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»Wenn eine Frau niederkommt und einen Knaben gebiert, ist sie sieben Tage unrein …

Wenn sie ein Mädchen gebiert, ist sie zwei Wochen unrein.« (Levitikus 12,2-5)

Hmm … heißt das, dass Jungen irgendwie sauberer sein sollen als Mädchen?

Hat Gott in letzter Zeit mal einen Blick in die Jungstoilette der Chicago Academy geworfen?

»Weißt du, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird?«

Es ist Sonntag und ich bin draußen in den Vororten bei meiner Mom. Wir sitzen im Auto und sind auf dem Weg zu einem Laden mit Umstandsmode. Sie hat sich so auf diesen kleinen Ausflug gefreut, dass ich nicht Nein sagen konnte.

Meine Mom streichelt mit der Hand über die Beule, die sich aus ihrem Bauch wölbt, wie eine Schwangere in einem schlechten Film. »Wir wollen uns überraschen lassen.«

»Und wenn es Zwillinge werden?«, frage ich.

Sie lächelt mich an und ein Netz feiner Fältchen kräuselt sich um ihre grünen Augen. Ist sie nicht zu alt für ein Baby? »Man hat nur einen Herzschlag gehört. Keine zwei.«

Der Termin ist erst in sechs Monaten und der Bauch meiner Mom sieht bereits wie eine kleine Bowlingkugel aus. Nicht zu fassen, dass mir das nicht schon früher aufgefallen ist. Vielleicht hat sie versucht, es unter diesen Ponchos zu verbergen, auf die sie in letzter Zeit so abfährt. Als wir vor einem Laden namens Die moderne Mutter anhalten, komme ich mir komisch vor. Ich bin siebzehn. Ich könnte selbst Mutter werden.

»Marc und ich wünschen uns beide, dass du an dieser Schwangerschaft teilhast«, sagt sie. »Das ist uns wichtig.«

Meine Mom ist keine Jüdin, aber diese jüdische Schlechtes-Gewissen-Nummer hat sie eins a drauf.

Ich setze ein extrabreites Lächeln auf. Wahrscheinlich ist es absolut übertrieben, aber ich möchte, dass meine Mom glücklich ist. »Ich freue mich so für euch«, sage ich und strahle sie an. »Und ich wünsche mir ebenfalls, zu dieser neuen Familie dazugehören!«

»Amy, ich bin deine Mutter. Ich kann in dir lesen wie in einem Buch.«

Wir sitzen noch immer im Wagen. Innerhalb von Sekunden wandelt sich die Euphorie auf ihrem Gesicht zu Traurigkeit. Oh nein. Ich muss schnell was sagen, ehe sie anfängt zu weinen. »Mom, ich freue mich wirklich für dich und Marc. Es fühlt sich für mich nur ein bisschen seltsam an. Erst die Hochzeit, jetzt das Baby. Daran muss ich mich erst gewöhnen.«

Mir kommt wieder in den Sinn, wie mich meine Mom zu meiner ersten Ballettstunde gebracht hat. Ich hatte gebettelt, dass sie mich in Miss Gerties Tanzstudio anmeldet, wo Jessica bereits Ballettunterricht hatte. Meine Mom hat den happigen Beitrag gezahlt, mir Schläppchen und ein süßes Trikot gekauft und los ging’s. Es gab nur ein Problem: Ich habe mich geweigert, das Studio zu betreten. Aus unerfindlichen Gründen (die ich nicht mal selbst kapiert habe) habe ich im Auto in einer Tour geheult, meine Mom musste mich in die Tanzschule zerren, während ich schrie wie am Spieß und um mich trat.

Sie hat mich gezwungen hinzugehen.

Da saß ich dann die ganze Zeit in einer Ecke des Studios, habe auf Vergeltung gesonnen und mich geweigert, auch nur einen meiner rosa Balletschläppchen-Füße zu rühren. So ging das Woche für Woche, bis die Kostüme für die Aufführung kamen. Mein Kurs hatte einen Tanz auf das Lied »Die fleißigen Summsebienchen« einstudiert. Wir waren kleine Bienen und trugen schwarze federnde Glitzerfühler und Trikots, die mit gelben und schwarzen Glitzerpailletten besetzt waren. Was soll ich sagen – bei so viel Glitzer wird aus jedem noch so unwilligen Kind im Handumdrehen eine Ballerina, die es gar nicht erwarten kann, die Bühne zu betreten. An dem Tag, als diese Kostüme hereingetragen wurden, verließ ich meinen Schmollwinkel und tanzte und summte umher, als müsse ich die verlorene Zeit hereinholen.

