29
Als Sarah Isaak zur Welt brachte, war sie neunzig Jahre und ihr Mann Abraham hundert (Genesis 17,17).
Hoffentlich machen meine Mom und Marc nicht mit Kinderkriegen weiter, bis sie so alt sind.
Wochenende ist das Beste. Vor allem, wenn ich keine Hausaufgaben aufhabe und mein Freund in der Stadt ist.
Am Morgen verlasse ich mein Zimmer in einem schwarzen extrakleinen Wickelshirt, das viel zu freizügig ist. Jess und ich haben uns letzten Winter jede so eins gekauft, als sie superin waren, aber dann haben wir uns nicht getraut, die Teile in der Öffentlichkeit zu tragen.
Beim Frühstück produziere ich mich, indem ich mich weit vorbeuge, um Avi Müsli in die Schale zu schaufeln. Er sieht gar nicht hin. Jedes Mal wenn ich ihm einen prüfenden Blick zuwerfe, sind seine Augen aufs Essen gerichtet. Ich schleppe immer noch mehr Zeug für ihn an … Brot, Hummus, Orangensaft. Er sieht mir ins Gesicht, aber definitiv nicht in den Ausschnitt. Was soll das?
Als mein Dad hereinkommt, wirft er mir einen Blick zu und schlägt sich die Hand vor die Augen. »Amy, wo ist der Rest von deinem Shirt?«
»Das ist alles.«
»Äh … nein. Nein. Nein. Nein. Es bedeckt nicht deine … Teile.« Er zeigt auf Avi. »Schließ die Augen.« Dann droht er mir mit demselben Finger, wobei er sich die andere Hand noch immer vor die Augen hält. »Geh in dein Zimmer und zieh etwas SEHR Zurückhaltendes an. Etwas, das ALLES bedeckt.«
Avis Schultern beben, und ich warte darauf, dass er jeden Moment in dem Versuch, das Lachen zu unterdrücken, sein Müsli herausprustet.
Ich gebe ein ärgerliches Schnauben von mir und sehe meinen Freund an. »Hast du gar nicht mitbekommen, dass mir die Brüste quasi aus dem Shirt herausgefallen sind?«
Avi sieht von mir zu meinem Dad. »Ähm … bist du dir sicher, dass wir das vor deinem Aba besprechen sollten?«
Dad hält die Hände hoch, um das Gespräch zu beenden. »Diese Unterhaltung sollte niemals stattfinden. Amy, ich rufe jetzt deine Mom an. Nachdem du dich umgekleidet hast. Das liegt außerhalb meines Zuständigkeitsbereichs.«
Ich ziehe mich um und muss dann mitanhören, dass meine Mom und mein Dad eine geschlagene Viertelstunde am Telefon über mich sprechen.
»Ich hab sie sehr wohl bemerkt, Amy«, meint Avi, als ich mich wieder auf meinen Platz am Küchentisch fallen lasse.
»Also Anstarren ist anders«, sage ich anklagend.
»Ich wusste nicht, dass das der Plan war.«
Jetzt hat er mich. Normalerweise kann ich es nicht ab, wenn Leute mir auf meinen ausladenden Vorbau, mit dem ich »gesegnet« bin (O-Ton Mom), glotzen. Avi weiß das. Und ich weiß, dass ich mich albern benehme und irrational.
»Falls es dir damit besser geht: Immer wenn du abgelenkt warst, konnte ich meine Augen nicht von ihnen losreißen.«
Obwohl mir bewusst ist, wie lächerlich dieses ganze Gespräch ist, sage ich: »Danke, Avi.«
Er bedenkt mich mit seinem typischen Halb-Lächeln. »Es ist alles sababa.«
»Ja«, sage ich. »Ist es.«
Nachdem Mom mir am Telefon ein längeres Gespräch über Geschlechtsteile, deren Anblick nicht für die Öffentlichkeit bestimmt ist, gehalten hat, schleppe ich Avi ins Museum of Science and Industry. Das ist mein Lieblingsmuseum, vor allem die Ausstellung über tote Babys hat es mir angetan. Offiziell heißt sie Neugeborenenausstellung und zeigt in Formaldehyd eingelegte Embryos und Föten. Die Ausstellung hat mich schon immer fasziniert: zu sehen, wie das menschliche Leben mit einem winzigen Zellhäufchen beginnt und daraus schließlich ein richtiger Mensch entsteht. Das ist echt ein Wunder, anders kann ich es nicht beschreiben.
Lässt einen umso mehr an Gott glauben.
