12
Rabbi Glassman hat gesagt, ihm wäre in der Highschool klar geworden, dass er Rabbiner werden will.
Um ganz ehrlich zu sein, glaube ich eher, dass Gott ihn zum Rabbiner auserkoren hat und nicht andersrum.
Für einen ganz normalen Menschen ist er zu unvoreingenommen und weise.
Ja, ich musste den Rest des Abends in einer feuchten, klebrigen Bananenmatsche-Jeans verbringen. Und nein: Jessica und ich sprechen immer noch nicht miteinander. Miranda spricht aber schon mit mir.
»Das hat echt Spaß gemacht, oder?«, meint Miranda, als wir am Ende des Abends in Jessicas Auto steigen. Ich lege eine Plastiktüte unter, ehe ich mich auf die Rückbank setze, während der Motor warmläuft.
Jessica gibt ein Grunzen von sich, und ich sage: »Ja. Riesenspaß.« Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen, als von einer ganzen Meute ausgelacht zu werden und wie Babybrei zu riechen. Wo kann ich mich für das nächste Treffen eintragen?
»Tut mir leid mit deiner Hose«, sagt Miranda vom Beifahrersitz aus. »Ich bin trotzdem froh, dass du dabei warst. Es sind nicht viele von der CA da.«
»An die Academy gehen nicht so viele Juden«, sage ich und lehne mich zurück, wobei die Tüte unter meinem Hintern bei jeder Bewegung raschelt. Etwa fünfzehn bis zwanzig Prozent der Schüler an der Chicago Academy sind Juden und die CA ist bei Weitem nicht die größte Schule Chicagos.
»Sie halten uns für reiche Snobs«, platze ich heraus.
Miranda dreht sich um und sieht mich an, während Jessica sich auf den Verkehr konzentriert. »Von mir denken sie nicht, dass ich ein Snob bin – ich bin für sie das fette Mädchen. Dich halten sie für einen Snob, weil du hübsch bist und nicht viel lächelst.«
»Lächeln ist überschätzt.«
Jessica schnaubt.
Aber Miranda kommt jetzt richtig in Fahrt. Sie wird ganz aufgeregt. »Durch Lächeln bleibt man länger jung. Wusstest du, dass es mehr Muskeln beansprucht, ein grimmiges Gesicht zu machen als zu lächeln?«
»Wusstest du, dass es mehr Energie kostet zu reden, statt still zu sein?«
Habe ich das gerade gesagt? Oh Mann! Miranda beißt sich auf die Lippe, dreht sich nach vorne und schrumpft in ihrem Sitz zusammen. So habe ich das nicht gemeint. Ich wollte nur nicht mehr unter Beschuss sein. Ich habe das Gefühl, als hätte mich jeder auf dem Kieker.
Jessica hält den Wagen am Straßenrand an. Ich fürchte schon, sie ist so angepisst von mir, dass sie mich an Ort und Stelle rausschmeißt, bis ich merke, dass wir uns vor meinem Haus befinden.
Und weil ich ja angeblich keine gute Freundin bin und nicht lächle, öffne ich einfach die Tür und steige aus. Als ich gerade über meinen Schatten springen und mich bei Jess fürs Mitnehmen bedanken will, fährt sie mich an: »Mach die Tür zu.«
Sobald ich die Tür zugeschlagen habe, braust sie davon wie ein Formel-1-Fahrer.
Ich komme mir wie eine Oberzicke vor. Vielleicht bin ich das auch. Sollte ich mich besser fühlen, weil ich eine Oberzicke mit Gewissen bin? Denn es geht mir hundeelend.
Eine Minute lang stehe ich noch auf dem Bürgersteig, dann drehe ich mich um und gehe ins Haus. Ich möchte lächeln. Ich möchte Jessica und sogar Miranda eine gute Freundin sein. Miranda sieht nicht aus wie ich, sie kleidet sich nicht wie ich und benimmt sich nicht wie ich, aber sie ist nett, und sie lächelt. Lächelt sie, weil sie von Natur aus ein freundliches Wesen hat, oder wird sie als freundlich wahrgenommen, weil sie lächelt?
