23
Zu konvertieren ist nicht so leicht, wie man denken könnte. Ich muss vor drei angesehene Mitglieder der jüdischen Gemeinde, das sogenannte »Bet Din«, treten und eine mündliche Prüfung ablegen.
Rabbi Glassman meinte, ich solle mir deswegen keine Sorgen machen, es wäre schließlich kein Examen.
Aber steckt das Leben nicht voller kleiner Examen?
»Du hast mich zum Deppen gemacht«, sagt Avi zu mir, als ich ihn am Eingang meines Wohnblocks endlich eingeholt habe.
»Es tut mir leid, Avi. Ich habe nicht damit gerechnet, dass du zu Roxanne gehst und sie dir auch noch die Einzelheiten aufs Brot schmiert.«
Im Aufzug dreht er sich zu mir um. »Du hast mich angelogen und mir dabei in die Augen gesehen.«
Ich hebe die Hände und kapituliere. »Okay, ich gebe es zu. Ich habe dich angelogen. Bist du jetzt zufrieden?«
»Verdreh jetzt nicht die Tatsachen und mach mich zum Bösen. Rennst du ständig durch die Gegend und küsst andere Jungs?«, fragt er, als wir auf meinem Stockwerk ankommen und aus dem Lift aussteigen. »Wie hältst du es mit Treue und Ehre?«
Ich verdrehe die Augen. »Wir sind hier nicht in der Armee, Avi.«
»Das wäre vielleicht besser.«
»Was soll das heißen?« Ich sperre die Tür auf und gehe in die Wohnung. Dann drehe ich mich zu ihm um. »Und außerdem, wie sieht es denn mit dir aus? Du wolltest es doch nicht offiziell machen. Du wolltest nicht zu mir stehen.«
»Bitte, Amy. Was weißt du schon davon, was es bedeutet, zu jemandem zu stehen?«
Mir bleibt vor Schreck der Mund offen stehen. »Leck mich!«, schreie ich, renne in mein Zimmer und haue die Tür hinter mir zu.
Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt richtig geheult habe. Ihr wisst schon, so ein Heulkrampf, dass man keine Luft mehr bekommt. Und wenn man dann irgendwann denkt, dass man keine Tränen mehr hat, überkommt einen eine neue Woge der Verzweiflung und man flennt wieder los.
Genauso geht es mir gerade. Ich fühle mich beschissen, weil ich es mit Avi in den Sand gesetzt habe. Und ich fühle mich beschissen, weil ich endlich wissen will, was mit Nathan los ist. Warum er so ist, wie er ist. Nathan hat gesagt, ich würde nur aufgrund des Aussehens auf Avi stehen. Er hat gemeint, wenn er auch so gut aussehen würde, dann wäre ich hinter ihm her.
Ich bin ein schrecklicher Mensch. Es ist auch nicht Avis Schuld, sondern meine.
Nach einer Weile klopft Avi an meine Tür.
»Was ist?«
»Mach dir Tür auf und lass mich rein.«
»Du darfst nicht in mein Zimmer, schon vergessen?«
Er klopft wieder. Lauter. »Dann mach einfach nur auf.«
Als ich öffne, sehe ich, dass er seine Tasche über der Schulter hat. »Was hast du vor?«
»Das funktioniert nicht mit uns. Wir wissen es beide. Ich werde mich bei Tarik im Studentenwohnheim der Northwestern einquartieren. Du erinnerst dich doch an Tarik, oder?«
»Ja, aber –«
»Er wird gleich hier sein. Hör zu, Amy … du willst andere Jungs küssen, das ist in Ordnung. Das mit uns konnte sowieso nicht gutgehen.«
»Du hast mir doch gesagt, ich soll nicht auf dich warten. Du wolltest mein Nicht-Freund sein, falls du dich erinnerst.«
»Was hier drin ist«, sagt er und deutet auf seinen Kopf, »und was da drin ist«, er pocht sich mit der Faust auf die Brust, »sind zwei Paar Schuhe.«
Ich mache einen Schritt auf ihn zu und strecke die Hand aus, um ihm die Unsicherheit zu nehmen und die Spannung zwischen uns abzubauen. »Avi … komm her.«
Statt auf mich zuzugehen, weicht er zurück und zeigt auf seine Stirn. »Ich muss einen klaren Kopf behalten«, sagt er. »Erinnerst du dich, was ich dir über die Psychospielchen erzählt habe?«
»Ja, dass sie noch schlimmer sind als die Schinderei.«
»Gott, ich kann dir gar nicht sagen, was für irrationales Zeug mir gerade im Kopf rumgeht. Dich küssen, bis du nicht mehr klar denken kannst. Diesem Nathan in den Arsch treten. Mit der Faust auf die Wand einschlagen, weil du andere Jungs angeschaut hast.«
»Ich habe dir doch gesagt, dass ich Desaster Girl bin.«
»Nein, Amy. Du hast hier dein Leben. Und ich in Israel oder wo mich die Armee hinschickt. So ist das nun mal. Und so sollte es auch sein. Wir haben uns etwas vorgemacht, als wir dachten, das mit uns beiden könnte funktionieren.«
Ich habe daran geglaubt, aber das behalte ich für mich. Er hat offensichtlich den Kampf aufgegeben. »Willst du wirklich gehen?«
»Tarik wartet vermutlich schon unten auf mich.«
Wieder steigen mir Tränen in die Augen. Verdammt, ich will das nicht, aber ich bin machtlos dagegen. »Ich will nicht, dass du gehst.« Am liebsten würde ich ihn anflehen, mich an sein Bein hängen und nicht mehr loslassen, bis er einwilligt zu bleiben … aber ich kann nicht.