Ich hatte befürchtet, Avi würde es vielleicht langweilig finden, sich tote Babys anzuschauen, doch ein Blick auf ihn verrät mir, dass er ebenso fasziniert ist wie ich. Während ich mir die verschiedenen Entwicklungsstadien anschaue, muss ich an die Mütter dieser Kinder denken – dieser Kinder, die nicht lebensfähig waren. Die schon gestorben sind, bevor ihr Leben richtig losging. Und dennoch leisten sie mehr für andere Menschen als die meisten von uns in ihrem ganzen Leben, und ganz bestimmt mehr als ich mit meinen siebzehn Jahren. Sie tragen dazu bei, dass die Leute etwas lernen, dass sie sich dessen bewusst werden, was da im Körper einer Frau vorgeht, wenn sie schwanger ist, und sie bringen die Menschen sogar Gott näher.
Avi nimmt meine Hand, als wir bei jedem Entwicklungsstadium stehen bleiben und die Föten studieren. Sie sind mit männlich oder weiblich beschriftet (sogar eineiige Zwillinge sind dabei) und auf kleinen Info-Schildchen steht ihr Alter.
Vor einem Fötus, der bis auf die Tatsache, dass er sehr klein ist, vollständig entwickelt aussieht, hebt Avi die Hand ans Glas. »So etwas wie das hier habe ich noch nie gesehen«, sagt er.
Ich weiß, dass nicht jeder diese Ausstellung mag, und wenn man es recht bedenkt, ist sie auch irgendwie unheimlich. Aber es ist ein schönes Gefühl, das hier mit Avi zu teilen und dass es ihn genauso in den Bann zieht wie mich. Vielleicht eines Tages …
Ich sehe Avi von der Seite an. Er lächelt, und ich könnte schwören, dass er dasselbe denkt.
Am Nachmittag fahre ich mit ihm und Köter zu meiner Mom. Ich kann Avi nicht heimfliegen lassen, ohne dass er den anderen Teil meiner Kernfamilie kennengelernt hat, obwohl ich mir nicht sicher bin, wie Marc und Mom sich ihm gegenüber verhalten werden. Und jetzt, da wir uns gerade die Neugeborenenausstellung im Museum of Science and Industry angesehen haben, hoffe ich, dass Avi die Schwangerschaft meiner Mutter nicht allzu komisch vorkommt.
Sobald Mom Köter erblickt, ruft sie: »Musstest du das Tier mitbringen?«
»Mom, du hast einen Garten, in dem er frei rennen kann. Er findet es hier ganz toll.«
Seit ich Köter im Park immer an einer Verlängerungsleine habe, damit er keine anderen Hunde mehr bespringt, ist Moms Haus wie Freedom City für ihn.
»Letztes Mal hast du nicht mal seine Hundehaufen eingesammelt, Amy. Marc ist letzte Woche in ein kleines Souvenir getreten.«
Gut gemacht, Köter. »Tut mir leid, Mom«, sage ich und bemühe mich, ein ernstes Gesicht dazu zu machen, obwohl ich mir denke, dass da sicher Gott seine Hand im Spiel hatte. B’shert, richtig? Fügung.
»Sag nicht mir, dass es dir leidtut, Amy, sag es Marc.«
Nachdem ich Köter im Hintergarten von der Leine gelassen habe, meint Mom: »Und ich nehme an, du bist Avi.«
Avi schenkt ihr sein Wahnsinnslächeln, fährt seinen ganzen Avi-Charme auf und gibt ihr die Hand. Mein Herz schlägt Purzelbäume, weil ich weiß, er macht das für mich, weil es ihm wichtig ist, dass meine Mom ihn mag. Und vielleicht weil er bei meinem Dad letzte Nacht Pluspunkte eingebüßt hat und er dafür ein paar bei meiner Mom gutmachen will, ehe er abreist. Schlaues Kerlchen.
»Wie alt bist du gleich wieder?«, fragt meine Mom und streicht ihr modelblondes Haar zurück. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich denken, sie versucht, Pluspunkte bei ihm zu sammeln.
Sei nicht so streng mit ihr, Amy. Sie bringt dich nicht absichtlich in Verlegenheit. Warte, bis sie die Baby-Nacktfotos aus der Schublade holt, dann kannst du immer noch dazwischengehen.
»Achtzehn«, antwortet Avi.