Ist das überhaupt wichtig?
Körperlich und emotional erschöpft passiere ich auf dem Weg zu den Aufzügen unseren Nacht-Portier Jorge, der mir die Tür aufhält.
»Hatten Sie einen schönen Abend mit Ihren Freunden, Miss Barak?«, fragt er.
Ich schüttle den Kopf. »Nicht besonders.«
»Es gibt leider manchmal so Tage.«
»Ja, manche Tage sind Mist.«
Im Lift lasse ich den Kopf gegen die Wand sinken. Die Tür gleitet langsam zu, bis auf einmal eine Hand dazwischenfährt, damit sie sich noch mal öffnet. Die Hand gehört niemand anderem als Nathan.
In Joggingklamotten betritt er den Lift. Direkt hinter ihm folgt eine Frau aus dem fünften Stock, die ich nur ein paarmal gesehen habe.
Ich schließe die Augen. Ich will nichts sehen. Als wir in der fünften Etage halten und die Frau aussteigt, öffne ich die Augen wieder.
Durch seine Brille starrt Nathan mich direkt an. Seine Augen sind so grün wie Kermit der Frosch und die Goldsprenkel darin schimmern im Licht der Aufzugbeleuchtung. Dumme Lampen. Dummer Aufzug. Sie machen, dass ich auf dumme Gedanken komme und mich auf einmal frage, was ich tun könnte, damit Nathan mich mag.
Er nimmt ein paar Schlucke aus einer Wasserflasche, die er in der Hand hält. Ich beginne, schwer zu atmen, als wäre mein Hirn eine einzige dicke Matsch-Potato, und starre auf seine Lippen, die ich noch nie zuvor richtig wahrgenommen habe. Sie glänzen vom Wasser.
Nathan hasst mich, aber vielleicht …
Nein, ich kann nicht.
Doch er sieht mich noch immer durchdringend an, wir schauen einander in die Augen. Alles andere in meinem Scheißleben liegt nicht in meiner Hand, aber vielleicht kann ich an seiner Einstellung zu mir und seiner Feindseligkeit mir gegenüber etwas ändern.
Wenn ich es nicht probiere, werde ich es nie erfahren. Ich stelle meine Tasche auf den Boden. Mit zwei schnellen Schritten bin ich bei ihm und presse meine Lippen auf seine. Ich küsse Nathan im Aufzug, während wir vom fünften in den vierzigsten Stock hochfahren. Dabei blicke ich ihm noch immer in die Augen und warte auf eine Reaktion.
Fehlanzeige.
Meine Hände. Was soll ich mit meinen Händen tun? Ich lege sie ihm auf die Brust, die sich für jemanden wie ihn erstaunlich hart anfühlt, und lege den Kopf in den Nacken, um ihn inniger zu küssen.
Nathan erwidert meinen Kuss nicht. Seine Lippen sind weich und einladend, aber er steht da wie ein Stock und lässt die Arme seitlich herabhängen. Er schiebt mich nicht von sich weg, doch er verhält sich auch kein bisschen wie ein Junge, der gerade von einem Mädchen geküsst wird. Seine Lippen sind leicht geöffnet, sein Atem ist warm und riecht gut. Aber er ist irgendwie teilnahmslos. Er ist nicht bei der Sache, sondern lässt mich machen.
Als der Lift mit einem Pling anhält und die Tür aufgeht, nehme ich die Hände von seiner Brust und trete einen Schritt zurück.
»Also, das war nett«, sage ich, packe meine Tasche und verlasse den Aufzug.
»Für wen?«, erwidert Nathan und läuft an mir vorbei.
Wir sind auf dem Flur in der vierzigsten Etage. Außer uns ist kein Mensch da. Nathan steht vor seiner Tür und ich vor meiner. Ich sehe zu ihm hinüber, während er nach seinen Schlüsseln angelt. »Für niemanden, Nathan. Das war ein Witz. Du stehst offenbar nicht auf Mädchen.«
Er gibt ein kurzes, zynisches Lachen von sich. »Wie du meinst, Barbie. Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du nach Obst riechst?«
»Hör auf, mich Barbie zu nennen!«, schreie ich und übergehe den Obst-Kommentar geflissentlich. Nathan antwortet nicht, sondern öffnet die Tür zu seiner Wohnung und haut sie hinter sich zu.