Als er Köter tätschelt und zur Tür läuft, lasse ich ihn gehen. Und dann begleite ich ihn nach draußen, wo Tarik mit dem Auto vor meinem Haus steht. Er steigt aus und umarmt mich kurz. »Hey, Amy«, sagt er. »Ganz schön lange her, was?«
Ich wische mir mit dem Ärmel über die Nase und die verheulten Augen. »Wie läuft’s an der Uni?«, frage ich.
»Es ist ziemlich anstrengend, aber es wird.« Tarik sieht von mir (sichtlich überfordert und verzweifelt) zu Avi, der eine versteinerte Miene macht. »Ähm … wollt ihr, dass ich was dazu sage?«
»Nein«, sagt Avi mit Nachdruck, während ich den Kopf schief lege und überlege, ob ich ihn nicht doch um seine Vermittlung bitten soll. Vielleicht brauchen Avi und ich einen Schlichterspruch. In Sozialkunde haben wir letzte Woche Schiedsverfahren durchgenommen und was ein unparteiischer Dritter Erstaunliches bewirken kann.
»Na gut, dann … lasse ich euch zwei mal allein, damit ihr euch verabschieden könnt.« Tarik geht zurück zur Fahrerseite, ruft jedoch über die Schulter: »Sagt einfach Bescheid, wenn ihr mich braucht.«
Ich bin in Versuchung, »Bescheid« zu sagen.
Avi wirft seinen Seesack auf den Rücksitz von Tariks Wagen und dreht sich zu mir um. »Ich rufe dich an, bevor ich Chicago verlasse.«
»Ich wollte mit dir auf den Sears Tower hoch. Da muss man als Tourist unbedingt hin.«
»Das mache ich allein.«
»Und was ist mit Oz Park? Wusstest du, dass der Autor des Zauberers von Oz dort gewohnt hat?«
»Das kriege ich schon hin.«
»Aber wenn nicht, Avi? Was ist, wenn du nach Israel zurückkehrst, ohne gesehen zu haben, was Chicago alles zu bieten hat?«
Avi legt seine Hand um meine Wange. »Es muss nicht immer alles perfekt sein. Das Leben ist nicht perfekt.«
»Ich will es aber.«
Sein Daumen streicht sanft über mein Gesicht. »Ich weiß. Das macht dich so besonders.« Er presst die Augen zusammen. »Ich muss gehen, bevor ich eine Dummheit mache.«
Ich sehe zu, wie er auf der Beifahrerseite einsteigt und etwas zu Tarik sagt. Dann fährt das Auto davon.
Da stehe ich – allein, weinend und völlig am Boden zerstört. Ich bin kurz davor, mich hier an Ort und Stelle hinzuknien und wieder hemmungslos loszuschluchzen.
»Du heulst doch nicht wegen diesem Kerl, oder?«, höre ich Nathans Stimme hinter mir.
Ich drehe mich zu ihm um und sehe ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Spionierst du mir schon die ganze Zeit hinterher?«
»Nö. War die Trennung sehenswert? Hab ich was verpasst? Das wäre schade.«
Ich gehe zu Nathan, hebe die Hand und stoße ihm mit dem Finger vor die Brust. »Du bist der unverschämteste, egozentrischste, drachenäugigste, rücksichtsloseste, egoistischste …« Ich zermartere mir das Hirn auf der Suche nach weiteren Wörtern, als Nathan meinen Finger in seine Hand nimmt, damit ich ihn ihm nicht wieder in die Brust bohren kann.
