14
Ich mag unheimlich gern gesungene hebräische Gebete. Ich habe keine Ahnung, was die Worte bedeuten, aber wenn ich den Kantor und die Gemeinde gemeinsam singen höre, würde ich am liebsten einstimmen.
Okay, ich gebe es zu. Nathan hat mich überrascht. Ich hätte nie damit gerechnet, dass der Typ hergehen und etwas derartig Verrücktes tun würde, wie mich in der Cafeteria zu küssen und uns zu einem Valentinspaar zu erklären. Jetzt spricht die ganze Schule über uns – hinter meinem Rücken, vor meinem Rücken und auch sonst überall um mich rum. Alle harren mit angehaltenem Atem darauf, dass Amy und Nathan wieder zusammen gesichtet werden.
Aber das werde ich nicht zulassen.
Statt auf den Bus zu warten, fahre ich nach der Schule deshalb mit dem Taxi nach Hause. Wenn Nathan kein Problem damit hat, mich vor der halben Schule zu küssen, was hält er dann vielleicht noch für die Busfahrt parat?
Nachdem Köter sein Geschäft erledigt hat, gehe ich hinüber ins Perk Me Up! Der leckere Duft, der durch das Café zieht, muntert mich augenblicklich auf und verleiht mir neue Energie. Ich muss nicht mal einen Kaffee trinken, um die Koffein-Dröhnung zu kriegen.
Marla reicht mir eine Schürze und ich verfalle umgehend in den Perk Me Up!-Mitarbeiter-Modus. Ich wische Tische, nehme Bestellungen entgegen und habe dabei immerzu ein breites, strahlendes Lächeln im Gesicht. Zeig beim Lächeln deine Zähne, hat Marla mir letzte Woche gesagt. Ja, ich gebe mir Mühe.
Aber das zahnige Lächeln vergeht mir, als Nathan das Café betritt. Er hat seinen Rucksack über der Schulter und – das ist mir zuvor entgangen – lauter Flecken vom Thousand-Islands-Dressing auf seinem weißen Hemd. Ich glaube nicht, dass die wieder rausgehen.
»Tut mir leid«, sagt er, als er an die Kasse kommt. Unglücklicherweise ist er der Einzige, der ansteht.
Marla steht neben mir und bekommt alles mit.
Ich ignoriere Nathans Entschuldigung und sage stattdessen zu ihm: »Willkommen im Perk Me Up! Was darf ich Ihnen bringen, Sir?«
»Komm schon, Barbie. Du hast mich gestern auch geküsst. Warum bin ich dann jetzt der Böse, nur weil ich heute dasselbe gemacht habe?«
»Du hast ihn geküsst?«, fragt Marla.
Ich drehe mich zu ihr. »Nur weil ich wollte, dass er mich nicht mehr so scheiße findet.«
Marla zieht fasziniert die Augenbrauen zusammen. »Du küsst Leute, die dich nicht ausstehen können?«
»Ich finde sie gar nicht scheiße«, schaltet Nathan sich wieder ein.
»Ach, wirklich?«, sage ich sarkastisch und stemme die Hände in die Hüften. »Und wieso nennst du mich dann ständig Barbie? Und warum hast du gestern im Aufzug meinen Kuss nicht erwidert, hattest heute aber kein Problem damit, dass die ganze Schule zugesehen hat?«
»Ich wollte etwas beweisen.«
»Dass du nicht schwul bist? Weißt du, du bist sowieso nicht süß genug, um schwul zu sein.«
Nathan lacht. »Willst du mich verarschen? Du bist das unsensibelste und unausstehlichste Mädchen, das ich kenne. Und du denkst nur in Klischees.«
Ich verschränke die Arme vor der Brust. »Stimmt überhaupt nicht.«
»Das stimmt wirklich nicht«, wirft Marla ein. »Amy hat eine etwas harte Schale, aber sie hat ein Herz aus Gold.«
»Das ist lieb von dir, Marla«, sage ich und umarme sie.
Nathan deutet auf mich. »Sie hält mich für einen Idioten, weil ich alte Klamotten trage und eine Brille habe.«
»Und er hält mich für eine blöde Zicke, weil ich laut ausspreche, was die anderen denken.«
»Wisst ihr, was ich glaube?« Marla rückt näher an den Tresen und beugt sich vor.
»Was?«, fragen Nathan und ich wie aus einem Munde.
»Ich glaube, ihr steht auf einander.«
Ich verdrehe die Augen, während Nathan sich schüttelt, als würde ihm der Gedanke Übelkeit erregen.
»Nee«, sagt er.
