16

Manche werden mich mit anderen Augen sehen, weil ich Jüdin bin.

Manche werden mich beschimpfen, weil ich Jüdin bin.

Manche werden mich hassen, weil ich Jüdin bin.

Soll ich sie ignorieren oder ihnen Paroli bieten?

Am nächsten Tag entdecke in der Mittagspause Mitch an seinem Spind.

»Man macht nicht kurz vor dem Valentinstanz mit jemandem Schluss«, sage ich zu ihm. »Das ist voll daneben.«

Er zieht seine dichten Augenbrauen zusammen. Früher fand ich, dass ihn das wild und verwegen aussehen ließ. »Was willst du von mir hören?«, sagt er, schließt seinen Spind und geht.

Warum können Mädchen mit Jungs über Probleme sprechen, Jungs umgekehrt aber nicht? Sie geben irgendeine schwachsinnige Bemerkung von sich und suchen das Weite. Ich weiß, es ist eine Verallgemeinerung, aber es muss mal gesagt werden: Jungs haben ein Problem mit Problemen! Vor allem damit, darüber zu reden. (Und damit, sich festzulegen, auch. Aber das ist ein anderes Thema.)

Doch so leicht lasse ich mich nicht abschütteln. Als ich Mitch eingeholt habe, tippe ich ihm auf den Rücken und sage, während wir nebeneinanderherlaufen: »Du hast Jessica sehr verletzt. Das war nicht nett.«

Mitch bleibt stehen, nur die Locken auf seinem Kopf wippen noch immer auf und ab. »Lass stecken, Amy. Ich stand auf dich, dann nicht mehr und dafür habe ich mich in Jessica verknallt. Und jetzt stehe ich eben wieder auf eine andere.«

»Kannst du dich nicht mal auf eine festlegen?«

»Ja, solange ich auf sie stehe. Aber wenn es vorbei ist, ist es vorbei. Hey, ich bin siebzehn, ich muss mich noch nicht verheiraten!«

Am liebsten würde ich ihm eine reinhauen.

Während ich noch immer über sein egoistisches Gelaber nachdenke, lässt er mich mit all den anderen Schülern auf dem Gang stehen. Wie viele von ihnen sind genauso hohl? Nathan hat zu Marla gesagt, ich könnte ihn nicht leiden, weil er alte Klamotten trägt und eine Brille hat.

Daran liegt es nicht.

Plötzlich überkommt mich der Drang, Nathan umgehend wissen zu lassen, warum ich ihn nicht abkann. Ihm klarzumachen, dass das nicht daran liegt, dass ich oberflächlich oder primitiv bin oder mir zu schade wäre, um mich mit ihm abzugeben.

»Erde an Amy.«

Blinzelnd werde ich aus meinen Gedanken gerissen. Cami und Raine stehen vor mir und wedeln mit den Armen vor meinem Gesicht herum. »Willkommen zurück in der Realität«, meint Cami und lacht.

»Was gibt’s heute zum Mittagessen?«, frage ich und versuche, Mitch und das, was er gerade gesagt hat, aus meinem Gedächtnis zu verbannen. Außerdem gibt’s montags manchmal Unos Pizza als Überraschung. (Wieder so eine Kohlenhydrat-Bombe, ich weiß … aber sie ist jedes Kohlenhydrat wert – wie Sushi.)

»Vergiss das Mittagessen. Erzähl uns lieber von dir und diesem Nathan, mit dem du zum Valentinstanz gehst. Die ganze Schule spricht darüber, falls es dir entgangen sein sollte. Alle fragen sich, ob du jetzt unter die Streber gegangen bist. Erst küsst du ihn in der Cafeteria und dann setzt du dich an Mirandas Tisch. Was ist in dich gefahren?«

Ich muss wieder daran denken, wie nett Miranda reagiert hat, nachdem ich so blöd zu ihr war, und wie schnell sie meine Entschuldigung akzeptiert hat, ohne lange auf der Sache rumzureiten. Sie hätte mich auch anzicken können, aber sie hat es nicht getan. »Miranda ist nicht verkehrt.«

Raine hebt ihre manikürten Hände. »Sie riecht wie Schweizer Käse, Amy. Man sollte meinen, sie müsste es mit ihrem großen jüdischen Zinken selbst merken.«

Jetzt ist es passiert. Zum ersten Mal, seit ich auf meinen Beitritt zum jüdischen Glauben hinarbeite, macht jemand mir gegenüber eine abfällige Bemerkung über Juden. Mehr als abfällig. Rassistisch, um genau zu sein. Mein Herz schlägt schneller, und ich merke, wie mir eng im Hals wird. Und flau im Magen.