Eines haben mich diese Ballettstunden gelehrt: Meine Mom hat eine Engelsgeduld. Sie sitzt alles aus, bis ich klein beigebe.

»Ich weiß, dass das nicht leicht für dich ist, Amy. So viele Veränderungen in so kurzer Zeit.« Sie sieht zu dem Ladenschild von Die moderne Mutter hinauf. »Sollen wir lieber wieder heimfahren? Oder BHs für dich kaufen gehen? Ich kann das auch irgendwann anders machen.«

»Nein, jetzt sind wir schon da, dann können wir dir auch ein paar Klamotten raussuchen, die das Baby nicht strangulieren.« Außerdem will ich nicht mit meiner Mom BHs kaufen. Sie sucht mir am Ende noch solche riesigen krassen weißen Teile aus, die aussehen wie eine Tischdecke mit Trägern dran.

Mehr Zuspruch bedarf es nicht. Mom walzt so schnell aus dem Auto, als würde jemand sie an ihrem Hintern, der übrigens ebenfalls gut zugelegt hat, anschieben. Ohne Scheiß, meine Mom hatte eine Figur, auf die jede Aerobiclehrerin neidisch gewesen wäre. Und jetzt … na ja, sagen wir einfach, sie hat sich stark verändert.

Ich folge ihr in das Geschäft und hoffe im Stillen, dass die nicht mich für die Kundin halten.

»Kann ich den Damen behilflich sein?«, fragt die kleine Verkäuferin eifrig und sieht erst meine Mom, dann mich und dann wieder meine Mom an.

Mom legt wieder die Hand auf ihren Bauch. »Ich bin im dritten Monat und die meisten Sachen passen mir schon nicht mehr richtig.«

Die Dame klatscht in die Hände. »Suchen wir Freizeit- oder Geschäftskleidung … oder brauchen wir etwas für einen besonderen Anlass?«

Ich würde das Wort »wir« gern aus dem Vokabular der Frau streichen.

»Für zu Hause. Und etwas zum Ausgehen.«

Während die Dame meiner Mutter alle möglichen Sachen zeigt, trotte ich schweigend hinterher. Um ganz ehrlich zu sein – manche von den Klamotten sind gar nicht mal so übel. Es dauert nicht lang und meine Mom probiert diverse Sachen an. Sie besteht darauf, dass ich mit in die Umkleidekabine komme.

Auf der kleinen Bank darin entdecke ich einen seltsamen Gegenstand. Er sieht aus wie ein cremefarbener Beutel mit Bändern dran. »Ich glaube, das hat jemand liegen lassen«, sage ich zu der Verkäuferin und zeige auf das merkwürdige Ding.

»Nein, das liegt bei uns in jeder Kabine aus. Man befestigt es am Bauch, damit man sich vorstellen kann, wie man im fünften oder sechsten Monat aussieht.«

Ich kann mein Kichern nicht unterdrücken.

»Psst!«, flüstert meine Mom mir zu und schließt die Tür der Umkleide.

»Darf ich das mal anprobieren?«, frage ich.

Ehe meine Mom mich aufhalten kann, schiebe ich mein Shirt hoch, binde das Ding um meine Taille und ziehe mein Shirt darüber.

»So will ich meine siebzehnjährige Tochter eigentlich gar nicht sehen«, sagt meine Mutter und beäugt mich kritisch, wie ich mir wie sie den Bauch streichle.

Wie es wohl ist, schwanger zu sein? Ein Baby im Bauch zu haben, das wächst und sich entwickelt, bis es selbst überlebensfähig ist? Ich drehe mich ins Profil und betrachte mich im Spiegel. Will ich Kinder? Ich meine, mir tun meine Eltern schon leid, dass sie sich mit mir rumschlagen müssen. Manchmal denke ich, dass ich nicht normal bin, dass es höchste Eisenbahn ist, dass mich ein Psychotherapeut wieder einnordet. Und manchmal kommt es mir so vor, als wären alle anderen durchgeknallte Matsch-Potatoes und ich die einzig Vernünftige.

Vielleicht setzt Mom darauf, dass das Baby ein ganz normales Kind wird. Eins, das durchknall-resistent ist.

Ich starre auf ihren Bauch, als sie einen schwarz-weißen Hosenanzug anprobiert, der vorne an der Hose einen Stretch-Einsatz hat. Langsam wird mir klar, was das für sie bedeuten muss. Sie wird nicht nur dick, in ihr wächst ein neuer Menschen heran, für den sie die Verantwortung trägt.

»Du kannst meinen Bauch mal anfassen, wenn du magst«, sagt sie.