»Und du bist beim israelischen Militär?«
»Ja.«
Mom setzt sich an den Küchentisch. »Und … was machst du da?«
»Mom, er lässt sich zum Kommandosoldaten ausbilden«, unterbreche ich sie. »Er kann dir nicht den ganzen Tag lang Rede und Antwort stehen, was er macht.«
»Schießt ihr mit Gewehren?«
Avi sieht zwischen mir und meiner Mom hin und her. »Wenn wir müssen.«
Ich brauche eine Cola. Das ist schlimmer, als ich gedacht hätte. Ich öffne den Kühlschrank, aber es ist keine Cola drin … weder Diätcola noch Cherry Coke und auch keine Vanilla Coke. Nicht mal Coke Zero. »Äh, Mom, wo ist die Cola?«
»Wir haben keine im Haus. Ist nicht gut fürs Baby«, sagt sie und legt sich die Hand auf den Bauch.
Während ich auf ihre Hand starre, die über ihren Bauch streichelt, muss ich wieder an die Neugeborenenausstellung denken, die wir uns heute angesehen haben. Zum ersten Mal kann ich mir vorstellen, wie mein kleines Geschwisterchen gerade aussieht. So groß wie meine Faust … wenn überhaupt.
Marc kommt in die Küche und stellt sich Avi vor. Die beiden schütteln sich die Hand. »Spielst du Golf?«, fragt Marc und niest in ein Taschentuch, das er gerade aus seiner Hosentasche gezogen hat.
»Nein. Mein Sport ist Fußball«, sagt Avi und sieht mich an. Ich zucke verwirrt die Schultern. Will Marc auf der Range ein paar Abschläge machen, um Avis Fähigkeiten im Umgang mit einem Schläger zu testen? Oder ist das der verzweifelte Versuch, ein Männergespräch über Sport zu führen, oder schlimmer noch, ist er auf einen Wettkampf aus?
»Warum schaut ihr Jungs nicht mal, ob im Fernsehen ein Fußballspiel läuft, während Amy mir beim Tischdecken hilft?«
»Ich kann auch helfen«, bietet Avi an.
Doch ich sage: »Geh nur«, und schiebe ihn sanft aus der Küche. Mom und ich können ihn hier nicht brauchen, wenn wir über ihn reden.
Während Marc und Avi es sich im Wohnzimmer gemütlich machen, decken meine Mutter und ich den Tisch. Mom strahlt mich an, als hätte ich mich gerade verlobt oder so. »Er ist hinreißend«, sagt sie. »Ich kann verstehen, warum du ihn so magst.«
Ihn magst? Es ist ein bisschen mehr als das: Ich liebe ihn wie verrückt, und wenn er nur im anderen Zimmer ist, ist mir das schon zu weit weg. Ich will gar nicht daran denken, dass ich ihn morgen zum Flughafen fahren und zusehen muss, wie ein Flugzeug mit ihm davonfliegt.
Ich sehe auf den Blumenstrauß in der Mitte des Küchentischs. »Mom«, frage ich, »wie oft warst du eigentlich verliebt?«
»Wie oft ich dachte, ich wäre verliebt, oder wie oft ich wirklich verliebt war?«
»Woran erkennt man den Unterschied?«
»Gar nicht. Zumindest nicht gleich, sondern meist erst hinterher. In der Highschool war ich in Danny Peterson verliebt. In den letzten beiden Schuljahren sind wir miteinander gegangen.«
»Was ist mit Danny passiert?«
»Ich habe ihn erwischt, wie er Shayna Middleton während des Sportunterrichts hinter der Tribüne geküsst hat. Wahrscheinlich hat er mich nicht so sehr geliebt wie ich ihn. Und dann deinen Dad.«
Tief in den blauen Augen meiner Mutter entdecke ich Wehmut. »Warum hast du ihn nicht geheiratet, Mom? Ich weiß, dass er dir mehrere Anträge gemacht hat, aber du wolltest nicht.«
Sie knotet auf dem Tisch ihre Finger ineinander. »Meine Eltern … deine Großeltern … sie dachten, dein Vater wäre nicht gut für mich. Ein Ausländer. Sie meinten, er könnte mich vielleicht verlassen und zurück nach Israel oder sonst wohin gehen. Oder er wolle mich nur heiraten, um die Staatsbürgerschaft zu bekommen, und würde mich dann sitzen lassen.«
»Wünschst du dir manchmal, es wäre anders gekommen?«, frage ich. Ich meine, wenn sie meinen Dad geheiratet hätte, als sie schwanger war, dann müsste ich mich jetzt nicht mit einem niesenden Stiefvater rumschlagen, und meine Eltern würden nicht meilenweit auseinanderwohnen. Wir wären eine ganz normale Familie, nicht so ein Patchwork-Ding.