Ruckartig wird die Tür zu meiner eigenen Wohnung aufgerissen und mein Dad stürmt heraus. »Was ist hier los? Wen hast du angebrüllt?«
»Niemanden, Dad.«
»Ich habe es doch gehört, Amy. Ist alles in Ordnung?«
»Kein Grund, sich hier so aufzuführen. Alles im grünen Bereich«, sage ich und husche an ihm vorbei.
Mein Dad folgt mir in mein Zimmer, meinen persönlichen Zufluchtsort, wo ich mich zurückziehe, wenn ich meine Ruhe haben will. »Ich bin dein Vater. Ich habe ein Recht darauf, mir um dich Sorgen zu machen. Warum benimmst du dich so? Und warum riechst du nach Banane?«
Ich lasse ihm mein berühmtes Hohnlächeln angedeihen. »Wie benehme ich mich denn?«
»Als wärst du wütend auf alle Welt.«
»Ich bin nicht wütend auf alle Welt. Alle Welt ist wütend auf mich. Und zu deiner Information: Ich habe mich auf eine Banane gesetzt. Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest, ich würde mich gern umziehen. Allein.« So wird man seinen Vater los.
Nachdem ich mich aus meiner verdreckten Jeans geschält habe, schlüpfe ich in meinen Pyjama und gehe über den Flur, um mir die Zähne zu putzen und das Gesicht zu waschen. Von dem ganzen Stress sprießen mir bestimmt ein, zwei Pickel … oder zwanzig. Im Bad schrubbe ich mit einem Waschlappen den Kuss von meinen Lippen. Zurück in meinem Zimmer blicke ich auf und sehe meinen Dad in der Tür stehen. Er lehnt sich gegen den Türpfosten. »Ich gebe zu, ich kenne mich nicht gut mit den Problemen junger Mädchen aus. Aber ich habe immer ein offenes Ohr für dich.«
Ich sehe ihm an, dass er sich mental auf eine hitzige Diskussion einstellt. Er kennt sich auch nicht gut mit hitzigen Diskussionen über die Probleme junger Mädchen aus. Mein Dad ist der Typ harter Kerl. Ein bisschen weiblicher Einfluss in seinem Leben würde ihm wirklich guttun. »Warum willst du keine Freundin?«
»Weil Beziehungen einen zeitlich so festlegen.«
Ich verdrehe die Augen. »Es ist kein Geheimnis, dass du Probleme damit hast, dich überhaupt auf jemanden festzulegen. Das kann man ja mal offen aussprechen. Willst du dich nicht mit anderen Frauen treffen, weil du meine Mom liebst?«
»Darüber spreche ich nicht mit dir.«
»Warum nicht? Mit jemand anderem sprichst du ja auch nicht darüber. Und falls du glaubst, du kannst vor der Wahrheit davonlaufen, indem du dich zu Tode schuftest – das ist ein Trugschluss.«
»Ich habe mich auf dich festgelegt, Amy. Ich habe momentan kaum Zeit für meine eigene Tochter, was mir überhaupt nicht passt. Wie soll ich mir da noch etwas Zusätzliches aufbürden, das mir die Zeit für meine Familie raubt?«
»Zwei Leute bezeichnest du als Familie?«
»Ja.«
Mein armer Dad kapiert es nicht. »Was ist, wenn ich aufs College gehe? Dann hockst du ganz allein da, während Mom und Marc noch mehr Babys machen. Und was ist, wenn du mal in Rente gehst? Dann sitzt du zu Hause rum, und nichts und niemand leistet dir Gesellschaft – bis auf ein Gebiss und jede Menge Falten.«
Seine Mundwinkel zucken amüsiert. »Vielen Dank, dass du mir die Zukunft in so bunten Farben ausmalst. Betrachte mich als offiziell vorgewarnt, was mein Schicksal angeht.«
»Großartig. Und, vereinbarst du jetzt ein Date?«
»Nein. Aber ich komme morgen früher nach Hause, um Zeit mit dir zu verbringen. Nach deiner Schicht im Perk Me Up! unternehmen wir was zusammen. Du kannst dir aussuchen, was du machen willst. Tov?«
Mein Dad streut hier und da gern ein hebräisches Wort ein. Ich nicke. »Tov.«
Als er mein Zimmer verlässt, stoße ich ein langes, frustriertes Seufzen aus und sehe hinüber zu meinem Handy. Heute Abend im Auto war ich echt gemein zu Miranda. Ich habe ihr mehr oder minder gesagt, dass sie die Klappe halten soll. Und ich hasse es, mit Jessica zu streiten. Immer wenn wir Zoff haben, ist mir richtiggehend übel.
