19
Auch wenn die israelische Armee stark ist, mache ich mir doch Sorgen um Israel.
Ich bete für die Sicherheit meiner Familie, die in Israel lebt, und für meinen Freund, der beim Militär ist. Kann ich irgendetwas tun, damit diese Welt friedlicher wird?
Meine Schicht im Perk Me Up! ist fast um, als – ihr habt es erraten – Nathan hereingeschlendert kommt. Er geht zum Counter und sagt: »Einen mittleren Grüntee mit Eis, ungesüßt.«
Er sieht mich nicht mal an, sondern widmet seine Aufmerksamkeit ausschließlich den kleinen Zuckerpäckchen neben der Kasse. Dabei hat er doch offenkundig kein Interesse an Zucker, weil er seine Getränke nicht gesüßt haben will.
Marla steht neben mir und summt eine kleine Melodie vor sich hin, wobei sie sich sichtlich Mühe gibt, der Interaktion zwischen Nathan und mir keine Beachtung zu schenken.
Als ich Nathan sein Getränk reiche, fragt er: »Wo ist Abi?«
»Er heißt Avi, das weißt du genau.«
Nathan nimmt einen Schluck von seinem kalten Tee und sieht mich dabei über den Rand der Tasse an. Als er die Tasse absetzt, meint er: »Auch recht«, und imitiert damit den Wortlaut eines unserer früheren Gespräche. »Hat er dich schon abserviert?«
Es würde mir nicht so verdammt wehtun, wenn es der Wahrheit nicht so nahe käme. »Nein. Siehst du nicht, dass ich arbeite?«
»Ich bin ein Kunde. Ich schätze, zu Kunden solltest du freundlich sein.«
Ich werfe Marla einen Blick zu, die jetzt nicht mehr so tut, als würde sie nichts mitbekommen. »Nur zu«, sagt sie. »Kümmere dich nicht um mich. Das ist äußerst unterhaltsam. Ich überlege, ob ich vielleicht in Zukunft Eintritt verlangen könnte … oder eine Perk Me Up!-Open-mic-Night veranstalten soll.«
Ich atme tief durch, schüttle den Kopf und wende mich wieder Nathan zu, der noch immer an der Theke steht. Der Kerl will einfach nicht abhauen.
Er beugt sich vor und flüstert mir zu: »Du magst mich nicht, weil ich ein Streber … ein Trottel … uncool … spaßbefreit bin – oder welches Etikett du mir auf die Stirn geklebt hast.«
»Das stimmt nicht«, sage ich.
»Ach ja. Und warum findest du dann diesen Avi so toll? Ist sein Gehirn wohl genauso groß wie sein Bizeps?«
»Nicht, dass es dich etwas anginge, aber er ist wirklich schlau. Man darf die Leute nicht nur nach ihren Schulnoten beurteilen. Es ist auch wichtig, dass man mit jemandem Spaß haben kann, dass jemand kontaktfreudig ist und im echten Leben Köpfchen beweist.«
»Wenn du so auf den Typ abfährst, warum hast du mich dann im Aufzug geküsst? Ach, stimmt ja. Das hast du nur zum Spaß gemacht.«
»Habe ich nicht.«
»Ja, richtig, Plastikmädchen wie du spielen gerne mit den Gefühlen anderer. Ihr macht euch keine Gedanken über die Konsequenzen eures Handelns oder darüber, ob ihr vielleicht jemanden verletzt.«
Mir fällt die Kinnlade runter. Will Nathan mich verarschen? Ich würde ihn doch nicht zum Spaß küssen, nicht mal als Mutprobe. Ich habe ihn geküsst, um ihn in der Hand zu haben. Wenn er wegen unseres Kusses seine Meinung über mich geändert hätte, hätte ich alles unter Kontrolle gehabt. Es wäre allein meine Entscheidung gewesen, ob er mich hasst oder mag. Ich gebe zu, das war ziemlich berechnend.
Nathans Brille rutscht auf seiner Nase nach vorn und er schiebt sie wieder hoch. »Ich wette, wenn ich einen auf cool mache und mich cool anziehe, dann würdest du diesen Avi für mich verlassen.«
»Willst du wetten?«
Die Tür des Cafés geht auf. Es ist Avi. Und er wirkt nicht gerade glücklich darüber, dass ich mit Nathan rede. Nathan muss mein Zögern spüren, denn er nimmt seinen Eistee-ungesüßt und stampft zu seinem Stammplatz davon, um zu lesen.
Marla legt mir ihre Hand auf die Schulter. »Du kannst gehen, Amy. Deine Schicht ist zu Ende.«
Dank sei dem Herrn.
Ich ziehe die gelbe Schürze aus, stelle mich auf die Zehenspitzen, schlinge die Arme um Avi und gebe ihm einen dicken Schmatz. Das wird ihm zeigen, wie sehr ich ihn vermisst habe, und Nathan, wie viel Avi mir bedeutet, und allen anderen (inklusive Jessica), dass er zu mir gehört.
Avi findet meine Idee anscheinend gut und umarmt mich. »Lass uns abhauen«, flüstert er gegen meine Lippen, nimmt mich an der Hand, und wir verlassen das Café gemeinsam, als Paar.