Sie sagt leise: »Ehrlich gesagt … nein. Dein Vater und ich, das wäre niemals gutgegangen. Er ist mit seiner Arbeit verheiratet, und ich brauche einen Mann, der für mich da ist. Marc richtet seinen Arbeitsplan nach mir aus, nicht anders rum.«
Bei ihren Worten erlischt der letzte Funke Hoffnung in meinem Herzen. An jedem Geburtstag habe ich darum gebetet, dass meine Eltern zusammenkommen – jeden Penny, den ich in irgendwelche Brunnen geworfen habe, jede Wimper, die ich mir vom Finger gepustet habe. Jetzt wird mir klar, dass all das Hoffen und Beten umsonst war. Manche Dinge sind eben, wie sie sind. Die lassen sich nicht ändern. Nicht mal von mir.
»Und wünschst du dir manchmal, du hättest mich nie bekommen?«, frage ich mit einem Kloß im Hals.
Sie reißt die Augen auf. »Nein! Amy, ich würde dich gegen nichts in der Welt eintauschen.«
»Mom, ich war ein Ausrutscher. Ein Unfall. Gib’s zu, du hattest doch nie und nimmer vor, im College von einem One-Night-Stand schwanger zu werden.«
»Sagen wir einfach, du warst nicht geplant. Aber ich habe nie auch nur eine Sekunde darüber nachgedacht, dich wieder herzugeben. Als ich dich nach der Geburt zum ersten Mal im Arm gehalten habe, musste ich furchtbar weinen … vor Glück, Amy. Weil ich nicht geahnt hatte, wie sehr ich dich lieben würde, bis du in meinem Arm lagst. Von dem Moment an hatte ich dich ins Herz geschlossen. Ich weiß, dass ich nicht die beste Mutter war. Ich musste selbst noch richtig erwachsen werden, während ich dich aufgezogen habe. Und ich habe viele Fehler gemacht.«
Jeder macht Fehler. »Ich auch.« Aber ich versuche, sie wieder auszubügeln.
Wird mein Dad sein Leben je nach einer Frau ausrichten? Ja, vielleicht mit hundert, wenn er gezwungen ist, beruflich kürzerzutreten. Ich muss rausfinden, warum er so viel arbeitet, warum für ihn der Beruf oberste Priorität hat und dann erst das Privatleben kommt.
»Es tut mir leid, Amy«, sagt Mom und sieht mich mit einem Hundeblick an, der Köter vor Neid erblassen lassen würde. »Ich hätte dir so gern die Familie geboten, die du dir immer gewünscht hast.«
Ich lächle sie liebevoll an und lege meine Hände über ihre, sodass sie sie nicht mehr ringen kann. »Das ist schon in Ordnung, Mom. Ich kann es jetzt verstehen.«
Das Abendessen mit Mom und Marc war nett. Weil wir wegen Moms Schwangerschaft kein Sushi essen konnten, haben wir uns was beim Thai bestellt. Marc hat sich alle Mühe gegeben, Avi in ein Gespräch zu verwickeln, aber Marc ist nicht gerade ein besonders interessanter Gesprächspartner. Wenn er sich mit einem Thema gut auskennt, kann er allerdings reden wie ein Wasserfall. Zum Beispiel, wenn es um Grundstücke geht. Über Grundstücke in den Top-Lagen von Chicago könnte er endlose Vorträge halten. Dumm nur, dass das keiner hören will.
Nach dem Essen steigen Avi und ich ins Auto und fahren zurück in die Stadt.
»Willst du noch mal zum Strand?«, fragt Avi. »Ich glaube nämlich, wenn es wieder so spät wird wie gestern, dann packt dein Dad die Uzi aus.«
»Was ist eine Uzi?«
»Eine in Israel produzierte Maschinenpistole. War zu Armee-Zeiten deines Vaters äußerst beliebt.«
Ja, ich sehe es schon vor mir: Mein Dad, wie er uns auf seinem Esstischstuhl an der Tür erwartet, mit einer israelischen Maschinenpistole über der Schulter, zusätzlich zu seiner wütenden Miene.
»Nö. Wir gehen in einen Club. Du hast mich in Israel auch zum Tanzen ausgeführt. Es ist Zeit, dass du die Clubs hier mal kennenlernst.«
»Ich dachte, da kommt man in den Staaten erst mit einundzwanzig rein.«
»Ja, aber bei dem nehmen sie es nicht so genau. Außerdem kenne ich einen aus der Band.«