hinten schleudern, als käme ich gerade frisch gestylt vom Friseur.

Als Avi mich bemerkt, lächelt er mir ein wenig zu. Die Lippenleckerin betrachtet mich spöttisch, und das Friseursalonmädchen sagt: »War es ein Birthright-Trip oder mit Shorashim?«

»Weder noch. Ich war mit meinem Dad dort … Er ist Israeli.«

»Ah«, sagt sie, und dann gibt ihre Freundin mit der Irland-Reise ihrer irischen Familie an.

Während sich alle über ihre tollen, abenteuerlichen Auslandsaufenthalte unterhalten, streckt Avi den Arm aus, legt ihn um meine Taille und zieht mich zu sich. »Hier ist kein Platz für mich frei«, sage ich zu ihm.

Er hebt mich auf seinen Schoß. »Oh doch.« Dann tippt er der Haarwerferin auf die Schulter, und ich frage mich schon, ob er sein Militärgespräch mit ihr fortsetzen will, bis ich ihn sagen höre: »Das ist Amy, meine Freundin.«

Während mir das Herz aufgeht und ich Avi noch mehr liebe, weil er einem Mädchen, das es offensichtlich auf ihn abgesehen hat, klarmacht, dass er zu mir gehört, nickt Miss Haarschleuder mir knapp zu und wendet sich von uns ab, um sich mit einem anderen Typ zu unterhalten.

»Warum stürzen sich eigentlich immer, wenn ich dir kurz den Rücken zudrehe, sofort andere Mädchen auf dich?«

»Ich habe mich mit allen möglichen Leuten unterhalten, Amy. Sei nicht so paranoid. Der da drüben heißt Dale und kommt von der South Side und da drüben ist Kyle aus deiner Schule. Er hat mich gefragt, ob wir uns über eine Singlebörse im Internet kennengelernt hätten.«

»Was hast du ihm geantwortet?«

»Ich habe ihn gefragt, ob er kein eigenes Leben hat. Wo ist Jessica?«

»Sie ist gegangen. Das ist eine lange Geschichte.« Ich seufze.

Wahrscheinlich sollte ich nicht auf andere Mädchen eifersüchtig sein. Ich weiß ja, wie Avi für mich empfindet. Ich denke mal, ein kleiner Teil von mir … der mit den Komplexen und Ängsten, der hin und wieder sein hässliches Haupt hebt, kennt die Wahrheit. Avi geht zurück nach Israel und ich bin hier. In weniger als vierundzwanzig Stunden wird er im Flugzeug sitzen und weit, weit von mir wegfliegen. Keine Ahnung, was dann passiert. Ich weiß, wie alles laufen soll, wenn es nach mir geht, aber ist das realistisch?

»Mach nicht so ein ernstes Gesicht, Amy«, sagt Avi zu mir und drückt mein Kinn sanft mit dem Daumen nach unten, sodass unsere Gesichter gleichauf sind.

Avi und ich befinden uns in unserem kleinen imaginären Kokon und sehen uns in die Augen, als gäbe es niemanden sonst auf der Welt. Nur uns beide.

Ein lautes »Ähem« unterbricht uns.

Ich blicke auf. Als ich sehe, wer da vor mir steht, fällt mir die Kinnlade runter. Ich wusste ja, dass Nathan heute Abend in der Bar spielt, aber ich hatte keine Ahnung, dass er sich in einen Rockstar verwandeln würde. Seine Haare hat er zu lauter kleinen Stacheln aufgestellt, er hat Eyeliner aufgetragen, trägt zerrissene, ausgewaschene Jeans, ein verwaschenes Vintage-Shirt und um den Hals ein schwarzes Lederband. Unnötig hinzuzufügen, dass er keine Brille aufhat.

»Nathan?«, frage ich, nicht ganz sicher, ob der Typ vor mir der echte Nathan ist oder ein Doppelgänger.

Nathan beugt sich vor und meint: »Die Jungs aus der Band nennen mich Nate. Und … tja, also, das bin ich. Du meintest doch, ich soll ich selbst sein, stimmt’s?«

Wow. Da ist wohl einer mutiert – vom Streber zum … Wow. »Genau.«

Als er sich aufrichtet, spüre ich, dass sich Avis Griff um meine Taille verstärkt hat. Ich sehe hinunter zu meinem Freund, dessen Blick nun etwas finsterer und intensiver ist, als wäre er bereit, um mich zu kämpfen.

»Avi?«, sage ich.

Er funkelt noch immer Nathan an, als er antwortet: »Was?«

»Sieh mich an.«

Er sieht mich an.