Ich beschließe, Jess eine SMS zu schreiben. Ich: Bist du da?
Jess: Nein.
Ich: Willst du reden?
Jess: Nein.
Ich: Okay.
Jess: Okay.
Ich gehe zum Schreibtisch, suche die Adressliste der Schüler der CA heraus und wähle Mirandas Nummer.
»Hallo?«
»Miranda?«
»Ja.«
»Ich bin’s, Amy. Ähm … ich wollte mich dafür entschuldigen, dass ich heute Abend so unfreundlich war. Weißt du, erst die Sache mit der Banane und dann –«
»Und dein Streit mit Jessica«, sagt sie und spricht das Offensichtliche aus.
»Genau. Na ja, es tut mir jedenfalls leid.«
»Entschuldigung angenommen.«
Uff. Einer weniger auf der Liste derer, die von mir angekotzt sind. »Vielleicht können wir mal was ausmachen.«
Ich glaube, Miranda hat das Telefon fallen lassen, weil ich am anderen Ende der Leitung einen lauten Schlag höre, doch sie erholt sich ziemlich schnell. »Du willst dich echt mit mir treffen?«
»Klar. Ich weiß, du bist fast in allen Fächern in den Aufbaukursen und ich eher in denen für die Mittelmäßigen, aber ich fand dich heute Abend echt nett.«
»Wow. Danke«, sagt Miranda aufgeregt. »Du bist viel beliebter als ich, Amy, aber das weißt du ja selbst. Ich dachte nur, du würdest mich langweilig finden wie die meisten anderen Mädchen in der Schule … na ja, bis auf Jessica. Obwohl Jessica und ich außerhalb der Jugendgruppe nie was zusammen unternehmen.«
Das könnt ihr euch in puncto Beliebtheit hinter die Ohren schreiben: Die, die sich selbst als beliebt bezeichnen, gelten in der Regel auch als beliebt. Man muss nur eine große Klappe haben und einen auf wichtig machen, dann wird man von den anderen auch so behandelt, als wäre man eine tolle Nummer. Eines hat mir meine wunderbare Mutter beigebracht: ich selbst zu sein, ohne das Gefühl zu haben, dass ich mich dafür irgendwie schämen müsste. Ich gebe zu, manchmal schieße ich ein bisschen übers Ziel hinaus mit meinen Kommentaren und Aktionen, aber ich habe durchaus ein Gewissen. Ich kann mich entschuldigen.
Natürlich nur bei denen, die eine Entschuldigung auch verdient haben.
Man könnte mich vielleicht als selektive Entschuldigerin bezeichnen. (Das habe ich gerade erfunden, aber es gefällt mir.)
»Wohnst du nicht Tür an Tür mit dem Neuen in der Schule?«, fragt Miranda mich. »Der ist echt süß.«
Würg! »Meinst du Nathan?«
Ich kann durch die Leitung ihre Aufregung spüren. »Genau. Nathan. Er sitzt in Mathe vor mir und hat Wahnsinnsaugen. Wie Smaragde.«
»Heb dir deine Begeisterung für jemand anderen auf, Miranda. Der steht nicht auf Mädchen.«