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Zedaka ist die Verpflichtung eines Juden, die Armen zu unterstützen. Dabei muss es sich nicht unbedingt um Geld handeln. Mitzwas (gute Taten) für die, die weniger Glück im Leben haben, zählen ebenfalls dazu.

Mein Freund Nathan braucht ganz dringend eine kleine Zedaka.

Am nächsten Morgen nehme ich Nathan zur moralischen Unterstützung mit zu meiner Mom. Gestern Abend hat er mich überzeugt, dass ich meine Sorgen ganz offen mit ihr und Marc besprechen soll.

Meine Mom kommt aus dem Haus geeilt und umarmt Nathan. Ich schätze, das liegt am Überschwang der Hormone. »Es ist so schön, dich endlich kennenzulernen, Avi«, sagt sie und strahlt ihn an. »Amy hat mir so viel von dir erzählt.«

»Mom –«

»Wie gefällt’s dir in unserer Stadt?«, fragt sie und ignoriert mich. »Amy und du, ihr habt bestimmt jede Menge Spaß.«

»Mom, das ist nicht Avi.«

»Ist er nicht?«

»Nein. Das ist Nathan. Nathan, das ist meine Mom«, sage ich und lasse Köter von der Leine, damit er im Haus frei laufen kann.

»Oh, ich dachte, er würde Avi heißen.«

»Nein, er heißt Nathan. Avi ist jemand anders.«

»Und wo ist Avi dann?«

»Ich weiß es nicht.«

»Ah. Na dann, Nathan, komm rein. Es gibt gleich Mittagessen.«

Wir essen in der Küche. Nathan stupst mich unter dem Tisch mit dem Fuß an. Das ist mein Stichwort, dass ich endlich alles ansprechen soll, was ich so lange vor mir hergeschoben habe. »Wo soll das Baby eigentlich schlafen, wenn es auf der Welt ist?«

Meine Mom wirft Marc einen Blick zu. »Am Anfang bei uns im Schlafzimmer.«

»Na ja, wir haben nur zwei Schlafräume, weil das dritte Zimmer als Büro genutzt wird«, schaltet sich Marc ein.

»Worauf willst du hinaus?«

»Ich will nicht auf dem Sofa schlafen, wenn ich hier übernachte. Ich will mein Zimmer behalten. Ich wohne zwar nicht ständig hier, aber ich möchte trotzdem ein Zimmer haben, wenn ich zu Besuch komme. Das ist mir wichtig.«

»Kannst du es dir nicht mit dem Baby teilen?«

Ich ziehe die Augenbrauen hoch und schmunzle. »Ich bin siebzehn. Glaubt ihr ernsthaft, ich würde mir gern das Zimmer mit jemandem teilen, der in die Windeln macht?«

Marc lässt die Gabel sinken, während er überlegt. »Vielleicht könnte ich mein Arbeitszimmer in den Keller verlegen.«

»Aber da unten gibt es weder Fenster noch eine Lüftung, Marc«, gurrt meine Mom. »Und was ist mit deinen Allergien?«

»Amy hat recht mit der Zimmerverteilung. Ich kann meine Allergiemittel nehmen, wenn ich runtergehe. Ist das fair? Du behältst dein Zimmer und das Baby bekommt das Büro.«

Wie es aussieht, ist Marc doch nicht so übel. Er muss sich eben erst an eine große Tochter wie mich gewöhnen … und an einen Hund wie Köter. Vielleicht sollte ich vorschlagen, dass er seine Allergiemittel täglich nimmt.

Meine Mom setzt sich aufrecht hin – so aufrecht, wie es mit ihrem ausladenden Bauch geht. »Wo wir gerade dabei sind, da hätte ich auch eine Bitte«, sagt sie.