»Kein bisschen«, sage ich. »Außerdem habe ich Avi. Und er seine Bucky.«
»Bicky.«
»Auch recht.«
»Schon klar«, meint Marla, als wüsste sie genau, was Sache ist, und schlendert zum Vorratsraum. »Ihr beide seid definitiv verknallt.«
Nathan fängt zu lachen an.
»Das ist nicht witzig«, murmle ich. Jetzt betreten neue Kunden das Café. Das ist meine Chance, ihn loszuwerden. »Bitte geben Sie Ihre Bestellung auf, oder treten Sie ein Stück zur Seite, damit ich jemand anderen bedienen kann«, sage ich zu ihm.
»Ich nehme einen mittleren Grüntee mit Eis, ungesüßt«, sagt er und lenkt damit meine Aufmerksamkeit wieder auf sich.
Das sieht ihm ähnlich, so fades Zeug zu bestellen.
Nachdem ich ihn abkassiert und mich umgedreht habe, um sein blödes Langweilergetränk zuzubereiten, meint Nathan so laut, dass ich es hören kann: »Und spuck nicht rein.«
Als würde ich so was tun. Also bitte!
Ich reiche ihm sein Getränk über die Theke und konzentriere mich auf die anderen Gäste.
Die Stunde vergeht wie im Flug. Auch wenn Getränke zubereiten, Tische abputzen und auch noch Nathan ignorieren, der in einer Tour in der Computerecke herumtippt, ganz schön anstrengend ist. Ich seufze erleichtert auf, als mein Dad zur Tür hereinkommt, um mich abzuholen.
Er hat sich nach der Arbeit bereits umgezogen und trägt eine schwarze Jeans und ein dunkles Longsleeve. Ich habe ihn überredet, sich die Haare ein bisschen wachsen zu lassen, und er sieht schon viel cooler aus als vorher. Aber es dauert bestimmt noch zwei Monate, bis er einen richtig guten Style hat.
»Hey, Aba«, begrüße ich ihn.
Aus den Augenwinkeln registriere ich, dass Nathan uns beobachtet.
»Wie war’s heute in der Schule?«, fragt Dad.
Ich sehe zu Nathan hinüber, der nun vorgibt, sich auf den Monitor zu konzentrieren, aber ich weiß, dass er keine verdammte Zeile liest. Er fragt sich bestimmt, ob ich meinem Dad erzähle, was in der Cafeteria passiert ist. »Wie immer. Und bei dir?«
Mein Dad küsst mich auf den Scheitel. »Ich bereite gerade eine Präsentation für D.C. vor. Bist du fertig?«
»Japp.«
»Wunderbar. Wohin geht’s?«
Ich nehme ihn am Ellbogen und dirigiere ihn hinaus in die Kälte. »Komm mit«, sage ich und biege in die State Street ein.
Ich drücke mich an meinen Dad und versuche, ein wenig von der Wärme seines starken Kommando-Arms abzubekommen. »Tut mir leid, dass ich dich gestern angeschrien habe«, sage ich. »Ich will doch nur, dass du glücklich bist.«
»Mir tut es auch leid. Sag mal, du hast keine weiteren Treffen für mich vereinbart, oder?«
»Da sind wir schon«, verkünde ich, als wir in die schicke Oak Street mit all den Designerboutiquen und Nobelsalons abbiegen. Ich ziehe ihn gleich ins erste Gebäude hinein, ein Studio, das sich Sheer-Ahz nennt. Dass ich ihn in letzter Minute zu einem Speed-Dating angemeldet habe, lasse ich ganz bewusst unter den Tisch fallen.
»Lässt du dir eine neue Frisur machen?«, fragt er, als er kapiert, dass Sheer-Ahz ein Schönheitssalon ist.
»Nö.«
Er bleibt abrupt stehen. »Und was sollen wir dann hier?«
Ich sehe zu ihm auf und lächle ihn breit an, als wäre er ein Gast im Perk Me Up! »Wir lassen uns die Nägel maniküren.«
»Du meinst, du bekommst eine Maniküre.«
»Nein, du hast mich schon richtig verstanden, Aba.«
»Männer lassen sich nicht die Nägel machen.«
»Ach, komm. Hast du noch nie was von metrosexuellen Männern gehört?«
Mein Dad schüttelt den Kopf. »Nein. Und ich bin sicher, ich will auch keiner sein.«
»Hast du nicht gesagt, ich darf mir aussuchen, was wir heute Abend unternehmen?«
»Ja, aber –«
Ich sehe meinen Vater eindringlich an – er ist einer der wenigen Menschen, die mich und meinen ganzen Mist aushalten und mich trotzdem lieb haben. Vielleicht ja sogar gerade deshalb. Mein Dad tut so, als hätte er vor nichts und niemandem Angst, aber ich habe gerade seine Schwachstelle entdeckt … die Nägel gerichtet zu kriegen. Nicht zu fassen. »Genau das will ich machen. Meine Nägel sind ganz brüchig. Betrachte es einfach als Investition in eine gute Vater-Tochter-Beziehung.«
»Können wir unsere Bindung nicht festigen, indem wir Hallenfußball spielen oder so?«, fragt er.