Nathans Berührung löst in mir bei Weitem nicht das aus, was Avis Berührungen mit mir machen. Und zum ersten Mal ist klar, dass Nathan nicht »der Richtige« ist und es nie war. Irgendetwas ist da zwischen uns, aber es ist so ganz anders als das zwischen Avi und mir.
Ich bin zu schwach, um etwas anderes zu tun, als meine Schultern nach vorn sacken zu lassen und zu weinen. Der Schmerz ist zu groß – als würde jemand mir das Herz rausreißen und es fest zusammenquetschen. Meine Knie geben nach und Nathan fängt mich auf.
»Dir geht’s wirklich mies, oder? Du bist ja total aufgelöst«, sagt er, und seine Augenbrauen wandern nach unten und ziehen sich vor Mitleid zusammen. Ich habe Nathan noch nie Mitgefühl zeigen sehen … vor allem nicht mir gegenüber.
Ich schließe die Augen. »Ich bin eben doch nicht so Plastik, wie du mir unterstellst.«
»Nein, anscheinend nicht. Hör mal, Amy, es tut mir leid. Du hast recht mit dem, was du über mich gesagt hast. Na ja, bis auf die Sache mit dem drachenäugig.«
»Was?«
»Ich habe Spielchen mit dir gespielt. Und mit deinem Freund. Das war nicht fair, ich weiß. Manchmal möchte ich einfach, dass die anderen genauso ein Scheißleben haben wie ich. Stell es dir als Selbstverteidigungsmechanismus vor.«
Er stellt mich wieder auf die Beine und ich wische mir Nase und Augen mit dem Ärmel meines Shirts ab. »Was ist so schlecht an deinem Leben, Nathan? Wer bist du? Erzähl mir von dir, damit ich mich besser fühle mit meinem eigenen Scherbenhaufen.«
Ich weiß, warum ich unsicher bin: Mein Dad ist gerade erst wieder in mein Leben getreten, meine Mom und ihr neuer Mann planen einen Familie ohne mich … und ich kann nicht genau sagen, wen ich eigentlich als meine Familie bezeichnen kann.
»Ich bin ein Pflegekind. Mit zehn haben meine Eltern mich weggegeben, weil sie sich acht Kinder nicht mehr leisten konnten. Seitdem wurde ich von einer Pflegefamilie zur nächsten weitergereicht.«
Wartet mal, das verstehe ich nicht. »Ich dachte, Mr und Mrs Keener wären dein Onkel und deine Tante?«
»Nach einem Blick in meine Akte wollte mich keine Pflegefamilie mehr aufnehmen, sodass man sie mehr oder minder per Gerichtsbeschluss dazu gezwungen hat. Meine Tante und mein Onkel sprechen nicht mit meinen Eltern. Sie haben vor langer Zeit den Kontakt abgebrochen. Irgendwas von wegen Abschaum heiraten macht einen selbst zum Abschaum.«
Ich kann mir nicht vorstellen, dass meine Eltern mich weggegeben hätten. Auch als mein Dad und ich kaum etwas miteinander zu tun hatten, hat er sich doch immer um mich bemüht. Ich war diejenige, die ihn weggestoßen hat. Meine Mom hat mich aufgezogen, während sie aufs College ging, studiert und gearbeitet hat. Sie hat immer versucht, Kind und Karriere unter einen Hut zu bringen. Dafür bewundere ich sie unheimlich. Ich glaube nicht, dass sie je darüber nachgedacht hat, mich abzuschieben.
»Warum ziehst du dich an wie –«
»Wie ein Trottel?«
»Na ja. Ja.«
»Meine Tante besteht darauf, dass ich mich konservativ kleide. Denkt wahrscheinlich, wenn ich wie ein böser Junge rumlaufe, dann bin ich auch einer.«
»Bist du ein böser Junge, Nathan?«
Er sieht auf den Boden und zuckt mit den Schultern. »War ich zumindest mal. Man fliegt nicht innerhalb von sieben Jahren aus dreizehn Pflegefamilien, weil man ein Musterknabe ist.«
»Und jetzt?«
»Ich denke, ich bin immer noch ganz schön abgefuckt.« Er sieht mich an. »Ich hätte dich nicht vor allen in der Cafeteria küssen dürfen. Und … ich muss gestehen, dass … ich wusste, dass dein Freund heute Abend auf der Party sein würde, und ich habe mich insgeheim darüber gefreut, dass er das mit unserem Kuss herausgekriegt hat. Ich weiß, ich habe dir wehgetan, Amy.«
Die Wahrheit ist, dass ich mir selbst wehgetan habe. Meine Unsicherheit und Gefühlsverwirrung war größer als das, was ich die ganze Zeit tief in meinem Herzen wusste. Nach außen hin mache ich einen auf taff, dabei bin ich eigentlich schwach. Genau wie Nathan.