Ich mache mich auf alles gefasst. »Schieß los.«

»Wenn das Baby auf der Welt ist, machst du einmal im Monat einen Abend am Wochenende Babysitter. Mit Windelnwechseln und allem, was dazugehört.«

»Gut. Aber wenn es mir die ganzen Klamotten vollspeit, zahlst du die Reinigung.«

»Abgemacht.«

Nach dem Essen spielen wir zu viert Scrabble.

»Und, seid ihr zwei … ein Paar?«, fragt meine Mom vor einem Spielzug.

»Wir sind nur Freunde«, sagt Nathan schnell.

»Ja.« Ich nicke. »Nur gute Freunde.«

Marc gewinnt haushoch beim Scrabble mit einem dreifachen Wortwert des Wortes Zibebe. Erst hat es ihm keiner abgenommen, aber er hat recht behalten. Zibebe ist ein Wort, ihr könnt es ruhig glauben. Dann führen Nathan und ich Köter um den Block, bevor wir uns wieder auf den Heimweg machen. Es ist ein gutes Gefühl, Nathan als Freund zu haben, der als Junge die Dinge aus einer anderen Perspektive betrachtet.

Als wir im Auto sitzen, summt mein Handy – das Zeichen, dass ich eine SMS erhalten habe.

»Kannst du sie mir vorlesen«, bitte ich Nathan.

»Es ist Jessica. Sie will wissen, wofür du Wes’ Nummer brauchst.«

»Schreib ihr zurück, dass es eine Überraschung ist.«

Ich höre Nathan auf meinem Handy herumtippen.

»Sie meint, in deinem Leben gäbe es schon genug Jungs und du bräuchtest eine Verschnaufpause.«

Ich lenke den Wagen an den Straßenrand und nehme Nathan das Handy aus der Hand.

»Was machst du?«

»Meine beste Freundin bestechen.« Ich grinse, als sie mir schließlich Wes’ Nummer schickt. Sofort wähle ich sie und warte, dass er sich meldet.

»Wes, hier ist Amy. Du weißt schon, die Jungfrau von der Jugendgruppe.«

»Ich erinnere mich. Das Mädchen mit den dunklen Haaren und den himmelblauen Augen. Sag mal, keuchst du absichtlich?«

»Nein, das ist mein Hund, der mir ins Ohr hechelt.«

»Ja, klar.« Er glaubt mir kein Wort.

»Hör mal, wenn ihr mal einen Gitarristen für Lickity Split braucht, mein Freund Nath – ich meine Nate – Nate Greyson heißt er … also der rockt.«

»Ich singe auch«, flüstert Nathan neben mir.

»Er singt auch«, füge ich hinzu.

»Wir proben heute im Lounge Ax. Wenn er will, kann er vorbeikommen und mit uns jamen, das wäre cool. Ich kann jetzt nicht sagen, dass er auf jeden Fall in der Band ist, aber wir halten immer nach Ersatz Ausschau.«

Ich lege auf und werfe das Telefon in Nathans Schoß.

»Danke«, sagt er. »Ich glaube, ich hab mal gesagt, du wärst rücksichtslos und unsensibel und würdest nicht mitdenken oder so. Das nehme ich zurück.«

»Tja, du hast mich eben in einem schwachen Moment erwischt – mit Liebeskummer und so.«

Ich sage Nathan, dass er später ins Lounge Ax gehen soll. Ich selbst muss Jess abholen, denn ich schulde ihr ein Abendessen – das Bestechungsdinner.

Im Hanabi, unserem Lieblings-Sushi-Laden, bestelle ich das jüdische Chefkoch-Spezial ohne Krabben und Schlalentiere, pikante Thunfisch-Rolls und mehrere Schälchen pikanten Thunfisch-Reis mit Tempura-Knusperflocken. Jess entscheidet sich für Hwe Dup Bob mit koscherem Sushi, grünem Salat und braunem Reis.