Ich will schon, aber ich tue es nicht. Ich erinnere mich daran, wie ich früher immer meinen Kopf auf ihren Bauch gelegt und gelacht habe, wenn er gurgelnde Geräusche von sich gegeben hat. Jetzt ist da drin ein Baby …

Sie muss mein Zögern wohl spüren, denn sie nimmt meine Hand und legt sie auf ihren gewölbten Bauch. »Merkst du, wie es sich bewegt?«, frage ich.

»Noch nicht.«

Ich kann den Blick nicht von meiner Hand auf ihrem Bauch abwenden, die jetzt ganz nah an meinem Halbbruder oder meiner Halbschwester dran ist. Auch wenn es mir seltsam erscheint, dass meine Mom noch ein Baby bekommt, verspüre ich auf einmal unbekannte Beschützerinstinkte. Ich ziehe die Hand weg. Das wird mir hier alles ein bisschen zu unheimlich.

Mom probiert ein großes weißes Shirt mit einem Pfeil darauf an, der nach unten zeigt. Oben drüber steht Zukünftiger Arzt. »Was meinst du?«, fragt sie und breitet die Arme aus, damit ich es gut sehen kann.

»Ich finde es spaßbefreit.«

»Spaßbefreit?«, wiederholt sie und runzelt verwirrt die Stirn. »Ein neues Wort, das ich noch nicht kenne?«

»Du weißt schon … wie albern, uncool, unlustig.«

»Ist dieses hier auch witzbefreit?«

Ich sage ihr nicht, dass es spaßbefreit heißt und nicht witzbefreit.

Jetzt hält sie eins hoch, auf dem Fast fertig aufgedruckt ist.

»Du kannst es schon nehmen, Mom, aber ich werde mich nicht mit dir in der Öffentlichkeit zeigen, wenn du es trägst. Haben sie keins, auf dem Peinliche Mutter steht?

»Das muss ich im Regal übersehen haben«, zieht sie mich auf.

Am Ende entscheidet sie sich für einen Hosenanzug, ein Kleid, zwei Jeans und drei T-Shirts ohne Aufdruck. Echt, ich schwöre: Ehe meine Mom geheiratet und ihren Job aufgegeben hat, war sie immer gekleidet wie die Models aus der Vogue und war stets auf dem neuesten Stand. Alles, was ich über Mode weiß, habe ich von ihr gelernt. Jetzt hat meine Mom keinen Schimmer mehr, was man trägt. Hoffentlich ändert sich das wieder, wenn das Baby auf der Welt ist.

»Bleibst du zum Abendessen?«, fragt sie auf dem Heimweg.

»Tut mir leid, aber ich habe keine Zeit. Ich gehe mit Jessica zu irgendeiner jüdischen Jugendgruppe.«

»Bist du dir sicher, dass das mit dem Judentum das Richtige für dich ist, Amy? Marc und ich haben uns vor Kurzem darüber unterhalten, und wir können dein plötzliches Interesse, einer Religionsgemeinschaft beizutreten, nicht nachvollziehen.«

Mom versteht nicht, dass mich mein Israel-Aufenthalt letzten Sommer verändert hat. Es ist, als hätte ich ein fehlendes Stück von mir gefunden. Es ist nur ein kleines Puzzleteilchen, aber immer wenn ich so eins entdecke, habe ich das Gefühl, mir näherzukommen, mich selbst zu finden. »Das ist nicht plötzlich, Mom.«

»Was sagt dein Vater dazu? Soweit ich weiß, ist er selbst nicht sonderlich religiös.«

Ich sehe aus dem Fenster und versuche mich zusammenzureißen, damit ich keinen Streit anfange. Den jüdischen Glauben anzunehmen, ist mir wirklich wichtig. Es hat nichts mit meinem Dad oder meiner Mom zu tun, sondern ausschließlich und allein mit mir. Zu argumentieren und ihr meine Sichtweise zu erklären, damit sie mich besser versteht, ist sinnlos. Meine Mom hat ihre eigene Meinung über institutionalisierte Religion und die teile ich nun mal nicht.

Als Safta mir einen Anhänger in Form eines Davidsterns geschenkt hat, überkam mich auf einmal ein Gefühl, das mir ganz und gar neu war. Ein Zusammengehörigkeitsgefühl mit anderen Menschen, das ich vorher gar nicht gekannt hatte. Und als ich den Berg von Masada bestiegen habe, hat mich die Erkenntnis mit voller Wucht getroffen: Mein Dad ist Jude, also bin ich auch zur Hälfte Jüdin. Diese Tatsache zu ignorieren, kam mir auf einmal vor, als würde ich einen Teil meiner selbst verleugnen. Ich gebe zu, im Judentum unterwiesen zu werden und die hebräische Bibel zu lesen (oder vielmehr die Thora und etwas über all die Propheten zu lernen), ist kein Pappenstiel. Und um ehrlich zu sein, bin ich nicht immer komplett damit einverstanden, was in der Thora steht, und verstehe auch nicht alles.

