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Frage Nummer 2 zum Thema koscher essen: Milch und Fleisch darf man nicht mischen, denn Gott sprach: »Das Junge einer Ziege sollst du nicht in der Milch seiner Mutter kochen« (Exodus 23,19).
Und warum kann ich dann nicht Milch mit Hühnchen essen? Ein Hühnchen kann man schließlich nicht melken.
»Wieso schaust du alle zwei Sekunden zur Tür?«, fragt Marla mich am nächsten Tag bei der Arbeit.
Ähm … das könnte daran liegen, dass Dads Date jeden Moment hier auftauchen wird, gefolgt von meinem Dad, der immer noch nichts von seiner Verabredung weiß. Er denkt, Marla will mit ihm über meinen Arbeitsplan reden. Ich habe irgendeine alberne Geschichte erfunden, damit er um sieben ins Café kommt.
»Ich warte auf meinen Dad«, erkläre ich meiner Chefin schuldbewusst.
Die Tür geht auf. Es ist eine Frau, die ich noch nie hier gesehen habe. Ob es diese Kelly ist? Oder jemand anders? In ihrer Mail hat Kelly geschrieben, dass sie rotblondes Haar hat. Diese Frau könnte man durchaus als rotblond bezeichnen, obwohl ihre Mähne total kraus ist und sich bestimmt nur mit teuren Pflegemitteln zähmen lässt. Auf ihrem Foto im Internet hatte Kelly glatte Haare, aber vielleicht hat sie sie heute einfach nicht geplättet.
Sie kommt an den Tresen, und plötzlich habe ich das Gefühl, ich müsste sie beeindrucken.
»Sind Sie Kelly?«, frage ich.
Die Frau schüttelt ihren Topfreiniger-Kopf. »Nein.«
»Ah, gut.«
Als sie die Stirn runzelt, versuche ich, die Situation schnell zu retten. »Was darf ich Ihnen denn bringen?«
Sie sieht zu unserer Tafel mit den Kaffeespezialitäten hinauf und lässt sich Zeit. Ich verspüre den Drang, ein Schnarchgeräusch zu imitieren (darin bin ich große Klasse), aber ich glaube nicht, dass Marla darüber lachen kann. Also warte ich mit einem Lächeln auf dem Gesicht. Und warte.
Und warte.
Und warte.
Echt, wenn das so weitergeht, dann werde ich die Stirn runzeln. Mein Mund hält dieses falsche Gelächel ganz schlecht aus. Ich beginne zu summen, was mir aber erst bewusst wird, als die Frau mich mit strenger Miene ansieht. Gott sei Dank (und zwar großer Dank) ist sie nicht Dads rotblondes Date.
Die Türglocke bimmelt. Neue Kundschaft. »Haben Sie gewählt?«, frage ich die Frau, die sich nicht entscheiden kann. Ich stelle sie mir schon als meine Stiefmutter vor: wie ich stundenlang vor der Schule warte, dass sie mich abholt. Wie sie eine Ewigkeit braucht, um ein paar Lebensmittel auszusuchen. Und wie ich darauf warte, bis sie eine simple pikante Thunfisch-Roll bei Hanabi für mich bestellt hat.
Hinter ihr sehe ich eine andere Frau, die als rotblond durchgehen könnte, zum Tresen kommen. Ich schnappe nach Luft. Diese Frau ist fett. Und das ist noch freundlich ausgedrückt. Vielleicht stammt das Foto, das sie mitgeschickt hat, aus der Zeit, bevor sie so zugelegt hat. Mein Dad ist ein Fitness- und Gesundheitsapostel, und sie sieht aus, als hätte sie ein paar KitKats zu viel verdrückt, wenn ihr wisst, was ich meine. Aber sie hat ein freundliches Gesicht. Hey, vielleicht kann Dad sie auf eine superstrenge Diät setzen und die überschüssigen Kilos purzeln in Nullkommanichts.