Sie nimmt den ersten Bissen ihrer Spezialmischung und seufzt genüsslich. »Das schmeckt so lecker.«

»Das will ich auch hoffen. Es hat mich sechzehn Dollar gekostet.«

Sie schiebt eine weitere Gabel in den Mund. »Erst Avi, dann Nathan … jetzt Wes. Ich glaube, du hast dich da etwas übernommen. Aber ich muss sagen, dieses Dinner war es absolut wert, dir Wes’ Handynummer zu geben.«

Frustriert erzähle ich Jessica die Wahrheit. »Die Nummer war für Nathan. Er spielt Gitarre und braucht ein paar Jungs, mit denen er rumklimpern kann.«

»Dann hast du sechzehn Dollar ausgegeben, um Nathan etwas Gutes zu tun?«

Ich schiebe mir eine Thunfisch-Roll in den Mund und nicke.

Jess lässt die Gabel sinken. »Dann stehst du gar nicht auf Wes?«

Ich schüttle den Kopf. »Nö.«

»Was ist mit Nathan?«

Wieder ein Kopfschütteln. »Nö.«

»Und Avi?«

Bei der Erwähnung seines Namens spüre ich einen Stich im Herzen. »Er wohnt bei einem Freund an der Northwestern. Es ist aus.«

»Warum?«

»Weil er es so will. Ich habe einen anderen geküsst, ich habe ihn vor allen gedemütigt, und außerdem ist er die nächsten drei Jahre in der israelischen Armee.«

»Bist du immer noch in ihn verliebt?«

»Oh Mann, Jess, du kannst dir gar nicht vorstellen, wie. Es fühlt sich an, als hätte er ein Stück von mir mitgenommen, als er gegangen ist. Ich hab alles falsch gemacht. Ich wünschte, ich wüsste, wo er ist, aber selbst wenn es so wäre, wüsste ich nicht, was ich ihm sagen soll.«

»Schade, dass du ihn nicht kidnappen kannst.«

Ja. Jammerschade. Wenn ich ihn kidnappen könnte, könnte ich ihm sagen, dass es egal ist, dass wir so weit voneinander entfernt leben. Dass es nicht zählt, dass ich einen anderen geküsst habe. Dass mein Herz noch immer meinem israelischen Soldaten gehört und dass ihm das nichts und niemand streitig machen kann … weder die Zeit noch ein Kuss. Aber warum sollte ich ihn eigentlich nicht entführen? Warum sollte ich ihn nicht zwingen, mich anzuhören – auch wenn er nicht will? Meine Gedanken fahren Achterbahn und ich werde immer aufgeregter.

»Das ist es. Jess, du bist ein Genie!«, rufe ich.

Sie sieht mich verwundert an. »Hab ich was verpasst?«

»Nein, du hast recht. Ich muss Avi entführen. Wie bei einer geheimen Militäroperation – das ist genau das Richtige für ihn.

»Amy, du weißt nicht mal, in welchem Wohnheim er untergebracht ist.«

»Das kriegen wir raus. Arbeitet nicht Mirandas Tante bei der Zimmervergabestelle? Deshalb denkt Miranda doch auch immer, dass sie ihren Platz sicher hat.«

»Okay, mal angenommen, du findest raus, wo er wohnt. Was dann? Sollen wir ihm Handschellen anlegen und ihn in einen Fluchtwagen zerren? Ich habe ihn nur ein paarmal zu Gesicht bekommen, aber ich weiß, dass er es locker mit uns beiden auf einmal aufnehmen könnte.«

Sie hat recht. Ich brauche mehr Muskelkraft auf meiner Seite – einen Mann. »Nathan macht mit.«

»Nathan?«

Ich überzeuge sie, dass er der Einzige ist, der helfen kann. Außerdem geht unser Kuss zu fünfzig Prozent auf sein Konto.

Am Abend rekrutiere ich Nathan und Miranda. Nathan ist skeptisch, aber Miranda ist Feuer und Flamme. Wir planen die Mission für Freitag nach der Schule.

In zwei Tagen.