Rabbi Glassman ermutigt uns, darüber zu diskutieren, sogar dazu, anderer Meinung zu sein. Das ist für mich perfekt, weil ich von Natur aus gern dagegen bin. Ich hinterfrage alles, zum Beispiel warum Abraham ernsthaft vorhatte, seinen Sohn zu töten. Und es ist auch offensichtlich, dass die Bibel von Männern geschrieben wurde (sie ist ein wenig männerzentriert, wenn ich so sagen darf). Aber sind die Geschichten wirklich wahr oder sind sie erfunden?

»Dad unterstützt mich.«

»Aber wenn dein Vater Jude ist, können sie dich dann nicht auch einfach so als Jüdin anerkennen? Mir kommt es albern vor, dass du erst monatelang unterwiesen werden musst –«

»Keiner zwingt mich dazu, Mom.« Sie kapiert es einfach nicht. »Ich muss nicht konvertieren, ich will konvertieren. Können wir es bitte dabei belassen?«

Mom zuckt die Achseln. »Ist ja schon gut. Ich möchte doch nur, dass du glücklich bist.«

»Dann hör auf, mich mit dem Thema Religion zu nerven. Nerv mich lieber mit was anderem.«

Mom sieht mich von der Seite an und lächelt. Ups, das hätte ich nicht sagen sollen. Denn … ihr habt es erraten, sie fährt mit mir zu Sally’s Dessous Shop am anderen Ende der Stadt, um meine Oberweite vermessen zu lassen.

Nach dem Ausflug in die Welt der Wäsche setzt sie mich bei Dads Wohnung ab. Ich gebe ihr zum Abschied ein Küsschen, steige aus und verberge die pinkfarbene Girly-Tüte, so gut es geht, unter dem Arm. Es ist eiskalt geworden, und ich ziehe meinen Mantel enger um mich, als ich plötzlich Nathan entdecke, der mit einem Strauß Tulpen in der Hand auf dem Gehsteig steht.

Während meine Mom davonfährt, ruht mein Blick noch immer auf ihm. Als der Bus nach Evanston an der Ecke hält, steigt Nathan ein, ohne sich umzusehen.

Hmm.

Ob er sich wohl mit Binky trifft … ich meine Bicky. Nicht, dass ich ihm tatsächlich abnehmen würde, dass er mit dem Mädchen auf dem Foto in seinem Zimmer zusammen ist.

Ich werde einfach nicht schlau aus ihm. Wieso wohnt er bei seiner Tante und seinem Onkel? Wenn es nicht übergangsweise ist, warum lebt er dann noch immer aus dem Koffer? Wenn es doch übergangsweise ist, warum geht er dann in meine Schule? Das Ganze ergibt irgendwie keinen Sinn.

Mit einem Kopfschütteln verbanne ich Nathan aus meinen Gedanken und beeile mich, in die Wohnung zu kommen, noch ehe mein Dad nach Hause kommt. Hastig checke ich seinen noch immer bestehenden JPSN-Account. Das einzige Problem ist, dass er mich umbringt, wenn ich noch mal ein Treffen für ihn organisiere. Ich muss mir was anderes einfallen lassen, kreativ werden.

Ich hab mal was von Speed-Dating gehört. Da hat man an einem Abend gleich mehrere Dates hintereinander. Hmm … vielleicht kann ich Marla beschwatzen, dass sie so was auch mal im Perk Me Up! veranstaltet. Also, ich muss schon sagen, ich habe echt super Ideen.

Mein Dad kommt zur Tür herein, als ich mich gerade aus seinem PJSN-Account ausgeloggt habe. Er will wissen, wie ich ohne ihn zurechtgekommen bin. Ich frage, wie seine Reise gelaufen ist. Wir essen zusammen zu Abend und spielen dabei shesh besh, das ist der hebräische Name von Backgammon – das mögen wir beide gern. Auch wenn wir uns ziemlich mies bekriegen.

Nach dem Essen klingelt das Telefon. Noch ehe ich einen Blick aufs Display werfe, weiß ich schon, dass es Jessica ist. »Ich brauche den Rat meiner besten Freundin«, sagt sie.

»Ich auch. Was soll ich heute Abend anziehen?« Ich war nämlich noch nie bei einer Jugendgruppe.