»Nathan ist ein Freund. Er ist wie ein Bruder für mich. Hör auf, ihn anzuschauen, als wäre er der Feind.«

»Ich kann nicht anders. Außerdem, wenn ihr jetzt Freunde seid, dann war er mir mit Brille und zu kurzen Hosen bedeutend lieber.«

»Komm schon, sei nicht albern«, meint Nathan. »Das Mädchen ist total in dich verliebt. Oder bestehst du wirklich nur aus Muskeln und in der Gehirnabteilung herrscht Sendepause?«

Ich spüre, wie Avis Muskeln sich anspannen, doch ehe er etwas erwidern kann, schlinge ich ihm die Arme um den Hals und halte ihn zurück. Zum Glück wird gerade Nathans Band angekündigt, und Nathan nutzt die Gelegenheit und springt schnell auf die Bühne, um einer weiteren Konfrontation mit Avi aus dem Weg zu gehen. Ich sehe, dass Nathan von gestern, als Avi ihn niedergestreckt hat, eine Platzwunde und einen Bluterguss hat.

»Nathan sieht echt irre aus, oder?«, meint Miranda, als Nathan das Mikro nimmt. Ah ja, dann ist Nathan jetzt also der Ersatzsänger bei Lickity Split. Wohl nicht auf Dauer, aber es ist trotzdem supercool.

Avi drückt mich enger an sich. »Ich will, dass du ihn nie so ansiehst wie mich, Amy.«

Nathan – auch bekannt als Nate Greyson – hebt das Mikro an den Mund und deutet auf mich. »Amy, das hier ist für dich.«

Was?

Hat er mir gerade einen Song gewidmet?

Meine Arme sind noch immer um den Hals meines Freundes geschlungen, und er hält mich fest an sich gedrückt, während Lickity Split gleich richtig loslegt. Mit lauter Stimme schmettert Nathan einen mir unbekannten Text:

She’ll freak you out, she’ll screw with your head

She’ll kiss you once, then leave you for dead

Nach dem Wort dead höre ich nicht mehr hin. Nathan und ich werden demnächst mal ein längeres Gespräch über diesen Songtext führen müssen. Er ist zu wütend. Ist Nathan wütend? Es ist anzunehmen, dass sich bei seiner Vergangenheit einiges aufgestaut hat, aber zusammen kriegen wir das bestimmt wieder hin. Dafür sind Freunde schließlich da, oder? Und um das mal klarzustellen: Ich habe Nathan zweimal geküsst, nicht einmal. Und dem Tode überlassen habe ich ihn auch nicht. Nachdem Avi ihm gestern Abend in den Arsch getreten hat, wusste ich, dass er am Leben war … und habe ihn in den besten Händen zurückgelassen.

Kopfschüttelnd höre ich dem Rest des Songs zu. Die Leute stehen jedenfalls auf den Text und den schnellen Beat. Nathan schlägt voll ein. Der Song erzählt die Geschichte eines Jungen, der sich in ein Mädchen verliebt, von dem er denkt, dass sie nur mit ihm spielt. Aber schließlich erkennt er, dass sie doch sie selbst ist. Und dass ihre Freundschaft das einzig Wahre ist und die Anziehungskraft oberflächlicher Natur war.

Alle in der Bar springen auf und ab und machen Headbangen und schwenken die Hände durch die Luft wie Verrückte. Oder vielmehr wie Leute, die total mit dem Beat und den Lyrics mitgehen. Nathan alias Nate tobt oben auf der Bühne herum wie die Menschenmenge unten und ist voll drin in dem Song.

»Komm, wir tanzen«, ruft Avi mir zu, um die Boxen ganz in der Nähe unseres Tischs zu übertönen.

Ich? Hüpfen und Headbangen? Ja, das mache ich vielleicht in meinem Zimmer, wenn mich keiner sieht, aber hier sind auch eine Menge Leute aus der Schule da, und vor Publikum rumflippen ist nicht so meins. »Geh ruhig«, sage ich und stehe auf, damit Avi sich unter die Tanzenden mischen kann. »Ich steh nicht so drauf, vor anderen ins Schwitzen zu kommen.« Mir wäre es lieber, wenn er bei mir bliebe, aber ich will nicht so eine Freundin sein, die ihrem Freund vorschreibt, was er zu tun und zu lassen hat. Wenn es ihm nichts ausmacht, angegafft zu werden, bitte …

Avi steht auf und zieht mich mit sich mitten auf die Tanzfläche, die sich in ein Schlachtfeld aus tanzenden, zuckenden, schwitzenden Leibern verwandelt hat, die sich ganz der Musik hingeben. Nathan ist jetzt bei der zweiten Nummer. Sie handelt von schlechten Zeiten und noch schlechteren, die vor einem liegen. Sehr deprimierend, wenn ich das so sagen darf … und dabei bin ich sowieso schon Pessimist.

