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Hühnersuppe hilft, wenn man krank ist.
Gibt es auch ein Rezept, das bei angeknacksten Beziehungen hilft?
Nicht zu fassen: Heute Morgen habe ich herausgefunden, dass Nathan Keener auf meine Schule geht, die private Highschool namens Chicago Academy. Japp, es ist wahr. Ich habe nicht nur das Vergnügen, im Literaturunterricht hinter ihm zu sitzen, nein, er ist sogar mit mir im Sport. Das wäre an sich ja nicht so schlimm, wenn nicht die ganze Schule bereits über ihn reden würde.
Was hat es mit neuen Schülern auf sich, dass sie so eine faszinierende Wirkung auf andere ausüben? Wenn mich noch einmal jemand fragt: Amy, hast du schon von dem Neuen gehört?, dann schreie ich. Es ist die fünfte Stunde und ich habe Studierzeit. Ich sitze neben Kyle Sanderson, dem Center unseres Schul-Basketballteams, der sich überall großer Beliebtheit erfreut. Kyles einziger Makel ist, dass er jeden Tag eine halbe Flasche Eau de Toilette draufhat. Auch wenn Kyle ein Klassenzimmer schon verlassen hat, kann man riechen, dass er da war. Wie bei einem Bär, der überall seine Duftmarke für die Damenwelt hinterlässt.
»Was gibt’s, Nelson?«, spricht er mich mit meinem Nachnamen an, während er sich superlässig auf den Platz neben mir schiebt. Meint ihr, er hat diese Bewegung einstudiert?
Ich werde ihm nicht verraten, dass ich meinen Nachnamen letztes Jahr mittels eines Bindestrichs um den Namen meines Vaters erweitert habe und jetzt nach beiden Eltern heiße, nämlich Amy Nelson-Barak. Aber das sage ich Kyle nicht, weil es ihm erstens egal wäre und er es sich zweitens sowieso nicht merken könnte.
»Nicht viel«, antworte ich.
»Da ist mir aber was anderes zu Ohren gekommen.«
Hä?
»Was ist dir denn zu Ohren gekommen?«, frage ich. Kursieren Gerüchte über mich?
»Dass du dich bei einer Singlebörse angemeldet hast.«
»Wer sagt das?« Das stimmt nicht … na ja, zumindest nicht so richtig.
Kyle kippelt mit seinem Stuhl nach hinten. »Der Neue. Du weißt schon, der mit der Brille und den uncoolen Klamotten.«
»Nathan?«
Kyle zuckt die Achseln. »Japp. Er ist diese Woche mein Partner in Bio.«
Ich mache diesen großen, schlaksigen Penner kalt, der nicht mal Dana Buchman und Armani auseinanderhalten kann. Wie kann er es wagen, so einen Mist über mich zu verbreiten!
»Bist du auf der Suche? Weil du bist ganz süß, Nelson, und du hast tolle Dingdongs.«
Ich werfe den Kopf herum und funkle ihn an. »Dingdongs? Denkst du dir öfter solche Wörter aus, Kyle?«
Er hebt fragend die Hände. »Wäre es dir lieber, wenn ich Möpse sage?«
»Halt die Klappe.« Ich schlage mein Trigonometrie-Buch auf und beuge mich darüber. Echt, wenn der weiter so auf meine Brüste glotzt, dann könnte es auf meine Kappe gehen, wenn er beim nächsten Basketballspiel ausfällt.
»Miss Barak, würden Sie uns liebenswürdigerweise an Ihrem Gespräch teilhaben lassen?«, bellt Mr Hennesey von vorne. Mr Hennesey ist nicht nur Sportlehrer, sondern hat auch die Aufsicht im Silenzraum. Silenzraum-Polizist wäre die richtige Bezeichnung für ihn.
Wenn Kyle hier vor allen eine Bemerkung über meine Dingdongs macht, dann bring ich ihn um … und Nathan Keener auch gleich.
»Nö«, sage ich.
»Dann würde ich vorschlagen, Sie hören auf zu schwätzen, oder ich muss Sie auseinandersetzen.« Gern.
Zehn Minuten später geht Mr Hennesey aus dem Zimmer. Jeder weiß, dass es eine Einladung zum Reden ist, wenn ein Lehrer den Raum verlässt. Aber danach steht mir gerade nicht der Sinn.
»Brauchst du noch eine Begleitung für den Valentinstanz?«, fragt Kyle – ziemlich laut, darf ich hinzufügen.
Ich drehe den Kopf zur Seite und frage mit süßlicher Stimme zurück: »Warum? Willst du mich wohl einladen?« Ha! Jetzt hab ich’s ihm aber gegeben. Es geht nichts über eine kleine Schülerin aus der vorletzten Klasse, die einen beliebten Jungen aus dem Abschlussjahrgang auf den Topf setzt.
Ich könnte schwören, dass alle im Raum unser Gespräch mitverfolgen. Das Kichern und die Blicke in unsere Richtung sprechen Bände. Ich glaube, schon allein das Wort »Valentinstanz« würde dafür sorgen, dass alle die Ohren spitzen. Es ist das Thema Nummer eins, seit letzte Woche das Plakat aufgehängt wurde.