»Ich stehe nicht auf Fußball. Ich stehe auf Maniküre.« Ich ziehe seine ganzen 1,82 Meter zum Empfangstresen. »Wir haben einen Termin für zweimal Maniküre«, informiere ich die Dame. »Amy und Ron Barak.«
Sie zuckt mit keiner Wimper, als sie unsere Namen in den Computer eingibt und etwas auf zwei Tickets notiert, die sie uns aushändigt. »Sie können sich im Meditationsraum gerne eine Erfrischung nehmen, während Sie warten.«
Mein Dad sieht mich mit großen Augen an. »Hat sie gerade Meditationsraum gesagt?«, fragt er mit seiner tiefen Männerstimme, und ich könnte schwören, dass er sie gerade noch tiefer macht als sonst.
Als wir in das weiße Zimmer kommen, dessen Wände mit Seide ausgekleidet sind, wirkt er nervös. Überall brennen Duftkerzen, im Hintergrund plätschert leise Musik. Ich glaube nicht, dass jemals ein israelischer Ex-Kommandosoldat einen Ort wie diesen betreten hat. In die Wüste passt Ron vermutlich besser. Oder in ein Kriegsgebiet.
In dem Raum befinden sich außer ihm keine anderen Männer, nur eine Dame in einem Frotteebademantel. Ich wette, dass sie darunter nichts anhat. Sie liest ein Gratismagazin und beachtet uns nicht weiter.
»Setz dich«, sage ich zu meinem Dad, während ich mich in einen plüschigen weichen cremefarbenen Sessel sinken lasse und meinen Atemrhythmus der langsamen Musik anpasse.
»Ich stehe lieber«, sagt er kurz angebunden.
Ich schließe die Augen und schalte ab. »Wie du willst.«
Nach ein paar Minuten werden wir von zwei Frauen in langen weißen Kitteln aufgerufen. »Ron und Amy Barak.«
»Das sind wir«, sagt er, dann klatscht er in die Hände und reibt sie aneinander. Das Geräusch lässt mich zusammenzucken und alle starren ihn an. Sehr geschmeidig, Dad.
Als wir uns nebeneinandersetzen, nimmt die Nageltechnikerin Dads Hand und legt sie in eine kleine Schale Seifenwasser.
»Ich will keine Farbe«, sagt er hastig zu der Frau.
Ich würde am liebsten stöhnen. Glaubt er ernsthaft, sie würden ihm die Nägel leuchtend rot oder Fuchsia-pink anmalen? »Aba, Männer kriegen Klarlack oder hautfarben.« Ach nee.
»Ah. Okay …«
Also echt, reiß einen Kerl aus seinem gewohnten Umfeld und er ist völlig verwirrt und verunsichert. Meine eigene Nageltechnikerin Sue massiert mir fachmännisch den Handrücken, die Handinnenfläche und die Finger, die unter ihren geschickten Berührungen weich wie Wackelpudding werden.
»Meine Tochter hat mich hierhergeschleift«, erzählt mein Vater der Frau, sagt es jedoch laut genug, dass es alle in dem kleinen Kosmetikstudio hören können. Komm schon, männlicher Mann! Ja, mach all den Frauen klar, dass du ein starker Krieger bist. Aber verschone mich.
»Aba, du hast Schwielen und deine Haut ist total trocken und rissig. Du siehst echt aus wie ein Dinosaurier. Hab ich recht, Sue? Schauen Sie sich nur mal seine Pranken an.«
Sue ist extrem diplomatisch, als sie einen Blick auf die Hände meines Vaters wirft. Sie lächelt ihn freundlich an und lässt meinen Händen weiter ihre magische Massage angedeihen.
Es ist Dad deutlich anzumerken, als auch seine Nageltechnikerin mit der Handmassage beginnt. Zum ersten Mal seit wir den Laden hier betreten haben, sind seine Schultern nicht mehr so angespannt hochgezogen, sondern sinken in den Relax-Modus.
Von der hohen Luftfeuchtigkeit hier drin kräuseln sich seine Haare und lassen ihn jünger und verletzlich wirken. Ich frage mich, ob er jemals unsicher war. Hat er als Jugendlicher seltsame Phasen durchgemacht oder ist er schon so hart und männlich und selbstbewusst auf die Welt gekommen?