Avi beginnt zu tanzen. Die Musik ist so laut, dass ich das Gefühl habe, mein Hirn vibriert. Wir werden alle einen Hirnschaden davontragen und morgen taub aufwachen. Ich muss ständig Avi anschauen, wie männlich und cool er aussieht, während er die Faust durch die Luft wedelt und sich zu den stampfenden Bässen bewegt.

»Komm«, sagt er. »Tanz mit mir. Geh aus dir raus!«

Ich, aus mir rausgehen? Nicht meine Art. Außerdem, wenn ich springe, dann hoppeln meine Brüste auf und ab wie eine Boje mitten im Tsunami. Ich schüttle den Kopf. Ich will nicht unangenehm auffallen.

Obwohl – wenn ich mir die Leute um mich herum so anschaue, dann falle ich eigentlich eher dadurch unangenehm auf, dass ich als Einzige unbeweglich mitten in der Menge rumstehe. Sogar Miranda hopst mit und fuchtelt mit den Händen durch die Luft, als wolle sie jeden Moment abheben. Und sie hat auch große und schwere Brüste.

Ich wippe versuchsweise in den Knien auf und ab. Avi anzusehen, dessen Haare schweißnass sind, inspiriert mich. Ich mache einen zaghaften Hopser, zum Test, wie stoßrestistent meine Brüste in meinem neuem BH wirklich sind, denn sie sind kräftig darin festgeschnallt. Ich sehe nach unten und wage einen zweiten Testsprung. Die Hoppelhöhe ist akzeptabel. Doch als ich wieder aufblicke und merke, dass Avi mich mit gerunzelter Stirn mustert, beiße ich mir auf die Unterlippe.

»Alle werden mich anstarren …«, erkläre ich und versuche, die laute Musik zu überschreien.

Avi schüttelt frustriert den Kopf. »Lass dich fallen, Amy. Ich will dich mal ungehemmt sehen. Wenn jemand guckt, dann ist er nur neidisch, dass er nicht so viel Spaß hat wie wir.«

Ich sehe hinunter auf meine Brüste.

Er hebt die Augenbrauen. »Versuch’s doch mal«, sagt er. »Oder hast du Schiss?«

Ich nehme solche Herausforderungen nicht auf die leichte Schulter und das weiß er genau. Mit einem tiefen Atemzug und einer Entschlossenheit, über die ich mich selbst wundere, beginne ich, zur Musik herumzuhopsen und meinen Kopf so wild zu schütteln wie Köter nach einem Bad im Michigansee. Erstaunlicherweise fühlt es sich total gut an, sich gehen zu lassen.

Auf der Tanzfläche wird das Gedränge immer schlimmer und ich werde von der Masse der Tanzwütigen mal hierhin, mal dorthin geschoben und gezogen. Als ich zur Bühne hinaufschaue, ist Nathan bei seinem dritten Song … oder vielleicht auch schon beim vierten. Die gebrüllten Worte gehen mir durch Mark und Bein:

Fight the fight worth fighting

Fight it to the death

Fight the fight worth fighting

And give up all the rest

Als mir ihre Bedeutung ins Bewusstsein dringt, frage ich mich, wie viele Kämpfe ich schon ausgefochten habe, die es nicht wert waren, gekämpft zu werden. Nathan ist voll drin in seiner Performance. Sein Gesichtsausdruck ist wütend, als er den Songtext ins Mikrofon schreit. Er ist noch immer auf der Suche. Er muss herausfinden, wo er hingehört und warum seine Eltern ihn weggegeben haben.

Als er die Augen öffnet, erwischt er mich dabei, dass ich ihn beobachte, und zwinkert mir zu, ehe er sich vorbeugt und irgendein Mädchen in der ersten Reihe ansingt.

Bald danach hört die Musik auf und die Band macht eine Pause. Während sich meine Ohren noch daran gewöhnen, dass die irre Lautstärke plötzlich weg ist, gehe ich zurück zu unserem Platz und lasse mich auf einen freien Stuhl fallen.

»Du solltest viel öfter loslassen«, sagt Avi hinter mir.

»Ich hab doof ausgesehen«, erwidere ich, was es ziemlich auf den Punkt bringt. Ja, ich gebe es zu: Es hat mir Spaß gemacht, wie ein Idiot mit den Armen zu rudern – während meine Brüste rumgehoppelt sind – und sich nicht darum zu scheren, was jemand anders von mir denkt. Aber im Endeffekt habe ich doch blöd ausgesehen. Und im Endeffekt ist es mir eben nicht egal, was andere denken.