»Ich dachte, du wolltest deine Fuego-Jeans und das violett-graue Oberteil tragen, das du letzte Woche bei Saks gekauft hast.«

Ich lasse mich frustriert auf mein Bett fallen und streichle Köter, der gerade auf meinen Bauch gehüpft ist und mir fast die Luft abquetscht. »Wollte ich auch, aber jetzt finde ich es doch nicht mehr so toll. Was hältst du von meinem langen gemusterten Rock und einem einfachen weißen Shirt?«

Am anderen Ende der Leitung erklingt ein lautes Schnauben. »Amy, du musst dich nicht irgendwie religiös für die Gruppe kleiden.«

»Komm doch bitte her und hilf mir, was Passendes für heute Abend aussuchen, ja? Ich schminke dich dafür und höre mir dabei deine Probleme mit Mitch an.«

Jessica findet es immer ganz toll, wenn ich ihr Make-up mache. Sie kommt garantiert. Ich weiß, dass sie eine Schwäche für die zwei Ms hat – Mitch und Make-up. Dafür unterzieht sie sich sogar der Tortur, auf den schrecklich überfüllten Straßen Chicagos einen Parkplatz zu suchen.

»Ähm … ich hole erst noch Miranda Cohen ab«, sagt Jess.

»Miranda Cohen?«, frage ich. »Das Mädchen, das hyperventiliert hat, als wir letztes Jahr in Sport eine Meile gelaufen sind?« Arme Miranda. Die Diät-Cola, die sie immer trinkt, macht auch nicht den ganzen Mist wett, den sie sich sonst so reinzieht.

»Miranda ist in der Jugendgruppe.«

Und? Man kann nicht behaupten, dass ich Mirandas beste Freundin bin, aber immer noch besser als Roxanne. »Jess, ich brauch echt deine Hilfe. Bring Miranda einfach mit.«

»Ich will aber nicht vor ihr über Mitch sprechen, Amy.«

»Okay, dann bekommst du meinen Rat an der Freundes-Front jetzt gleich: Gib Mitch ein bisschen Freiraum, damit er dir hinterherrennt. Mach dich mal eine Weile rar. Er braucht Herausforderungen, Jess, vielleicht machst du es ihm zu leicht.«

»Aber –«

»Kein Aber. Hör auf mich. Ich kenn mich aus. Ich war schließlich auch mal mit ihm zusammen, wie du weißt.«

»Ja, ich weiß.«

»Also, kommst du jetzt her oder wie oder was?«

»Ja doch. Aber sei bitte nett zu Miranda, sie ist sensibel.«

»Ich bin immer nett«, sage ich und lege auf.

Ich schlüpfe in einen Morgenmantel und warte auf Jessica und Miranda. Zehn Minuten später klingelt der Portier an, um meine Bestätigung einzuholen, dass meine Freundinnen nach oben dürfen. Als ich die Tür öffne, steht Miranda hinter Jess und sieht zu Boden. Miranda trägt eine schwarze Stretchhose und einen riesigen roten Pullover, der ihr bis zu den Knien reicht, als wolle sie ihren Körper darin verstecken.

»Hi, Miranda«, sage ich.

Sie bringt ein leises »Hi« zustande und folgt Jess in die Wohnung.

Ich gehe voran zu meinem Zimmer, öffne die Tür, und schon stürzt sich Köter, der darin eingesperrt war, geradewegs auf Miranda – oder vielmehr ihren Schritt.

»Lass sie in Ruhe«, sage ich zu Köter, der laut schnüffelt und dann aus dem Zimmer geht.

Ich mache die Tür zu meinem Kleiderschrank auf. »Also, was soll ich anziehen?«

Ich gestehe, dass ich mit einer Mom gesegnet bin, die für die Everyone’s a Star at Starbucks-Kampagne verantwortlich zeichnet. Keine Lästereien bitte. Vermutlich ist mein ganzer Kleiderschrank mit dem Geld für Jingles und Slogans finanziert, die meine Mom sich ausgedacht hat.

»Sind das echte Jimmy-Choo-Schuhe?«, fragt Miranda mit großen Augen.

Meine Mom hat sie mir letztes Jahr von einer Fashion Show in New York mitgebracht. »Ja, willst du sie mal anprobieren?«

Miranda macht einen Schritt zurück. »Oh nein. Ich bin so schwer, da bricht am Ende noch der Absatz ab.«

»Sei nicht albern«, sage ich, nehme die Schuhe und drücke sie ihr in die Hand. Es sind Slingback-Pumps. Die passen praktisch immer. »Du musst nur achtgeben, dass mein Hund sie nicht ansabbert.«

Miranda zögert, dann streckt sie die Arme aus und nimmt die Schuhe entgegen.