Ich hake mich bei ihm unter und frage: »Habt ihr Eis im Haus?«
»Glaub schon. Vanille vielleicht.«
»Passt.«
»Du willst mit zu mir kommen?«, fragt er völlig überrumpelt.
»Ja, machen Freunde das nicht so?«
»Ich muss zugeben, dass ich schon ziemlich lang keine Freunde mehr hatte. Keine Ahnung, ob ich überhaupt weiß, wie das geht.«
»Was ist mit Bicky?«, frage ich, als wir in den Lift steigen und in den vierzigsten Stock hinauffahren.
»Sie ist auch ein Pflegekind. Ich habe sie letzten Sommer in einem Heim in Freeport kennengelernt.«
»Wo ist sie jetzt?«
Er holt tief Luft. »Auf Entzug. Sie ist da in eine ziemlich üble Sache hineingeraten und ist völlig am Ende. Jeden Samstag bringe ich ihr Blumen, doch sie lassen mich nicht zu ihr. Meine Briefe und so bekommt sie aber.«
Wow, und ich dachte, mein Familien- und Liebesleben wäre schwierig. Ich verspüre den Drang, meine Mom und meinen Dad zu umarmen und ihnen dafür zu danken, dass sie es mit mir aushalten.
Als wir vor Nathans Wohnungstür stehen, sieht er mich an. »Sag mal, könntest du dich vielleicht umziehen? Dein Shirt ist am Ärmel total vollgerotzt. Als Freund will ich ehrlich zu dir sein.«
Ich sehe hinunter auf mein verschmiertes Shirt. Es ist grotesk. »Bin gleich wieder da«, sage ich und trotte hinüber zu meinem Apartment.
Ich ziehe ein neues Oberteil an und gehe zurück zu den Keeners. Wir lümmeln uns in Nathans Zimmer auf sein Bett und ziehen uns eine große Packung Eis rein.
Ich sehe Nathan an. Wenn man seine bescheuerten Klamotten mal außer Acht lässt, kann man erkennen, dass er möglicherweise ziemlich cool sein könnte. Mit VIEL Hilfe.
»Was schaust du so?«, fragt er und mustert mich mit seinen strahlend grünen Augen.
»Ich habe gerade überlegt, dass es doch Schwachsinn ist, sich anders anzuziehen, nur weil deine Tante und dein Onkel das wollen. Du solltest du selbst sein. Wenn sie dich rausschmeißen, weil du so bist, wie du bist, dann … bin ich sicher, dass du bei mir und meinem Dad wohnen könntest.«
»Und wir wären dann wie Bruder und Schwester?«
»Genau«, sage ich total ernst und meine es auch so. »Wie Geschwister. Und Freunde … gute Freunde.« Ich schiebe mir einen Löffel Vanilleeis in den Mund.
Seine grünen Augen werden plötzlich feucht.
»Nathan, weinst du?«
Eine einsame Träne läuft über seine Wange. »Ja.« Er sieht nach unten und wischt sie hastig weg. »Ich hatte schon lange keine Geschwister mehr, Amy.«
Ich umarme ihn. Ich bin mir ziemlich sicher, das ist seine erste geschwisterliche Umarmung seit vielen Jahren.
»Spielst du wirklich Gitarre?«, frage ich ihn mit einem Blick auf den schwarzen Lederkoffer auf dem Boden, um die Stimmung etwas zu heben.
»Hab mal in einer Band gespielt. Ist aber irgendwie schwierig, wenn man so oft umzieht wie ich.«
Ich hole die Gitarre und halte sie ihm hin. »Spiel mir was vor.«
»Was denn?«
»Einen Song. Für mich.«
»Soll ich mir selbst einen ausdenken?«
»Wenn du kannst.«
»Okay … mal sehen. Er heißt ›My Sister Barbie‹.«