Avi beugt sich vor und küsst meinen Hals. »Du hast sexy ausgesehen, Amy.«

»Hört ihr beiden denn nie auf?«, meint Nathan, als er an unseren Tisch kommt.

Ich schiebe Nathan weg, aber er beachtet mich gar nicht, sondern starrt zum andern Ende der Bar. Ich folge seinem Blick.

»Bicky«, flüstert er schockiert.

Das Mädchen sieht in echt noch hübscher aus als auf dem Foto und ich hasse sie auf Anhieb. Sie hat kurze blonde Haare, die von einem Haarband zurückgehalten werden, und trägt ein bauchfreies Shirt, das ihre erstaunlichen Bauchmuskeln und ein Nabelpiercing sichtbar werden lässt. Ich könnte schwören, dass ihre Jeans nur aufgemalt ist, so eng liegt sie am Körper an. Wenn ich eine enge Jeans anziehe, muss ich mich aufs Bett legen, damit ich den Reißverschluss zubekomme. Bicky muss Öl oder Schmierfett genommen haben, um sich in Größe zero zu zwängen.

Sie marschiert auf Nathan zu und legt ihm die Arme um den Hals. »Willst du mich deinen Freunden nicht vorstellen?«, fragt sie mit einer hohen Singsang-Stimme.

Nathan steht immer noch unter Schock. Langsam fasst er sie um die Taille, doch er sieht sie an, als würde etwas nicht stimmen. »Was machst du hier? Bist du aus der Klinik abgehauen?«

»Darauf kannst du wetten.« Bicky lehnt sich an ihn und verliert fast das Gleichgewicht. »Ich habe gehört, dass du einen Auftritt hast. Und außerdem wollte ich das Mädchen kennenlernen, das du geküsst und für das du einen Song geschrieben hast.« Sie mustert mich von oben bis unten. »Das bist du, oder?«

Jetzt hat sie mich. Doch bevor ich etwas abstreiten kann, sagt Nathan: »Du bist betrunken, Bic.«

»Das bin ich, Baby«, säuselt sie und sieht zu ihm hoch. »Früher hast du dich immer gern mit mir volllaufen lassen, bis du zu so einem Langweiler mutiert bist.« Sie beäugt seine Stachelfrisur und die verwaschene Jeans. »Ich bin froh, dass du jetzt wieder normal geworden bist.«

Er packt sie an den Handgelenken und befreit sich aus ihrer Umarmung. »Was wir gemacht haben, war nicht normal, Bic. Es war verrückt und dumm.«

Bicky wird wütend. Auf ihren Wangen zeichnen sich rote Flecken ab, und ihre Augen verengen sich zu schmalen Schlitzen, was ihr das Aussehen eines bösen kleinen Kobolds verleiht. »Früher hast du verrückt und dumm gemocht, Nate. Oder nennst du dich immer noch Nathan? Ich blicke mit all deinen Persönlichkeiten nicht mehr durch. Und sie?«, sagt sie und zeigt auf mich.

Jetzt sind alle Blicke auf mich gerichtet und analysieren meine Beziehung zu Nathan, was nicht sonderlich hilfreich ist, wenn man bedenkt, dass ich gerade erst wieder mit Avi zusammengekommen bin.

»Wir sind nur Freunde«, rufe ich schnell und hake dann meinen Finger in Avis Gürtelschlaufe, um deutlich zu machen, dass wir ein Paar sind. Mit angehaltenem Atem linse ich unauffällig zu Avi hoch, wie er auf all das reagiert.

Avi lässt mich los. »Du musst dich nicht vor mir rechtfertigen, Amy. Ich warte an der Bar, bis ihr das geklärt habt.«

Meint er das ernst? Hat er keine Zweifel an meiner Freundschaft mit Nathan? Bereitet ihm das kein Kopfzerbrechen? »Sicher?«

»Ja.« Mit einem Lächeln nickt er mir beschwichtigend zu.

Ich sehe ihm nach, wie er den Rückzug antritt und sich seinen Weg durch die Menge bahnt.

Wes, der Junge aus der jüdischen Jugendgruppe, der mir geholfen hat, für Nathan einen Platz in der Band zu ergattern, kommt durch die Masse auf uns zu. »Nate rockt, Amy. Danke, dass du ihn neulich abends bei uns vorbeigeschickt hast. Wir überlegen, ob wir ihn nicht fest als Ersatzsänger bei Lickity Split aufnehmen.«

»Cool«, nicke ich, aber ich bin mit meinen Gedanken weder bei ihm noch bei Bicky. Und übrigens auch nicht bei Miranda, wo wir gerade dabei sind, obwohl sie sich äußerst angeregt mit einem Jungen unterhält, der mir aus der Jugendgruppe bekannt vorkommt.