Ich werfe Jess einen Blick zu, als Miranda sich auf die Bettkannte setzt, ihre Turnschuhe aus- und die Jimmy Choos anzieht. Jess stöbert in meinem Schrank herum, zieht diverse Sachen heraus und hängt sie über ihren Arm. »Ich suche ein paar Alternativ-Outfits raus, zwischen denen du wählen kannst.«

»Danke, Mami«, sage ich ironisch. Jessica verdreht die Augen, während sie die Klamotten rauslegt, die ich bei meinem letzten Date mit Avi getragen habe. Ich weiß, es klingt blöd, aber die sind mir heilig. Die Erinnerungen an diese Nacht haften noch an diesem Rock und diesem Top. Das ziehe ich ganz bestimmt nicht an. »Nö. Das nächste.«

Sie hält mir eine Kombination aus einer zerrissenen Jeans und einem eng anliegenden Pullover hin. »Nö. Zu alternativ.«

Ein Klopfen an der Tür unterbricht uns. »Amy, ich bin’s.« Mein Dad.

Als ich »Herein« sage, lässt er den Blick über die Klamotten wandern, die über den Boden verstreut sind. Seine Augen bleiben an Miranda hängen, die wackelig in den Choos umherstöckelt. »Macht ihr Mädels eine Modenschau? Ich gebe euch Geld, wenn ihr Amy dazu bringt, ihr Zimmer aufzuräumen.«

»Dad, du bist peinlich«, sage ich zu ihm und schiebe ihn zur Tür hinaus, bevor er mich bis auf die Knochen blamiert. »Ich gehe heute Abend zu dieser Jugendgruppe, schon vergessen?«

»Nicht vergessen. Aber ich dachte, du hättest gesagt, dass es um vier losgeht.«

»Genau.«

»Er sieht auf seine Uhr. »Es ist fünf vor. Beeilt euch ein bisschen.«

Als er weg ist, sehe ich mir das dritte Outfit an, das Jess für mich ausgewählt hat. Eine dunkelblaue Jeans und ein schlichtes pinkfarbenes Longsleeve mit einem goldenen O unterhalb des Ausschnitts. Während ich mich in die Jeans zwänge, stolpert Miranda in den Choos hinüber zu meinem Nachttisch und nimmt das Foto von Avi in die Hand. »Ist das dein Freund?«

Jess beißt sich auf die Unterlippe, wahrscheinlich, damit sie nicht mit der Nicht-Freund-Wahrheit herausplatzt.

Ich zögere kurz und sage dann: »So ähnlich.«

Miranda sieht von dem Bild zu mir. »Der sieht echt total super aus.«

Ein kleiner Teil meines Herzens schlägt einen Salto. Ich drehe mich um, ziehe mir das Shirt über und verkünde: »Ich bin fertig. Wir können«, weil ich nicht über Avi sprechen will. Ich habe ihm weder auf seinen Brief geantwortet noch ihn zu Hause angerufen, weil ich mich nicht wie eine Stalker-Freundin aufführen will. Ich bin verwirrt. Und das kann ich auf den Tod nicht ausstehen.

Als wir bei der Jugendgruppe in der Synagoge ankommen, bin ich erstaunt, wie viel los ist. Es sind bestimmt vierzig Jugendliche, die sich hier im Gemeindesaal versammelt haben. Ein paar kenne ich aus der Schule, aber die meisten habe ich noch nie zu Gesicht bekommen.

Ein dunkler, lockiger Typ mit einer Kippa auf dem Kopf, der vielleicht so um die dreißig ist, versucht, sich Gehör zu verschaffen. »Das ist Rabbi Doug, der neue Rabbinerassistent«, erklärt mir Jess.

Miranda weicht Jess nicht von der Seite, als wir uns auf dem Boden einen freien Platz zum Hinsetzen suchen. Es dauert ein bisschen, bis Ruhe einkehrt, aber schließlich sind alle Augen auf Rabbi Doug gerichtet.

»Heute bauen wir eine Sukka für unser Stück. Habt ihr Lust?«

Vor einem Jahr hätte ich noch nicht mal einen Schimmer gehabt, was eine Sukka ist. Jetzt weiß ich, dass man darunter eine kleine Laubhütte versteht, in die man seine Verwandten und Freude zu einer Art Erntedank-Mahl einlädt. Normalerweise errichten Juden eine solche Sukka für das Sukkoth-Fest irgendwann im Oktober, aber die Jugendgruppe studiert über die Ferien ein Stück für die Schüler der Hebräischschule ein, und deshalb wird die Sukka heute Abend gebaut.