Ich ignoriere die unentschlossene Dame und frage die Übergewichtige: »Sind Sie Kelly?«
»Nein. Aber ich hätte gern einen großen Karamell-Latte mit Schlagsahne.«
Mein Perk Me Up!-Lächeln klebt mir wie festgetackert im Gesicht, obwohl es mich reizt, ihr statt des Karamell-Lattes einen fettreduzierten zu empfehlen.
Während ich ihre Bestellung boniere, signalisiert mir Miss Unentschlossen, dass sie jetzt bereit wäre. Sieht sie nicht, dass ich gerade die Bestellung von jemand anderem bearbeite?
Marla ist im Büro, und ich will nicht, dass sie denkt, ich käme nicht klar. Ich wende mich an die Unentschlossene. »Haben Sie sich entschieden?«
»Wie viele Kalorien hat der mittlere Vanillekaffee? Genauso viele wie der normale?«
Will die mich veräppeln? Ich sehe unter dem Tresen nach, ob dort eine Kalorientabelle liegt, aber Fehlanzeige. Was nun? Soll ich erst mal das Getränk der anderen Frau fertig machen oder Marla zur Hilfe rufen?
Ich werfe einen Blick auf meine Uhr. Es ist Punkt sieben. Kelly wird jeden Moment hier sein. Mein Dad wird jeden Moment hier sein.
Und Miss Unentschlossen macht sich einen Kopf über ein paar Kalorien.
Ich klopfe an der Bürotür und rufe Marla an die Kasse. Dann mache ich schnell den großen Karamell-Latte, während Marla sich um die kraushaarige, superanspruchsvolle Kundin kümmert. Die Glocke ertönt ein weiteres Mal, und es kommt eine Frau herein, die definitiv aussieht wie die auf Kellys PJSN-Profilbild.
Suchend lässt sie den Blick durch das Café schweifen, setzt sich dann an einen freien Tisch und wartet auf meinen nichts ahnenden Vater.
Und schon kommt er als Nächster durch die Tür. Mein Herz pocht jetzt mit hundert Schlägen pro Sekunde. Dad winkt mir zu und geht zum Tresen. Kelly muss ihn anhand des Bildes, das ich eingestellt habe, erkannt haben. Sie stellt sich hinter ihn und hebt die Hand.
»Ich muss dir was sagen«, rufe ich genau in dem Moment, als Kelly ihm auf die Schulter tippt und »Ron?« fragt.
Er dreht sich zu ihr um. »Kann ich Ihnen helfen?«
»Dad, es ist wichtig.«
Er legt die Fingerspitzen seiner einen Hand aneinander und bewegt sie auf und ab, das spezielle israelische Zeichen für warte eine Sekunde. Das Problem ist nur, dass ich keine Sekunde warten kann. Ich muss ihm sagen, dass er gerade sein erstes PJSN-Date hat.
»Ich bin Kelly. Sind Sie Ron?«, fragt Kelly.
»Ja.«
»Vom Professionellen Jüdischen Single-Netzwerk?«
Pause.
»Ähm … Sekunde bitte«, sagt mein Dad zu Kelly und wendet sich dann an mich. »Amy, kannst du mir mal verraten, was das soll? Jetzt. Gleich. Ich gehe mal davon aus, dass Marla gar nicht mit mir über eine Änderung deines Dienstplans sprechen will, oder?«
»Aba, du wirst lachen, wenn ich dir das erzähle.«
»Das bezweifle ich.«
Kelly wirkt aufgebracht und verlegen. »Habe ich hier was verpasst?«
Okay, Zeit zu beichten. Das hatte ich mir irgendwie leichter vorgestellt. Am liebsten würde ich mich ins nächste Mauseloch verkriechen. »Ich habe das Treffen ausgemacht. Ich bin seine Tochter«, gestehe ich ihr.
Als Kelly kapiert, was Sache ist, weicht sie einen Schritt zurück. »Oh.« Sie rückt die Coach-Tasche zurecht, die über ihrer Schulter hängt. »Tja, da stehe ich jetzt wohl dumm da.«
»Also, eigentlich bin eher ich die Dumme«, sage ich zu ihr.