»Nathan …«, sage ich. Ich will mich dafür entschuldigen, dass ich ihn geküsst habe. Und außerdem will ich ihm sagen, dass es mir leidtut, dass er sich bei seinem ersten Auftritt mit der Band mit seiner abgefuckten Freundin rumschlagen muss.

»Schon in Ordnung, Amy.«

»Ich kann bleiben und dir helfen, wenn du willst.«

»Du hast schon genug geholfen, du Miststück, meinst du nicht?«, lallt Bicky. Ich habe das Gefühl, dass sie gleich auf mich losgehen wird – also so richtig mit Fäusten und allem drum und dran. Während ich noch überlege, wer aus einem solchen Kampf wohl als Sieger hervorgehen würde, frage ich mich zugleich, ob sie in der Entziehungskur wohl Taekwondo unterrichten. Meine einzige Verwicklung in Handgreiflichkeiten war letzten Sommer in Israel – mit den Schafen im Moschaw. Und in der Disco in Israel, aber daran war nur der Ohrlecker schuld – eine lange Geschichte.

Bicky hält mir die weit geöffnete Hand hin. »Willst du was davon?«

»Nicht wirklich«, sage ich. Macht sie Witze?

Offensichtlich nicht. Meine Antwort bringt sie noch mehr in Rage, vor allem weil Nathan jetzt auch noch versucht, sie daran zu hindern, auf mich loszugehen. Ich komme mir vor wie in der Twilight Zone. Dieses Mädchen will mich allen Ernstes fertigmachen.

Weil ich nicht weiß, wie ich sonst reagieren soll, balle ich die Hände zu Fäusten und hebe sie vors Gesicht. Die Menge um mich herum weicht zurück. Ich glaube, sie skandieren »Zickenkrieg!«, bin mir aber nicht sicher. Was immer sie auch brüllen, es heizt meinen Wagemut an. Ich komme besser in die Rolle rein und beginne, hin und her zu zu tänzeln wie ein Boxer. Vielleicht ist Bicky so besoffen, dass sie beim ersten Treffer zu Boden geht. Oder ist das nur Wunschdenken?

Wenn ich mir einen Nagel abbrechen sollte, dann wird die blöde Kuh mir die Maniküre zahlen – das schwöre ich.

»Na, brauchst du was? Dann komm doch her!«, sage ich und spiele meine Rolle, um mich damit hochzupuschen. Ich kann mich da total reinsteigern, voll einen auf taff und gefährlich machen. Alle Welt zittert vor ihr. Hier kommt die beste weibliche Kampfmaschine unserer Zeit: Amy Nelson-Barak!

Plötzlich werde ich von hinten gepackt und weggezerrt.

»Was zum …?«

Ich trete mit den Füßen nach demjenigen, der mich festhält, und schlage auf den Arm ein, der mich wie im Schraubstock gepackt hat. Wer immer es auch ist – er trägt mich nach draußen und setzt mich auf dem Gehsteig ab. Ich wirble herum. Das hätte ich mir ja gleich denken können: Niemand ist so stark wie mein Freund, der sich eigentlich nicht in das Drama einmischen wollte, aber dann doch eine tragende Rolle gespielt hat.

»Sag. Mal. Was. Sollte. Das. Denn?«, fragt Avi und spricht jedes Wort so langsam aus, als wäre ich blöd im Kopf. Seine Augen durchbohren mich und seine Hände zittern. So habe ich Avi noch nie gesehen und das macht mir Angst.

»Es tut mir leid«, sage ich.

Er öffnet die Hände weit. »Ich lasse dich zwei Minuten allein und du führst dich auf wie eine Irre. Wie soll ich dich drei Jahre lang allein lassen, Amy? Ich kann dich nicht beschützen, wenn ich in Israel bin.«

Ich deute auf den Club. »Bicky hat angefangen.«

»Und du hast mitgemacht.«

Äh, ja. »Was hätte ich denn tun sollen? Kneifen?«

»Genau«, erwidert er ohne Zögern.

»Das passt nicht zu mir. Kneifst du, Avi? Nenn mir bitte ein Beispiel, wann du gekniffen hast«, sage ich und werde langsam sauer, da das Adrenalin durch meine Adern rauscht und ich Angst habe, weil Avis Hände noch immer zittern.

Keine Antwort.

Avi starrt fluchend auf seine Hände und steckt sie schnell in die Vordertaschen seiner Jeans. Er schluckt und sieht von mir weg. »Gehen wir«, sagt er.

