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Debora war eine große Prophetin Israels und regierte das Land sogar eine Weile (Richter 4,4).

Sie befahl einem Mann namens Barak (möglicherweise eine Verbindung zu mir?), mit zehntausend Mann in den Kampf zu ziehen. Barak stimmte zu, aber nur unter der Bedingung, dass sie mitkäme.

Irgendwie läuft es in meinem Leben ähnlich, oder? Beweist mal wieder, dass Männer nicht ohne Frauen auskommen.

Ich will protestieren, doch ehe ich michs versehe, habe ich den Rucksack schon in der Hand. »Dad, er kommt ihn bestimmt holen, sobald er checkt –«

»Amy, sei nicht so ein Snob.«

Mir fällt vor Schreck die Kinnlade runter. Mein eigen Fleisch und Blut hat mich gerade als Snob bezeichnet. Ich stürme aus dem Café und in die Eingangshalle unseres Apartmenthauses und nicke dem Portier zu, der mich zu den Aufzügen durchwinkt.

»Amy, komm zurück«, sagt mein Dad.

Ich stütze die Hände in die Hüften. »Ich glaub es nicht, dass ausgerechnet du mich als Snob titulierst.«

Mein Dad lenkt nie ein. Wahrscheinlich machen ehemalige Kommandosoldaten immer einen auf total taff – wie in der Armee, so auch im Privatleben. Berufsrisiko. »Nur weil er anders aussieht als die Jugendlichen, mit denen du sonst zusammen bist, heißt das nicht, dass du nicht mit ihm befreundet sein kannst.«

»Dad, er hat Kyle Sanderson erzählt, ich hätte mich bei einer Singlebörse angemeldet, weil keiner mit mir zum Valentinstanz gehen will.«

Wer ist jetzt der Snob, hm?

Mein Dad macht ein sorgenvolles Gesicht und zieht die Augenbrauen zusammen, während er diese neue Information sacken lässt. Dann atmet er tief durch und sagt: »Stell ihn zur Rede.«

So klingt ein echter Israeli.

Als der Aufzug auf unserem Stockwerk anhält, steige ich aus, drehe mich zu meinem Vater um und halte ihm Nathans Rucksack hin (der eine Tonne wiegt, wie ich hinzufügen möchte). »Bring du ihm das Ding zurück. Dann kannst du auch gleich fragen, was er sich dabei gedacht hat, so blöde Gerüchte über deine Tochter in die Welt zu setzen.«

»Wir gehen gemeinsam.«

Ah, Komplizen. »Abgemacht.«

»Abgemacht.«

Ich folge ihm über den Flur zur Wohnung von Nathans Tante und Onkel. Mein Vater klopft äußerst lautstark an die Tür, als könne er seine Kräfte nicht richtig einschätzen. Typisch Dad.

Mr Keener öffnet, bittet uns aber nicht herein.

»Nathan hat seinen Rucksack im Café vergessen«, sagt mein Dad. »Amy wollte ihn zurückbringen.«

Mit einem Lächeln zieht Mr Keener die Tür weiter auf. »Komm rein. Nathan ist im Gästezimmer, zweite Tür rechts.«

Mein Dad legt mir die Hand auf den Rücken und schiebt mich vorwärts. Ich war noch nie in der Wohnung der Keeners. Die beiden leben ziemlich zurückgezogen. Zögernd trete ich ein. Ich fühle mich beklommen und bin froh, dass mein Vater bei mir ist.

Ein Handy läutet. Dads Klingelton – die israelische Nationalhymne. Peinlich, aber passt zu ihm. Auf dem Flur nimmt er den Anruf entgegen. »Tut mir leid, motek, aber ich muss da rangehen«, sagt er, winkt mir zu und lässt mich in der Diele der Keeners stehen.

Na toll.

Dann muss ich jetzt also auch noch in Nathans Zimmer. Ganz allein. Ohne moralische Unterstützung.

Mr Keener deutet auf Nathans Tür. Okay, ich tu’s. Vor dem Kerl habe ich keine Angst. Und wenn ich ihm seinen Rucksack in die Hand gedrückt habe, dann sage ich ihm die Meinung.

Amy Nelson-Barak lässt sich nämlich nicht verarschen.