»Gern, wenn du Lust auf einen Dreier hast. Ich habe bereits Caroleen Connors gefragt, aber ich bin Manns genug, es mit euch beiden gleichzeitig aufzunehmen.«
Kyle zwinkert mir zu. Igitt! Der hat vielleicht Nerven! Dem Kerl müsste dringend mal jemand den Kopf zurechtrücken.
Mr Hennesey kommt ins Zimmer zurück, sodass ich nicht antworten kann. Da sitze ich also, stinksauer auf Kyle, weil er so ein Chauvinistenschwein ist, und auf Nathan, weil er Gerüchte über mich verbreitet.
Nach der Studierzeit mache ich mich auf den Weg zu Sozialkunde und stelle mir dabei vor, wie ich diesen Volltrottel, der bei mir im Haus eingezogen ist, zur Rede stelle. Ist er sozial so eine Nullnummer, dass er es nötig hat, irgendwelchen Mist über mich in die Welt zu setzen, um sich interessant zu machen?
»Hast du schon den Neuen gesehen?«
Ich blicke auf. Vor mir steht meine Freundin Raine, die keine Ahnung hat, dass sich bei seiner Erwähnung meine Herzfrequenz erhöht und meine Adern verkrampfen. Ich setze mein berühmtes Hohnlächeln auf.
»Hab ich was falsch gemacht?«, fragt Raine mich mit großen Augen.
»Nichts«, sage ich. »Aber bitte kein Wort über Nathan Keener.«
Hinter mir höre ich eine Stimme. »Nur zur Information, ich heiße Nathan Greyson.«
Mit weit aufgerissenem Mund starre ich meinen Nachbarn und seine überdimensionale Brille mit dem dicken dunklen Gestell an, die gerade seine Nase hinunterrutscht.
»Schicke Hose«, sagt Raine und zieht kichernd ab.
»Du und deine Freunde, ihr wisst echt, wie man jemanden herzlich aufnimmt«, meint Nathan mit einem unechten Lächeln. »Privatschulen sind der Nährboden für gekünstelte Plastikmenschen. Diese Schule macht da keine Ausnahme.«
Ich werde aus diesem Typ nicht schlau. Er ist ein Idiot, aber er hat so eine Art an sich, die irgendwie nicht zu seinem Äußeren passt.
»Wer bist du?«, frage ich.
»Weiß der Teufel«, erwidert er und lässt mich ohne ein weiteres Wort stehen.
Stellt sich mir die Frage, ob er ein Vampir oder ein Alien in menschlicher Gestalt ist.
Ich gehe zum Sozialkundekurs. Das aktuelle politische Geschehen reißt mich nun echt nicht vom Hocker, aber Mrs Moore fährt total auf lebhafte Diskussionen über den Präsidenten und seine Politik ab und ist davon besessen, dass wir mitbekommen, was in unserem großartigen Land gerade so abgeht. Ich könnte mir vorstellen, dass allein der Anblick der amerikanischen Flagge sie zu Tränen rührt.
Als die Glocke das Ende des Schultages einläutet, stopfe ich alle Unterlagen in meine Tasche und stapfe mit Jessica, Cami und Raine durch den Schneematsch zur Bushaltestelle. Dort steht schon Mitch, und als Jessica sich zu ihm gesellt, legt er ihr lässig den Arm um die Schulter. Es ist ihr anzumerken, dass sie sauer ist, weil er sie noch immer nicht gefragt hat, ob sie mit ihm zum Valentinstanz geht. Sie macht sich genauso steif wie die Eiszapfen, die vom Haltestellenschild hängen.
»Sag mal, Amy, hast du dich echt bei einer Partnervermittlung registriert, um eine Date für den Valentinstanz klarzumachen?«, fragt Roxanne und lacht wie eine Hyäne, die gerade unter Schmerzen Zwillinge zur Welt bringt.
Ich hasse sie wirklich. Das weiß sie auch, weil wir uns letztes Jahr beim Tennis fast gegenseitig die Augen ausgekratzt hätten, als ich sie aus der Schulauswahl verdrängt habe. Immer wenn sie kurz vor dem Verlieren ist, tut sie mitten im Spiel so, als würde sie hyperventilieren, damit sie eine Pause machen und sich neu sortieren kann. Netter Versuch, Roxy. Aber dich fege ich vom Platz – so oder so.
»Sie hat einen Freund«, wirft Jessica ein und verdreht die Augen. »Lass sie in Frieden, Roxanne.«
Am liebsten würde ich sie anfeuern: Go Jessica, go!, aber ich verkneife es mir. Dass ich eigentlich meinen Dad beim PJSN angemeldet habe, erwähnt Jessica mit keinem Wort, weil sie weiß, dass mir das unangenehm wäre. Eines schönen Tages wird Roxanne noch von der Bushaltestelle verbannt werden, wenn sie immer labert, als hätte sie Sprechdurchfall.