Ich rühre mich keinen Millimeter von der Stelle, sondern stehe wie festgemauert auf dem Gehsteig vor dem Durty Nevin’s, weil ich endlich begriffen habe, warum Avi zittert.

Er hat seine Emotionen nicht mehr im Griff und daran ist er nicht gewöhnt.

Avi hat sich immer unter Kontrolle – seinen Körper, seinen Kopf. Sogar als ich ihn entführt habe, hatte er die ganze Zeit die Situation komplett unter Kontrolle. Mit Adrenalin kann er umgehen, mit Gefühlen nicht.

»Du hattest Angst, dass mir was passiert. Deshalb zitterst du«, platze ich heraus.

Er bleibt stehen. Mit dem Rücken zu mir. »Ich zittere nicht.«

»Dann zeig mir deine Hände.«

»Nein.«

»Avi, es ist okay, Angst zu haben.«

»Für dich vielleicht. Für mich nicht.«

Ich lege meine Hand auf seinen Arm. Ich weiß, dass der Schmerz über Verlust seines Bruders tief sitzt und sich noch genauso schlimm und frisch für ihn anfühlt wie damals an dem Tag, als es passiert ist. Es hat nichts mit mir und dem Streit zu tun. Avi kann Michas Tod nicht verwinden, weigert sich aber zugleich, seine Trauer zuzulassen. »Du bist erst achtzehn. Und ich sage dir das nicht gern, aber du bist auch nur ein Mensch.«

»Ich halte es nicht aus, wenn dir etwas passiert«, sagt er, und seine Stimme klingt gepresst, obwohl ich spüre, dass er um Beherrschung ringt. »Ich bin nach Amerika gekommen, um mir zu beweisen, dass ich dich nicht brauche, dass du mir doch nicht so wichtig bist, wie ich es tief in mir drin die ganze Zeit gewusst habe. Ich habe mich getäuscht.«

»Du hast dich zwölf Stunden ins Flugzeug gehockt, nur um mit mir Schluss zu machen?«, sage ich völlig durcheinander und gekränkt. Also echt, um die halbe Welt zu fliegen, um zu beweisen, dass ich es nicht wert bin. »Das ist das Dümmste, Albernste, Blödeste, was ich je gehört habe.« Ich laufe auf die Straße, weil ich Abstand brauche.

»Da kommt ein Auto«, sagt er.

Ich sehe mich um, und tatsächlich biegt ein Honda Pilot um die Ecke und steuert genau auf die Stelle zu, wo ich stehe. »Willst du mich nicht retten?«, rufe ich.

»Doch, natürlich.«

Mit ein paar schnellen Schritten ist er am Randstein und will gerade auf die Straße, als ich sage: »Wenn du nur einen Schritt näher kommst, dann ist es aus mit uns. Das ist mein Ernst.«

»Das Auto wird dich überfahren«, sagt er nervös, und seine Augen lodern vor innerer Anspannung. Dennoch erstarrt er mitten in der Bewegung und bleibt am Bordstein stehen.

»Die sehen mich«, versichere ich ihm.

Avi legt verunsichert den Kopf zur Seite und nimmt die Hände aus den Hosentaschen. Er versucht, entspannt zu wirken, doch ich kann ihm ansehen, dass er bereit ist, jede Sekunde loszuspringen.

»Die halten an«, wiederhole ich in dem Versuch, ihm zu beweisen, dass ich schon klarkomme, egal, ob er nun hier ist, um mich zu beschützen oder nicht. Er wird nicht immer da sein, um Superman zu spielen. Genauso wenig wie er da war, um seinen Bruder zu retten, als dieser Bombenattentäter beschlossen hat, unschuldige Israelis mit in den Tod zu reißen. Mein Freund ist auch nur ein Mensch und muss kapieren, dass er nicht immer alles unter Kontrolle haben kann.

Avi sieht von dem Wagen, der immer näher kommt, zu mir. Bis hierher kann ich den innerlichen Kampf spüren, den er mit sich ausficht. »Vielleicht ist es ihnen egal«, ruft er mir verzweifelt zu. »Vielleicht können sie dich in der Dunkelheit nicht erkennen. Vielleicht ist der Fahrer angetrunken und –«

»Vielleicht passiert mir auch nichts, Avi.«

»Und wenn doch? Wenn du stirbst?«

Ich strecke die Hand vor. Als das Auto bei mir ankommt, bremst es ab und hält an. »Ey, Chica, willst du nicht mal aus dem Weg gehen?«, schreit ein Kerl aus dem Fenster.