Rabbi Doug lässt uns auszählen, sodass sich mehrere Gruppen ergeben. Ich bin mit lauter Leuten zusammen, die ich nicht kenne. Der Typ, der sich selbst zu unserem Anführer ernennt, schlägt vor, dass wir uns im Flur versammeln.

In meiner Gruppe befinden sich mehrere Jungs und Mädchen – darunter eine mit lockigen schwarzen Haaren und buschigen Augenbrauen. Ich setze mich neben Buschige Braue und lächle sie vorsichtig an.

»Ich bin Nikki. Mit i«, sagt sie.

Oh nein. Postwendend werde ich von einem Déjà-vu heimgesucht. Ihr ahnt es: mein Stiefvater, Marc mit c. »Ich bin Amy. Mit y«, antworte ich.

»Auf welche Schule gehst du?«

»Chicago Academy. Und du?«

Bei der Erwähnung der Chicago Academy blinzelt Nikki zweimal. Was ist in letzter Zeit nur mit allen los? Man könnte meinen, Chicago Academy wäre ein Synomym für Schule für dumme Snobs.

»Mather«, erwidert sie.

»Cool.«

Nikki ist nicht gerade übertrieben freundlich zu mir, nachdem ich ihr erzählt habe, auf welche Schule ich gehe. Es kommt mir vor, als würde sie mir plötzlich nicht mehr über den Weg trauen.

Zum Glück setzt sich ein cooler Typ mit einem schwarzen Kapuzenshirt auf meine andere Seite und fängt ein Gespräch an. »Hi. Was geht? Ich bin Wes.«

»Ich heiße Amy.«

»Ich hab dich hier noch nie gesehen«, meint Wes und checkt mich ab. Das macht er dermaßen unverhohlen, dass ich es nicht lassen kann, ihn ein bisschen aufzuziehen.

»Ich bin Jugendgruppen-Jungfrau«, sage ich.

Statt geschockt zu reagieren, lacht er. »Cool. Aber vielleicht bin ich dann kein geeigneter Umgang für dich. Ich hatte schon so viele – also Jugendgruppen –, dass du es vielleicht mit der Angst zu tun bekommst.«

»Ich gehe auf die Chicago Academy«, verkünde ich. »Vielleicht bekommst du es jetzt mit der Angst zu tun.«

Doch Wes lässt sich nicht so leicht einschüchtern. Stattdessen lehnt er sich vor. »Ah, eine von diesen Stinkreichen. Stimmt es, dass eure Eltern Partys mit jeder Menge Alk und Gras für euch schmeißen?«

»Selbstverständlich«, lüge ich. »Was sollen wir sonst mit all dem überschüssigen Geld anfangen?«

Er lacht und schenkt mir ein breites, übermütiges Grinsen. »Du gefällst mir, Amy.«

Rabbi Doug kommt und teilt uns unsere Aufgabe zu. »Ihr seid dafür zuständig, die Früchte in der Sukka aufzuhängen. Körbe, Haken und Schnüre findet ihr im Hinterzimmer. Seid kreativ, lasst euch was Schönes einfallen.«

Ich folge den anderen ins Hinterzimmer. Wes und ich verstehen uns auf Anhieb. Ich finde heraus, dass er ebenfalls auf die Mather High geht und in einer Band namens Lickity Split singt. Nikki wird langsam auch wieder freundlicher – aber vielleicht steht sie auch nur auf Wes und macht deshalb einen auf nett.

»Hast du einen Freund?«, fragt Wes, während wir versuchen, Bananen zusammenzubinden.

Ich sehe zu Jessicas Gruppe hinüber, die mit Nägeln und Holz arbeitet, um ein Grundgerüst für die Hütte zusammenzuzimmern. »Mehr oder weniger.«

»Was meinst du mit ›mehr oder weniger‹?«, will Nikki wissen.

Was geht das diese Leute eigentlich an? »Ich habe einen Freund, aber in Israel.«

Wes bohrt Nadel und Faden durch die Bananenschale. »Äh … lebt er dort?«

»Genau.«

»Wie kann er dein Freund sein, wenn er ungefähr eine Million Meilen weit weg ist?«

Ich halte mit dem Bananenauffädeln inne. Es ist, als würde jeder in Worte fassen, was mir in letzter Zeit im Kopf herumgeht. Das kotzt mich an. Seit ich gestern mit meiner israelischen Cousine telefoniert habe, bin ich über meine Beziehung zu Avi ins Grübeln gekommen. Offensichtlich habe ich bei ihm nicht oberste Priorität. Warum sollte es dann umgekehrt bei mir so sein?