»Ich bin Jüdin«, sage ich, bereit, mein Volk zu verteidigen, auch wenn ich dadurch auf der Beliebtheitsskala deutlich nach unten abrutschen werde. Und lasst euch eins gesagt sein: An der Chicago Academy unbeliebt zu sein, ist, als wäre man ein einsamer Hase inmitten einer Meute Jagdhunde. Oder inmitten eines Wolfsrudels.

»Ja, aber nicht so richtig. Du bist nur zur Hälfte jüdisch«, sagt Raine, die gar nichts kapiert.

Aargh! Zur Hälfte. Als wäre ich nichts Halbes und nichts Ganzes, weil meine Mom nicht Jüdin ist? Falsch. »Ähm, da muss ich dir widersprechen, Raine. Ich bin ganz und gar Jüdin. Wenn du also hier anfangen willst, dumme Witze über die Juden zu reißen oder blöde Bemerkungen abzulassen, dann kommt das bei mir nicht so richtig gut an.«

Raine macht ein Gesicht, als hätte sie an verdorbenem Käse gerochen. »Reg dich ab, Amy.«

»Sag mir nicht, dass ich mich abregen soll, wenn du mein Volk beleidigst«, erwidere ich.

»Ich habe nur eine dumme Bemerkung über Miranda Cohen gemacht, Amy. Nicht über dich. Nicht über die komplette jüdische Bevölkerung oder dein Volk. Oh Mann«, sagt sie und verdreht die Augen.

Am liebsten würde ich jetzt einfach abhauen und mich dieser blöden Situation entziehen, so wie Mitch es mit mir gemacht hat. Aber ich reiße mich zusammen. Weil ich möchte, dass Raine – und alle anderen, die gern mal mit blöden Bemerkungen über Juden um sich werfen – verstehen, dass das nicht okay ist. Es verletzt mich. Ich kann gar nicht beschreiben, wie sehr ihre Worte mich getroffen haben. Es war wie ein Stich ins Herz, auch wenn sie sich dessen mit Sicherheit gar nicht bewusst ist.

Mein Herzschlag normalisiert sich wieder halbwegs, während Raine sich umdreht und mit einem wütenden Schnauben abrauscht.

Ich wende mich an Cami, die so tut, als würde sie in ihrer Büchertasche nach etwas suchen. Dabei ist offensichtlich, dass sie nur Zeugs hin- und herschiebt. »Ich bin nicht sauer auf dich«, sage ich zu ihr.

Cami blickt auf. »Das war ziemlich hart.«

»Das war nicht meine Absicht.«

Jetzt stehen wir da, und ich muss etwas sagen, um das Schweigen zu brechen. »Bist du auf dem Weg in die Cafeteria?«

Cami zögert, dann sagt sie: »Nein, ich muss erst in den Hilfsmittelraum. Wir sehen uns später.«

Ja, klar. »Auch gut«, erwidere ich, als wäre es mir egal.

Als ich die Cafeteria betrete, lasse ich den Blick durch den Raum schweifen. Raine ist schon da. Sie steckt mit ein paar anderen Mädchen in typischer Lästerpose die Köpfe zusammen. Habe ich gesagt, Klatsch und Tratsch wäre unterschätzt? Na ja, jetzt, da ich selbst das Läster-Objekt bin, bewerte ich das anders. Solche Racheaktionen sind doch scheiße.

Ich reihe mich in die Schlange ein und suche mir etwas zu essen aus. Gestern war eine Katastrophe wegen Nathans Kuss. Jetzt tratscht Raine überall herum, dass ich Jüdin bin. Jede Wette, dass sie die Tatsachen gehörig verdreht, um mich in ein schlechtes Licht zu rücken. Ich bin fest entschlossen, mich unauffällig zu verhalten.

Oh nein. Nathan ist gerade hereingekommen. Er steht ungefähr sechs Leute hinter mir in der Warteschlange und unterhält sich mit Kyle. Gut zu wissen, wo er steckt, damit ich mir nicht wieder einen Kuss einfange, ohne darauf gefasst zu sein.

Heute nehme ich keinen Salat – vor allem, weil Gladys mich von der Essensausgabe aus mit Argusaugen beobachtet. Ich bestelle eins von den Truthahnsandwiches mit Sauerteigbrot, die am Feinkosttresen frisch zubereitet werden, und scanne die Tische.