»Jeder muss mal sterben.«

»Machst du mir jetzt einen Vorwurf daraus, dass ich dich beschützen will, Amy? Und jetzt komm bitte endlich von der Fahrbahn runter.«

Der Mann im Wagen fängt an zu hupen, richtig laut, was meinem überreizten Trommelfell wehtut.

»Ich versuche gerade, meinem Freund eine Lektion zu erteilen«, schreie ich den Fahrer an. »Oder haben Sie was dagegen?«

»Ja«, brüllt er zurück. »Bring ihm deine Lektion am Lower Wacker Drive bei, wo die ganzen anderen Verrückten rumhängen.«

»Für aggressives Verhalten im Straßenverkehr kriegt man in Chicago einen Strafzettel, wissen Sie«, sage ich und verdrehe die Augen.

»Amy … in zehn Sekunden komme ich dich holen.«

»Wenn man unachtsam eine Straße überquert, kriegt man in Chicago auch einen Strafzettel«, schreit der Typ, während er wieder und wieder auf die Hupe drückt. Es gibt mir was, dass er nicht an mir vorbeikommt, weil die Straße nicht breit genug ist.

»Du hast noch fünf Sekunden, um deinen tachat hier rüber zu bewegen.«

»Liebst du mich, Avi?«

»Ja. Noch vier Sekunden.«

»Vertraust du mir?«

»Ja. Zwei Sekunden.«

»Mann, wenn du mir deine durchgeknallte Freundin nicht aus dem Weg schaffst, dann mach ich’s selbst.«

»Amy«, sagt Avi, presst die Augen zusammen und öffnet sie wieder. Die zwei Sekunden sind um. In seinen Augen, die ganz glasig von ungeweinten Tränen sind, liegt ein flehender Ausdruck. »Bvakasha. Bitte.«

Gut, ich gebe nach. Weil ich bewiesen habe, dass mir schon nichts passiert, und Avi bewiesen hat, dass er mir vertrauen kann. Ich gehe auf ihn zu und sehe ihn dabei die ganze Zeit an. Das Auto rast mit quietschenden Reifen davon. »Siehst du. Ich hab’s überlebt.«

Er nimmt mich in die Arme und drückt mich ganz fest an sich.

»Du zitterst nicht mehr«, stelle ich fest.

»Ich bin zu wütend auf dich, um Angst zu haben.«

»Wütend? Hör mal, es wird Zeit, dass du endlich von dem Trip runterkommst, ein Übermensch sein zu wollen. Shit happens. So ist das Leben nun mal, okay? Du fliegst morgen weg, und keiner weiß, was geschieht. Soll ich nur noch in meinem Zimmer rumhocken, damit mir nichts zustößt? Nein. Sollst du in deiner Armee-Kaserne rumhocken und deinem Kommandanten erzählen, dass du Israel nicht schützen kannst, weil deine Freundin schlecht draufkommt, wenn du auch nur einen Kratzer auf deinem perfekten Body oder im Gesicht davonträgst? Nein.«

»Hör auf zu reden, damit ich dich küssen kann.«

»Du kannst mich mit Küssen nicht zum Schweigen bringen.«

»Wollen wir wetten?«, sagt er und lächelt mit seinen perfekten weißen Zähnen, während er seine perfekten Hände um mich legt und seine perfekten vollen Lippen auf meine herabsenkt und mir beweist, dass er das sehr wohl kann.

»Gehen wir nach Hause«, sagt er, als wir kurz Luft holen.

Ich klammere mich an seinen Bizeps, weil mir von seinen Küssen noch immer schwindelig wird. »Dort ist mein Aba. Wenn du mich auch nur küsst, wird er dich vermutlich erst kaltmachen und danach Fragen stellen.«

Doch in der Wohnung fehlt von Dad jede Spur. Ich checke meine Mailbox und finde eine Nachricht von ihm. Er sagt, dass er wegen eines Notfall-Meetings sehr spät heimkommen wird. Dann sagt er noch, dass Avi unbedingt auch diese Nachricht abhören soll, und der Rest ist alles auf Hebräisch.

Ich verdrehe die Augen. »Schon wieder ein Sex-Vortrag?«

»Oh ja. Ganz groß.«

Ich schalte die Mailbox aus, ehe wir sie ganz abgehört haben, und grinse Avi an. »Was überlegst du?«

»In welchen Räumen dein Dad wohl aus strategischen Gründen versteckte Kameras platziert hat.«

Ich lache. »Das ist Quatsch. Mein Dad hat in dieser Wohnung keine versteckten Kameras installiert.«

»Es klang ziemlich überzeugend, aber ich habe eine Idee.«

Wir machen uns bettfertig wie ein Ehepaar, bis auf die Tatsache, dass wir nur zwei arglose Jugendliche sind, die unglaublich ineinander verliebt sind. Avi schläft noch immer auf dem Wohnzimmersofa, doch diesmal krieche ich zu ihm unter die Decke und nutze es aus, dass mein überbeschützender Vater nicht zu Hause ist und jede unserer Bewegungen überwacht.