Entschlossen steuere ich auf die zweite Tür rechts zu. Sie ist zu, sodass ich klopfen muss. Ich drehe mich um und sehe, dass Mr Keener mir nicht gefolgt ist. Zuerst klopfe ich mit der freien Hand leise an. Keine Reaktion. Ich poche etwas lauter.

Nachdem ich wieder keine Antwort bekomme, frage ich mich schon, ob er vielleicht gar nicht zu Hause ist. Was nicht das Schlechteste wäre. Natürlich will ich ihn zur Rede stellen und so, aber ich bin mir nicht sicher, ob das hier in seinem Revier so gut ist. Nach den taktischen Regeln der Kriegsführung ist Nathan auf diese Art nämlich im Vorteil, denn in seinem eigenen Revier hat man die Oberhand.

Ich drehe am Türknauf, um zu prüfen, ob abgeschlossen ist. Nein. Ich drehe den Knauf weiter und öffne einen Spaltbreit, damit ich hineinspähen kann. Nathan ist zwar da, hat aber die Stöpsel seines iPods in den Ohren, sodass er mich nicht hören kann. Mit einem Stift trommelt er im Takt zur Musik auf eine Heftmappe.

Doch als ich ihm ins Gesicht sehe, fixieren mich zwei grüne Augen, die sich zu Schlitzen verengen.

»Ich kann dich sehen«, sagt er.

Verdammt. Ich mache die Tür weiter auf und gehe hinein, während er die Stöpsel aus den Ohren zieht. »Du hast deinen Rucksack im Perk Me Up! vergessen. Als Zeichen meines guten Willens bringe ich ihn dir zurück.«

Er zuckt mit den Schultern. Ein Danke wäre nett gewesen. Es könnte echt nicht schaden, wenn jemand Nathan mal ein bisschen Benimm beibringt.

Während ich den Rucksack abstelle, lasse ich den Blick durchs Zimmer schweifen. Es ist offensichtlich, dass es ein Gästezimmer ist. An den Wänden stehen alte Bücherregale und den größten Teil des Raums nimmt ein Ausziehbett ein. Nathan liegt halb auf dem Bett, gegen das Kopfteil gelehnt, und starrt mich an.

»Wer ist das Mädchen?«, frage ich und hebe ein Foto von einer hübschen Blondine im Bikini hoch. Sie hat kurzes Haar und Bauchmuskeln, von denen ich nur träumen kann. »Deine Schwester?«

Nathan schiebt seine Brille hoch. »Das ist meine Freundin.«

Ja. Klar. Nie im Leben ist das Nathans Freundin. Darauf verwette ich meinen Hund.

Doch meine Neugier gewinnt die Oberhand. »Wie heißt sie?«

»Bicky.«

Moment mal. Was hat er gesagt? »Becky?«, frage ich nach. Die Alternative ist absolut lächerlich.

»Bicky«, wiederholt er.

»Bicky?«

»Jetzt hast du wieder dieses Barbie-Getue drauf.«

Ich übergehe seine Beleidigung. »Ist das ihr richtiger Name oder ein Spitzname?«

Nathan steht vom Bett auf und nimmt mir das Bild aus der Hand. »Sie heißt Bicky. Kein Spitzname. Einfach Bicky.«

Während er das Foto in seinen halb geöffneten Koffer stopft, sage ich: »Du wirfst mir so einen Mist, von wegen ich wäre so barbiemäßig, an den Kopf, während du hirnrissige Gerüchte über mich streust, um dich wichtig zu machen.«

»Das habe ich nicht«, sagt er. »Und ich will mich bestimmt nicht bei deinen Freunden anbiedern, wenn es das ist, was du meinst.«

»Du hast Kyle erzählt, ich hätte mich bei einer Partnervermittlung angemeldet. Nur zu deiner Information – nicht, dass es dich irgendetwas anginge –, ich habe meinen Dad angemeldet.«

Nathan zuckt die Achseln, als wäre es keine große Sache, meinen Ruf mit gezielten Fehlinformationen zu ruinieren.