Als wir in die kalte Nachtluft hinaustreten, habe ich das Gefühl, dass das Eis zwischen uns gebrochen ist. Mein Handy klingelt. Es ist Dad. »Hey, Aba«, sage ich.
»Hast du heute eine große Überraschung bekommen?«
»Japp. Er steht direkt neben mir.« Das mit der neuen Keine Überraschungen-Regel, die ich aufstellen werde, bespreche ich ein andermal mit meinem Vater.
»Ich lade euch zum Essen ein. Wie wär’s mit Rosebud?«
Rosebud ist ein superschönes italienisches Restaurant in der Rush Street, gleich um die Ecke. Samstagabends ist es immer bis auf den letzten Platz besetzt. »Au ja.«
»Ich bin in einer halben Stunde da.«
»Cool. Bis gleich.«
Als ich die Verbindung beende, merke ich erst, dass ich mit Avi die entgegengesetzte Richtung zu meinem Haus und Rosebud eingeschlagen habe. Ich stelle fest, dass wir nicht mehr Händchen halten. Wir gehen Richtung Seeufer, obwohl der Michigansee zugefroren ist und der Wind dermaßen eisig bläst, dass mein Gesicht schon halb eingefroren ist, was das Sprechen erschwert.
»Ich dachte, wenn ich dir sage, dass ich komme, dann willst du mich vielleicht davon abhalten«, sagt Avi. Wir laufen noch immer weiter, die Augen geradeaus auf den See gerichtet, den man am Ende der Straße ausmachen kann.
Ich würde gern seine Hand halten, aber er hat beide Fäuste in die Vordertaschen seiner Jeans gesteckt. »Ich dachte, du hättest mich vergessen«, sage ich.
Er lacht kurz auf. »Ich hatte keine Zeit, Amy. Ich war in der Grundausbildung, falls du dich erinnerst.«
Mir fällt auf, dass die anderen Mädchen, die auf den Straßen von Chicago City an uns vorbeilaufen, ihm Blicke zuwerfen. Wird das immer so sein? Strahlt er dieses Charisma und Selbstbewusstsein absichtlich aus?
»Und wenn du Zeit hättest, Avi?«, frage ich ihn. »Würdest du dir dann jemand anders suchen? Ein nettes, hübsches israelisches Mädchen, das meinen Platz einnimmt?«
»Wieso? Damit du dich nicht schlecht fühlen musst, weil du was mit diesem Nathan anfängst?«
»Ich habe dich vor seinen Augen geküsst, Avi. Das würde ich ja wohl kaum, wenn ich auf ihn stehen würde.«
»Du wolltest ihn eifersüchtig machen«, sagt er nüchtern.
»Wollte ich gar nicht. Außerdem bist du doch derjenige, der sich auf keine feste Beziehung einlassen wollte. Das hast du mir letzten Sommer klipp und klar gesagt. Keine Verpflichtungen. Kein ›mein Freund/meine Freundin‹-Zeugs. Weißt du, was ich zu meinen Freunden sage? Dass du mein Nicht-Freund bist. Hast du eine Ahnung, wie sich das für mich anfühlt? Nein? Dann sag ich’s dir, Mr Cooler-Israeli. Es ist ein beschissenes Gefühl, als wäre ich es nicht wert, dass man Zeit und Mühe in eine richtige Beziehung mit mir investiert.«
Ich schlucke, was mir schwerfällt, weil ich plötzlich einen Kloß im Hals habe. Meistens versuche ich, meine Gefühle tief in meinem Inneren zu verschließen, weit weg von der Oberfläche. Dass sie jetzt hochkommen, kotzt mich an, und dann auch noch vor Avi. Gerade bei ihm will ich mich nicht so von meinen Emotionen davontragen lassen, weil ich weiß, dass das auf ihn eine abschreckende Wirkung hat.
Er versucht, mich an sich zu ziehen, aber ich schlage seine Hand weg. Ich will nicht sein Mitleid, ich will seine Liebe.
Und am schlimmsten ist, dass ich nicht glaube, dass er mir die geben kann. Gott weiß, dass er es nie aussprechen würde.
»Ich weiß nicht, was du willst«, sagt er jetzt völlig frustriert. »Amy, es tut mir leid. Ich dachte, wir hätten das alles geklärt.«
»Tja, anscheinend nicht. Warum bist du hergekommen? Nur, um mein Leben auf den Kopf zu stellen?«
»Nein«, sagt er und zieht mich an seine Brust. Und diesmal lässt er sich nicht wegschieben. Während er mich fest an sich drückt, flüstert er in meine Haare: »Ich habe die grundlegende Gefechtsausbildung abgeschlossen und werde jetzt einer speziellen Kampfeinheit zugeordnet. Die IDF verfolgen einen neuen Ansatz in der Terrorismus-Bekämpfung. Man wird uns dort beibringen, wie der Feind zu denken und zu handeln – wie der Feind zu sein.« Er holt tief Luft. »Ich weiß nicht, ob ich die Genehmigung kriege, dich zu sehen, wenn du im Sommer zu Besuch kommst.«