»Das gefällt mir«, sage ich. »Und was ist jetzt deine Idee?«

Avi zieht die Decke über unsere Köpfe, sodass wir in völlige Dunkelheit gehüllt sind. Mit den Fingerspitzen berühre ich seine Stoppeln. »Das ist deine tolle Idee?«

»Ja. Unter die Decke zu kriechen oder in den Schrank auf dem Gang.«

»Alles sababa«, sage ich, und Avi lacht.

»Ja, ist es.«

Ich kann euch berichten, dass »unter der Decke« eine hervorragende Wahl war und SEHR sababa, obwohl ich hundertprozentig sicher bin, dass es in unserer Wohnung keine Überwachungskameras gibt, die jede Bewegung aufzeichnen. Das weiß ich, weil diese Kameras Avi und mich in ein paar äußerst kompromittierenden Situationen erwischt hätten – trotz unseres Versuches, immer schön unter der Decke zu bleiben. Als mein Dad eine Stunde später nach Hause kam, bin ich jedenfalls schnell wie der Blitz in meinem Zimmer verschwunden und habe vorgegeben, tief und fest zu schlafen. Und es kam kein Donnerwetter hinterher.

Oh, keine Sorge … ich bin noch immer eine siebzehnjährige Jungfrau. Ich kenne mich nur … na ja … etwas besser aus mit gewissen Dingen. (Dingen, auf die ich nun noch neugieriger bin als zuvor.)

Am Morgen hat Tarik Avi abgeholt und wir sind zusammen zum Flughafen gefahren. Ich habe mir zwar Mühe gegeben, mich zusammenzureißen, musste aber trotzdem die ganze Zeit weinen. Mit unserem Abschiedskuss haben wir uns mehr versprochen als beim letzten Mal, obwohl uns beiden klar ist, dass wir weitermachen und unser Leben leben müssen. Nichts fragen, nichts sagen. Wir werden immer nur einen Tag nach dem anderen angehen und schauen, was passiert. Hoffentlich wird es nächsten Sommer, wenn ich nach Israel fliege, genauso wie letzte Nacht … na ja, ohne den Streit vielleicht.

Ganz bewusst habe ich Tarik nicht auf Jessica angesprochen, obwohl Tarik und ich jetzt gerade im Perk Me Up! sitzen und Jess jederzeit hereinspazieren könnte.

Marla, die weiß, dass ich völlig mit den Nerven runter bin, serviert mir eine heiße Schokolade mit einer dermaßen riesigen Extraportion Schlagsahne, dass sie über den Rand läuft. Meint ihr, meine blutunterlaufenen, wässrigen Augen haben mich verraten? Marla nimmt mich in den Arm und drückt mich an sich, wie meine Mom es machen würde, wenn sie gerade da wäre.

Auf einmal kommt mir eine Idee. Ich fasse es nicht, dass mir das nicht schon eher eingefallen ist. »Marla, wie findest du eigentlich meinen Dad? Also, wenn er öfter lächeln und sich einen guten Haarschnitt zulegen würde?«

Marla lacht und geht zurück zur Kasse, ohne auf meine Frage einzugehen. Aber ich glaube, sie ist ein bisschen rot geworden. Mein Dad liebt ihren Kaffee, er trinkt ihn nie woanders. Und wäre es nicht möglich, dass er mir diesen Job besorgt hat, damit er sie öfter sehen kann und eine Ausrede hat, ständig im Perk Me Up! aufzutauchen? Hmm …

Die Tür des Perk Me Up! geht auf, und ratet mal, wer reinkommt … japp, Jess. Zusammen mit Miranda und einem traurigen Nathan. Armer Nathan. Arme Jess.

Zeit, dass ich damit aufhöre, mein eigenes Leben zu verpfuschen, und mich um andere kümmere. Ich kann das. Es steht nirgends geschrieben, dass ich immer nur Desaster Girl sein muss. Ich kann auch ein tipptopp Leben führen und andere dabei unterstützen, ihr eigenes Leben zu entmurksen. Ab sofort wird sich Amy Nelson-Barak nicht mehr in Schwierigkeiten bringen.

Mein Handy klingelt. Es ist mein Dad. »Hey, Aba, was gibt’s?«

»Was es gibt? Kannst du mir bitte mal erklären, was Handschellen auf dem Rücksitz meines Autos verloren haben?«

Ups. Alles ist so null sababa.