Jetzt wird es kniffelig.

Die Cafeteria. Wo sich quasi die Spreu vom Weizen trennt. Normalerweise halte ich mich immer an Jessica. Wo sie sitzt, sitze auch ich. Gerade steht sie an der Theke mit den Würzsoßen und quetscht für ihre Pommes Ketchup in eine kleine weiße Schale. Sie hat keine Ahnung, dass Raine rumerzählt, wie sie sich über Mirandas jüdische Nase lustig gemacht hat.

Miranda sitzt bei ihren üblichen Leuten. Sie sind nicht alle Juden. Was sie gemeinsam haben, ist, dass sie mal eine Modeberatung bräuchten. Außerdem sind sie alle Einserschüler. Miranda winkt mir zu und ich winke zurück. Wahrscheinlich meint sie, ich setze mich wieder zu ihr an den Tisch wie gestern.

Jess setzt sich zu Raine, noch ehe ich ihre Aufmerksamkeit auf mich lenken kann.

Als ich mich umdrehe, sehe ich, dass Nathan an der Kasse steht, um seine zwei Pizzastücke und eine Flasche Arizona Iced Tea zu bezahlen.

Okay, jetzt muss ich eine Entscheidung treffen. Mich entweder bei Jessica und Raine einreihen, wo ich sonst immer sitze, oder mich wieder zu Miranda und ihren Freunden gesellen. Keine Zeit zu zaudern, Amy. Beliebte Mädchen zaudern nicht.

Als wäre ich ein programmierter Roboter, nehme ich bei meinen üblichen Freunden Platz. Ich komme mir wie ein Verräter vor, obwohl sich Miranda, als ich einen Blick zu ihr hinüberwerfe, angeregt mit jemand anderem unterhält und nicht mal mitkriegt, dass ich mich für die beliebten Mädchen entschieden habe, die wissen, was DKNY ist, statt an ihren Tisch zu kommen, wo sie vermutlich über E=mc² diskutieren.

Als ich mich auf den Platz neben Jessica schiebe, wird es am Tisch plötzlich totenstill. Jess ist verwirrt.

»Na, was ist jetzt mit dir und dem Neuen, Nathan?«, fragt Roxanne mit einem Kichern. »Ihr zwei habt gestern ja eine ziemlich gute Show abgeliefert. Wie stehen die Chancen für eine Zugabe?«

Ich nehme einen Bissen von meinem Sandwich, damit ich nicht gleich etwas erwidern muss. Ich brauche Zeit, um mir eine Antwort zurechtzulegen, obwohl ich sonst eigentlich nicht auf den Mund gefallen bin.

Als ich gerade meinen ersten Bissen hinunterschlucke, höre ich Nathans Stimme hinter mir. »Ist hier noch ein Platz für mich frei?«

Ich sehe zu ihm auf und würde am liebsten »Nein« rufen, weil alle nur darauf warten, dass wir miteinander rummachen. Warum hockt er sich nicht zu Kyle und dessen Kumpels? Oder zu den Strebern am Streber-Tisch?

Jessica bittet die anderen, ein Stück zu rutschen, damit er neben mir sitzen kann. Uff, alle Augen sind auf uns gerichtet. Ich würde mich gern mit Nathan unterhalten, aber in Ruhe, ohne dass die ganze Clique dabeisitzt und uns angafft.

»Ich habe gehört, dass ihr zusammen zum Valentinstanz geht?«, sagt Roxanne und wartet mit glänzenden Augen auf meine Reaktion. »Seid ihr zwei … zusammen?«

Ich werde das Gefühl nicht los, dass die ganze Cafeteria mit angehaltenem Atem auf meine Antwort lauscht.

»Oh ja«, sage ich. »Hast du das nicht gewusst? Es war Liebe auf den ersten Blick. Stimmt’s, Nathan?«

Jetzt sind es entweder ich und Nathan gegen Roxanne und den Rest der Meute oder ich gegen alle.

Ich drehe den Kopf und sehe Nathan an, der neben mir sitzt. Die Neonlampen der Cafeteria spiegeln sich in seinen Brillengläsern, sodass ich seine Augen nicht erkennen kann. Aber die runden Rahmen seines Brillengestells sind definitiv auf mich gerichtet. »Ja, genau«, sagt er. »So war es. Gegensätze ziehen sich bekanntlich an.«

Ich kaue auf einem weiteren Bissen von meinem Sandwich herum und starre auf mein Essen, damit ich nichts sagen muss.