»Und ich«, schaltet sich mein Dad ein. »Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Kelly. Setzen wir uns doch und lassen uns von meiner Tochter die teuersten Getränke bringen, die es hier gibt. Sie lädt uns ein.«
Kelly zuckt die Schultern und nickt zustimmend. »Klingt gut.«
Für mich klingt das überhaupt nicht gut!
»Eigentlich habe ich auch Hunger. Wie wäre es mit einem von diesen Scones?«, fragt mein Dad. Ich addiere die Posten im Kopf, wohl wissend, dass ich mindestens zwei weitere Stunden arbeiten muss, um die Rechnung zu begleichen.
»Scones klingen wunderbar«, meint Kelly und lächelt. »Gibt es hier auch Elis Käsekuchen? Sei doch so nett und bring mir ein Stück, meine Liebe.«
Also, mir ist Kelly mit dem rotblonden Haar lange nicht so sympathisch wie anscheinend meinem Dad. Meine Vorstellung von dem Date war nicht die, dass ich eine Lektion erteilt bekomme. Mein Dad setzt sich zu Kelly und ich serviere ihnen ihre Double Dutch Coffee Delight Drinks. (Als Bonus füge ich ein paar Extra-Portionen Espresso hinzu … Ich hoffe, sie können beide die ganze Nacht kein Auge zumachen.) Diese Spezialdrinks kosten je vier Dollar fünfundzwanzig, dann kommen noch der Käsekuchen für zwei Dollar fünfundfünfzig und zwei Dollar fünfunddreißig für die Scones dazu.
Als wäre mein Tag nicht schon katastrophal genug, muss ich auch noch den Boden wischen und entdecke als Krönung schließlich Nathan an seinem Stammplatz in der Ecke. »Na, beim Lügen erwischt worden, Barbie?«, meint Nathan. »Da hab ich einen Tipp für dich. Wenn du das nächste Mal ein Date für deinen Dad klarmachst, dann solltest du ihn vorher vielleicht informieren.«
Ich funkle ihn an. »Ich habe wenigstens Eltern«, zische ich, würde die Worte im nächsten Moment aber am liebsten zurücknehmen. Nathans Gesicht wird aschfahl, und er beginnt, seine Sachen zusammenzukramen.
Vielleicht sind seine Eltern tot oder liegen irgendwo im Krankenhaus. Ich bin bescheuert. »Es tut mir leid«, sage ich schnell.
Als er das letzte Buch in seinen Rucksack gestopft hat, blickt er zu mir auf. »Nein, tut es nicht.« Dann lässt er mich stehen und stürmt aus dem Café. Mir bleibt nur, seine benutzte Teetasse abzuräumen, die noch drei Viertel voll ist. Jetzt fühle ich mich noch mieser als zuvor.
Ich werfe einen Blick zu Dad, der Kelly gerade die Hand schüttelt. Sie verlässt das Café, und mein Dad bleibt allein am Tisch sitzen, bis ich zu ihm schlendere. »Und?«
Er blickt von seinem Platz zu mir auf. »Was und?«
»Wie ist es gelaufen?«
»Okay.«
Okay ist vermutlich eines der unspezifischsten, aussagelosesten Wörter, die es gibt. Ich hasse dieses Wort. Es bedeutet gar nichts. Ich nehme einen neuen Anlauf – einen, bei dem ich nicht mit einem »Okay« abgespeist werden kann. »Wirst du sie wiedersehen?«
»Vielleicht.«
Toll. Wieder so ein Pseudowort. »Hat sie dir ihre Telefonnummer gegeben?«
Mein Dad steht auf, was nicht so doll ist, weil er jetzt von hoch oben auf mich herabschaut. »Hör zu, Amy, und hör gut zu. Vereinbare keine weiteren Treffen ohne mein Wissen oder du bist dein Handy los. Verstanden?«
»Okay.«