Ohne Wes eine Antwort zu geben, schlendere ich ein Stück von den anderen weg und starre auf den Michigansee. Die Rückseite der Synagoge geht auf den See hinaus, eine absolute Toplage. Auf dieses Filet-Grundstück wäre mein Stiefvater bestimmt total scharf. Ich stelle mir vor, unten am Sandstrand zu sein.

Plötzlich schießt mir das Bild von Nathan durch den Kopf und bricht in meine Gedanken an Avi ein. Optisch kann er in keinster Weise mit Avi mithalten. Avi ist zum Niederknien-Umfallen-Sterben schön. Er sieht aus, als wäre er einer Abercrombie-Werbung entsprungen. Nathan ist das genaue Gegenteil. Er sieht so linkisch aus, wie er sich benimmt, und es kümmert ihn nicht mal, dass er ein Einzelgänger ist. Avi dagegen hat einen Haufen guter Freunde.

Bevor Avi und ich uns ineinander verliebt haben, haben wir uns den größten Teil des Sommers erst mal gehasst. Am Anfang haben wir uns jedes Mal, wenn wir uns auf zwei Fuß nahe gekommen sind, in die Haare gekriegt. Als er mich geküsst hat, war es genauso explosiv wie zuvor die Streitereien und unglaublicher als jeder Kuss, den ich jemals bekommen habe.

Ich bin sicher, Nathans Küsse würden gegen die von Avi voll abfallen.

Ich presse meine Hände links und rechts gegen die Schläfen und schließe die Augen. Wie kann ich nur darüber nachdenken, Nathan zu küssen? Ihhh!

Okay, ich gebe zu, seine grünen Augen sind der Wahnsinn. Sie haben kleine braune und goldene Sprenkel drin, und wenn er mich damit ansieht, dann merke ich, wie ich nach diesen Sprenkeln suche. Ein Typ wie er sollte nicht solche Augen haben.

»Hey, Amy, alles in Ordnung?«

Es ist Jessica. Ich habe keine Lust, jetzt darüber zu sprechen, nicht mal mit meiner besten Freundin. Irgendwie bin ich gern allein mit meinem Elend. »Alles okay.«

»Du findest, die Jugendgruppe ist spaßbefreit, oder? Tut mir leid, dass ich dich mitgeschl–«

»Sie ist nicht spaßbefreit.«

»Und warum bläst du dann Trübsal?« Glaubt es oder nicht, aber meine beste Freundin verdreht tatsächlich die Augen über mich. »Echt, Amy, du musst über Avi hinwegkommen. Du benimmst dich in letzter Zeit wie ein totaler Einsiedler und gehst schon allen auf die Nerven, vor allem mir. Kannst du das Kapitel nicht abhaken? Avi ist garantiert nicht die ganze Zeit mies drauf und zieht seine Freunde und alle um ihn herum runter.«

Mit großen Augen stehe ich da und kann es überhaupt nicht fassen, dass Jessica mich gerade so runtermacht. Das hat sie noch nie getan. Wir sind immer zusammen durch dick und dünn gegangen, egal, ob es um Jungs oder Pickel oder Eltern oder die Schule ging. »Sag mal, ist es zu viel verlangt, wenn ich von meiner besten Freundin ein bisschen Unterstützung erwarte – gerade dann, wenn ich sie am meisten brauche?«, sage ich.

»Weißt du was, Amy? Dasselbe denke ich auch«, erwidert sie und stürmt zurück zu ihrer Sukka.

Was zum Teufel sollte das? Ich bin zu sehr durcheinander, um einen klaren Gedanken zu fassen. Ich will nur noch nach Hause. Aber es kommt noch schlimmer: Ich bin auf Jessica angewiesen, weil ich mit ihr hergefahren bin.

Auch ich stampfe zurück zu meiner Gruppe und pflanze mich wieder neben Wes von Lickity Split.

»Amy, du hast dich gerade auf eine Banane gehockt«, informiert Wes mich und bricht in Gelächter aus. Nikki und die anderen kichern mit. Alle Augen ruhen auf mir, alle warten auf meine Reaktion.

Ich könnte heulen – dafür müsste ich mich nicht mal sonderlich anstrengen. Ja, ich spüre sogar schon, wie sich hinter meinen Augenlidern ein Wasserfall anstaut.

Ich schließe die Augen und denke an den feuchten, labbrigen Matsch, der die Jeans durchweicht, die auszusuchen mich so viel Mühe und Zeit gekostet hat. Und an Jessicas Ausbruch. Und an die Schwangerschaft meiner Mutter. Und an Avi und Nathan und das desaströse Date meines Vaters. Und Köters unersättliche Sucht, jeden im Schritt anzuschnüffeln.

Für den Fall, dass ihr es noch nicht mitbekommen habt: Mein Leben ist offiziell ruiniert.