»Was hast du eigentlich gegen mich?«

Er fährt mit der Hand durch seine wirren hellbraunen Haare, die von der Farbe her an Ahornsirup erinnern, und seufzt. »Es geht nicht gegen dich persönlich, Amy. Ich kann nur so Leute wie dich nicht ab.«

»Das kommt aufs selbe raus«, sage ich und stürme aus dem Zimmer. Als ich in unsere Wohnung stampfe, sitzt mein Dad am Esstisch. Er telefoniert noch immer und wühlt in irgendwelchen Unterlagen.

Männer. Das schreit nach Rache. Ich gehe in unser kleines Arbeitszimmer, in dem der Computer steht, und tippe www.pjsn.com ein. Ich werde aufgefordert, meinen Benutzernamen und mein Passwort einzugeben.

Fünfundfünfzig neue Leute, die Dad eine Nachricht geschrieben haben, und die zwei Frauen, die ich auf einen Kaffee eingeladen habe, haben auch geantwortet. Wow. Kelly, die Personalerin, würde liebend gern einen Kaffee trinken gehen. Und Wendy, die Anwältin, schreibt, dass sie einen Amerikaner sucht und nicht interessiert ist.

Auch recht. Ich wollte sowieso keine Anwältin als Stiefmutter. Anwälte befolgen sklavisch alle Regeln und Verbote. Das ist nicht mein Stil. Ich liebe die Grauzonen.

Ich maile der Personalfrau zurück und schlage morgen Abend um sieben ein Treffen mit mir (sprich meinem Dad) im Perk Me Up! vor.

Als ich mich im Stuhl zurücklehne, dringt ein Rascheln aus meiner Gesäßtasche. Oh mein Gott! Nicht zu fassen, aber bei all der Aufregung wegen Nathan und meinem Dad habe ich Avis Brief ganz vergessen. Ist das ein Verrat an unserer Beziehung?

Ich logge mich schnell aus und mache, dass ich in mein Zimmer komme. Gemütlich auf mein Bett gekuschelt, streiche ich den Umschlag glatt und öffne den Brief.

»Entschuldige, Avi.« Er kann mich nicht hören, aber vielleicht hört es mein Gewissen.

Als ich den Brief auseinanderfalte, beginnt mein Herz zu rasen.

Amy,

Du weißt, dass ich nicht gut mit Briefen bin, aber ich habe Dir versprochen zu schreiben, und daran halte ich mich auch. Ich werde an einen neuen Armeestützpunkt versetzt, aber ich darf Dir nicht sagen, wohin. Das ist streng geheim. Dafür kann ich Dir berichten, dass ich heute mit einem neuen Gewehr geschossen habe. Ich weiß, dass Du Waffen hasst, aber die war echt cool. Mit der kann man um die Ecke schießen. Jeden Tag rennen wir, bis mir fast die Beine abfallen. Morgen wird meine Einheit mitten in der Nacht in der Wüste Negev abgesetzt, um zu testen, ob wir in der Lage sind, uns allein, nur anhand der Sterne, in der Wüste zu orientieren. Ja, mehr gibt es nicht zu berichten. Sollte ich das Wüstentraining überleben, lasse ich wieder von mir hören. Ich vermisse Dich, das weißt Du doch, oder?

Avi

Ich drücke den Brief an meine Brust und konzentriere mich auf den letzten Satz. Ich vermisse dich, das weißt du doch, oder? Avi steht nicht so auf Kitsch. Er ist auf der Hut, weil er bei einem Bombenanschlag seinen Bruder verloren hat. Seitdem ist er ziemlich verschlossen, er will nicht verletzlich sein und seine Trauer zulassen. Außerdem möchte er nicht, dass ich die ganze Zeit nur auf ihn warte, während er wie vorgeschrieben seine drei Jahre in der israelischen Armee dient. Deshalb schreibt er auch keine romantischen, schmalzigen Briefe.

So einen romantischen, schmalzigen Typ will ich sowieso nicht. Ich will Avi. Ja, ich weiß, ich werde ihn erst wiedersehen, wenn ich im Sommer nach Israel fliege. Ich erwarte nicht, dass er auf mich wartet. Na gut – tue ich doch. Aber ich gebe es in der Öffentlichkeit nicht zu.