Mit seiner olivbraunen Haut, den markanten Gesichtszügen und der großen, scharfen Nase sieht mein Dad nach Nahem Osten aus. Wenn ich ihn nicht kennen würde, würde ich ihn aber nicht automatisch für einen Juden halten. Ich frage mich, ob er sich je gewünscht hat, jemand anders zu sein als der, der er ist.
Ich hätte zum Beispiel nie gedacht, dass ich irgendeiner Religion angehören wollen würde, doch nun habe ich meine Meinung geändert. Jüdisch zu sein, ist nichts, was man sich so überlegt, es ist ein Teil von mir. Ein Teil, den ich erst vor Kurzem entdeckt habe, aber dennoch ein bedeutender.
»Nach meiner Konversion möchte ich eine Bat Mitzwa«, sage ich zu meinem Vater und lenke damit seine Aufmerksamkeit wieder auf mich.
»Mit einer großen Feier?«, fragt er.
Je länger ich darüber nachdenke, desto klarer wird mir, dass ich keinen großen Rummel möchte. »Ich würde lieber danach nur Jessica und ein paar Freunde zu uns einladen. Und Mom und Marc. Also, wenn das für dich okay ist.«
»Das ist okay. Es ist sogar ganz wunderbar.«
Er sieht aufmerksam zu, wie die Kosmetikerin seine Nagelhaut wegschneidet oder zurückschiebt und seine Nägel in Form feilt. Ich glaube, dass es ihm genauso gut gefällt wie mir, aber das würde mein super-männlicher Dad bestimmt niemals zugeben.
Ich suche mir eine French Manicure aus, während Dad sich für ein schlichtes Fläschchen Klarlack entscheidet.
Als wir fertig sind, geleiten uns die Nageltechnikerinnen an den Trockenplatz und instruieren uns, unsere feuchten Nägel unter ultraviolettes Licht zu halten, damit sie schneller trocknen.
Ich lege meine Hände darunter, während Dad sein Lichthärtungsgerät nimmt und untersucht.
»Stell das wieder hin, bevor wir Ärger bekommen«, flüstere ich.
»Ehe ich meine Hände unter etwas stecke, möchte ich gern genau wissen, worum es sich handelt. Sei nicht so vertrauensselig, Amy«, rät er mir und verfällt in seinen Security-Modus.
Ich kichere. »Genau, die Kosmetikerinnen sind der Feind. Da muss man echt Schiss haben. Ultra-Schiss.«
Er stellt das Gerät wieder hin, hält aber noch immer nicht seine Hände unter das fluoreszierende blaue Licht. »Reden wir über Avi«, sagt er stattdessen.
»Warum?«
Er zuckt die Achseln. »Ich möchte nur wissen, ob ihr immer noch ein Pärchen seid.«
»Dad, das Wort ›Pärchen‹ ist schon seit den Siebzigern out, aber ja, ich finde ihn immer noch toll. Mir ist klar, dass wir uns lange nicht gesehen haben, aber ich hoffe, dass er im Sommer, wenn wir nach Israel fliegen, freikriegt.« Ich sehe meinen Dad von der Seite an. »Du weißt, dass er mein Nicht-Freund ist, oder?«
»Was genau bedeutet das?«, fragt er. »Ich habe Jesscia und dich das ein paarmal sagen hören, aber ich verstehe es nicht.«
Ich prüfe meine Nägel, um zu sehen, ob sie noch feucht sind und mehr ultraviolette Strahlen brauchen, aber sie sind so trocken wie die Hausbar meines Stiefvaters. Ich rutsche von meinem Hocker, und versuche, die Beziehungsbezeichnung, die Avi aufgebracht hat, zu definieren. »Das bedeutet, dass wir mit anderen zusammen sein dürfen, weil wir im täglichen Leben kein richtiges Paar sein können. Es ist ziemlich unverbindlich und zwanglos. Wir sind einfach supergute Freunde. Alles klar?«
Er nickt. »Alles klar.«
»Apropos zwanglos, ich habe eine Überraschung für dich.«
»Aber nicht wieder ein Internetdate?«
»Nein, nein«, sage ich und schüttle energisch den Kopf. »Es sind gleich mehrere Dates auf einmal. Heute Abend. Speed-Dating in der Blues Bar in der Chicago Avenue. In fünfzehn Minuten geht’s los. Du musst dir keine Gedanken machen, wie du jemanden beeindrucken kannst. Jedes Date dauert immer nur drei Minuten, und es geht mehr darum, ob irgendwie ein Funke überspringt.«