Aber ich sehe Nathans Finger, die nach seiner Pizza greifen. Drei Minuten später schnappt er sich bereits das zweite Stück. Es stellt vermutlich einen neuen Weltrekord im Pizzaessen auf. Noch immer strömen Schüler in die Cafeteria, da hat er sein zweites Stück verdrückt.

Noch ein Schluck Eistee, dann ist er fertig. Ich dagegen mühe mich mit meinem Sandwich ziemlich ab.

Nathan flüstert mir etwas ins Ohr, das ich nicht verstehen kann, und geht.

»Was hat er gesagt?«, fragt Jess sichtlich verwirrt. Sie weiß, dass Nathan und ich nicht mal Freunde sind. Gut, wir haben uns geküsst, aber das war nur Show. Und meine Teilnahme war gegen meinen Willen.

»Keine Ahnung«, murmle ich und nehme wieder einen Bissen.

Nach der Schule holt Jess mich auf dem Weg zur Bushaltestelle ein.

»Amy«, sagt sie. »Ich verstehe es einfach nicht. Du hältst Nathan doch für einen Idioten – streite es erst gar nicht ab, ich kenne dich nämlich besser als deine eigene Mom. Dann küsst du ihn vor versammelter Mannschaft, obwohl du noch immer an Avi hängst. Und Raine erzählt überall herum, dass du total mies auf sie losgegangen bist. Das macht alles keinen Sinn.«

»Das Leben macht keinen Sinn, Jess. Hasst du mich jetzt?«

»Warum sollte ich dich hassen? Vielleicht kann ich dich nicht verstehen. Vielleicht werde ich sauer auf dich. Aber ich könnte dich niemals hassen.«

Nathan steuert auf uns zu. Allein schon sein Gang ist so krampfig und verklemmt, dass ich mich innerlich winde. Der Typ braucht echt eine Lektion in Sich-locker-machen. Er müsste mal was Verrücktes tun. Wahrscheinlich tanzt er wie ein Sechsjähriger.

Avi ist ein toller Tänzer. Mir kommt wieder in den Sinn, wie er letzten Sommer in Israel mit einem Mädchen getanzt hat und ich dermaßen eifersüchtig gewesen bin, dass ich mir den nächstbesten Kerl gekrallt und ihn auf die Tanzfläche gezerrt habe. Böser Fehler. Nur so viel: Das Ende vom Lied war, dass ich um ein Haar von der israelischen Polizei festgenommen worden wäre.

Als Nathan bei uns ankommt, läuft Jessica zur Bushaltestelle weiter, damit wir in Ruhe reden können. Sie ist so eine gute Freundin. Zwar schätzt sie die Situation zwischen Nathan und mir komplett falsch ein, aber sie hat das Herz am rechten Fleck.

Ich tippe Nathan am Ellbogen an. »Wir müssen reden.«

»Warum? Willst du wieder küssen?«

»Damit mir deine Brille ins Gesicht rummst? Nein danke. Ich will reden. Die Art von Reden, bei dem sich die Lippen nicht berühren.«

»Entschuldige, keine Chance.«

Der Bus biegt um die Ecke. »Wir können nicht weiterhin so tun, als hätten wir was miteinander.«

»Natürlich können wir das«, sagt er, legt den Arm um mich und schiebt mich nach hinten durch den Bus, sodass wir bei den anderen sitzen können.

Ich schüttle seinen Arm ab.

Als wir an unserer Haltestelle ankommen und aussteigen, legt er mir wieder den Arm um die Schultern, als wären wir wirklich ein Paar. Ehe ich ihn abschütteln kann, blicke ich auf. Mein Herz pocht laut in meiner Brust und ich kippe fast um.

Vor meinem Haus steht – ohne es extra darauf anzulegen in einer Pose wie ein Abercrombie-Model – Avi.

Und er sieht mich kommen – mit Nathans Arm um meine Schulter. Ich bin zu perplex, um Avi zu fragen, wie er hierherkommt, warum er da ist, wie lange er bleiben wird oder ob ihm noch immer etwas an mir liegt.

»Avi«, sage ich leise, als wir näher kommen. Ich bin noch immer wie in Trance, als ich hinzufüge: »Was machst du hier?«

»Wer ist der denn?«, fragt er zurück.