Ich lehne mich zu meinem Nachttisch hinüber, öffne die Schublade und ziehe das silberne Gliederarmband heraus, das Avi mir letzten Sommer geschenkt hat, als wir zusammen waren. Dabei fällt mir ein Foto von ihm in die Hand. Ich habe es mit Dads Kamera nach unserem letzten offiziellen Date gemacht, bei dem ich von ihm erst Sushi und dann Köter bekommen habe.

Ich studiere das Bild eingehend – seine Mokkaaugen und seine dicken dunklen Haare. Nicht zu vergessen sein Markenzeichen: das Halblächeln, bei dem mir jedes Mal das Herz stehen bleibt. Nie und nimmer lassen ihn die israelischen Mädchen in Ruhe, so viel steht fest. Das macht mir Angst und ist Futter für meine schlimmsten Komplexe. Ich bin nicht hübsch genug, meine Brüste sind zu groß, ich bin nicht dünn genug.

Kotz, ich hasse es, wenn ich mich so auseinandernehme und mich nur auf meine Makel reduziere. Avi mag mich dafür, wie ich bin. Das weiß ich.

Sein Bild zu küssen, wäre voll daneben. Das würde mir nicht im Traum einfallen. Dafür drücke ich es an meine Brust und umarme es. Das ist auch daneben, aber immer noch weniger als knutschen.

»Amy, tut mir leid, aber der Anruf war wichtig.«

Wunderbar, jetzt platzt mein Dad auch noch einfach so hier rein und kriegt mit, dass ich ein Foto umarme. Das Einzige, was mich davon abhält, ihm einen Vortrag darüber zu halten, dass man bei Jugendlichen an die Tür klopft, ist das Rache-Date, das ich für ihn vereinbart habe. »Weißt du, was dein Problem ist?«, sage ich.

»Was?«

»Bei dir kommt erst die Arbeit und dann das Privatleben.«

Er nimmt das Leben viel zu ernst, aber ich gebe mir Mühe, ihn da etwas lockerer zu machen. Das mit der Arbeit bereitet mir wirklich Sorgen. Er kriegt bestimmt bald einen Herzinfarkt, wenn er nicht ein bisschen kürzer tritt.

Er kommt näher und ich lasse Avis Bild mitsamt dem Brief schnell unter dem Kopfkissen verschwinden.

»Ich habe Verpflichtungen, Amy, die ich vor langer Zeit eingegangen bin.«

»Ja, ja«, sage ich und setze mich auf. »Die Leier kenne ich schon. Was ist jetzt wieder? Braucht dich der Präsident der Vereinigten Staaten als Bodyguard?«

»Dafür ist der Secret Service zuständig.«

»Was ist dann so wichtig?«, frage ich ihn.

»Ich muss ein paar Tage verreisen. Darum ging es in dem Telefonat. Es lässt sich auch nicht verschieben, diesmal nicht.«

Cool. Dann habe ich sturmfreie Bude? Das eröffnet ungeahnte Möglichkeiten.

»Wann?«, frage ich ein bisschen zu eifrig.

»Am Freitagmorgen. Am Sonntag komme ich zurück.«

Zwei Nächte ohne elterliche Aufsicht! Da sieht die Zukunft doch gleich viel rosiger aus. »Darf ich dein Auto nehmen?«

»Nur, um zu deiner Mutter zu fahren. Du wirst dort wohnen. Ich habe gerade mit ihr gesprochen. Du kannst meinen Wagen haben, um zu ihr zu fahren.«

Das sehe ich ja überhaupt nicht ein. »Ich bleibe ganz bestimmt nicht bei Mom und Marc. Was soll ich denn dann mit Köter machen? Außerdem glaube ich, dass Marc allergisch auf uns beide ist.«

»Der kommt in eine Hundepension.«

Ich wünschte, er würde über Marc sprechen, aber so viel Glück habe ich nicht. Ich stehe auf, bereit zum Kampf. »Also, Köter und mich gibt es nur im Doppelpack. Das mit der Hundepension kannst du vergessen. Ende. Basta. Aus.«

Ich brauche geschlagene sechsundfünfzig Minuten, bis ich ihn davon überzeugt habe, dass ich alt genug bin, ohne Eltern in der Wohnung zu bleiben.

Die Zukunft liegt verheißungsvoll vor mir.