Dummerweise lässt der Bus zehn Minuten lang auf sich warten. Wir wohnen alle an der Gold Coast und müssen mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zur Schule fahren. Ein Auto macht keinen Sinn, wenn man in der City wohnt und dort zur Schule geht. Deshalb sind wir auf Gedeih und Verderb dem Chicagoer Nahverkehr ausgeliefert. Im Sommer und im Frühling ist das kein Ding, aber wenn Chicago im Winter unter den Schneemassen versinkt, dann nervt es. Meist warten wir so lange wie möglich in der Schule und gehen erst kurz vor Abfahrt des Busses nach draußen. Trotzdem friert man sich den Arsch ab, bis der Bus anhält und die Türen aufgehen.
Als wären wir nicht schon mit Roxanne genug geschlagen, kommt nun auch noch Nathan über den Gehsteig geschlittert und stellt sich zu uns. Er hat die Stöpsel seines iPods in den Ohren, um auch ja deutlich zu machen, dass er keinen Wert auf ein Gespräch mit gekünstelten Plastikmenschen legt. Kyle nickt ihm vage zu. Jemand sollte ihn mal aufklären, dass inzwischen Brillen auf dem Markt sind, die nicht mehr rutschen.
Der Bus biegt um die Ecke. Erleichterung! Ich steige als Erste ein, um Roxanne und Nathan zu entfliehen, wenn auch nur für zehn Sekunden. Ich gehe nach hinten durch, wo wir bis zu unserer Bushaltestelle rumhängen. Jess und Mitch – »das Pärchen« – sitzen mir gegenüber. Cami und Raine sitzen nebeneinander, genau wie Kyle und Roxanne. Bleiben Nathan und ich – die Singles.
Nathan zieht nicht mal in Betracht, sich neben mich zu setzen, sondern lässt sich mit seinen Kopfhörern auf eine Bank ganz vorn im Bus fallen. Er macht damit unmissverständlich klar, dass er nicht zu uns gehört.
Keine Ahnung, warum mich das so wurmt.
Vielleicht, weil er meine Schule und meine Freunde beleidigt hat. Und mich.
Egal. Es juckt mich nicht, was Nathan Keener Greyson über mich denkt. Ich habe meine Freunde und meinen Freund, auch wenn er auf der anderen Seite der Weltkugel lebt.
Schluck. Ich vermisse Avi, vor allem in Momenten wie diesem, wenn ich jemanden zum Zusammen-Abhängen bräuchte. Jess ist in letzter Zeit mies drauf – keine Ahnung, ob es wirklich wegen Mitch ist oder ob sie etwas anderes bedrückt. Sie blockt.
Cami macht schon eifrig ihre Hausaufgaben, damit sie daheim nicht mehr so viel zu tun hat. Raine ist das genaue Gegenteil – und deshalb momentan damit beschäftigt, ihren Lippgloss aufzufrischen. Hausaufgaben gehen ihr am Arsch vorbei. Ich vermute sogar, dass ihre Mom die für sie erledigt.
Roxanne flirtet mit Kyle. Vielleicht verlegt sie sich ja endlich auf jemanden, der noch keine Freundin hat. Ich frage mich, ob sie weiß, dass er mit Caroleen Connors zum Valentinstanz geht. Wahrscheinlich nicht, so, wie sie sich an ihn ranschmeißt und ihn die ganze Zeit antatscht, als wäre er ihr Eigentum. Kyle sonnt sich in ihrer Aufmerksamkeit. Gott sei Dank konzentriert er sich jetzt auf ihre Dingdongs und nicht mehr auf meine.
Der Bus hält an der Ecke Dearborn/Superior, wo ich aussteige. Nathan steigt natürlich ebenfalls aus und wir gehen zusammen zu unserem Haus. Aufzüge sind immer ein bisschen komisch. Das Quietschen und Scheppern der Türen kann einem ziemlich auf den Zeiger gehen. Aber wenn man dann auch noch mit jemandem Lift fährt, den man nicht riechen kann, dann kriegt sogar einer, der nicht klaustrophobisch veranlagt ist, das Gefühl, in einem Grab gefangen zu sein.
Ich drücke mich gegen eine Wand des Lifts, Nathan steht an der anderen. Er hat noch immer seine iPod-Stöpsel in den Ohren, aber ich bin mir nicht sicher, ob er wirklich Musik hört. Am liebsten würde etwas zu ihm sagen, um ihn auf die Probe zu stellen. Ich kenne so Leute, die vorgeben, Musik zu hören – dabei belauschen sie die Gespräche anderer, die denken, niemand würde etwas mitgekommen.
»Ich bin nicht aus Plastik«, sage ich zu ihm. »Oder künstlich.«
Keine Reaktion, bis auf ein leichtes Zucken seines Unterkiefers. Und er hat die Luft angehalten – nur für den Bruchteil einer Sekunde.
Es stimmt. Ich bin so authentisch, wie man nur sein kann, absolut kompromisslos. Mein Dad sagt, manchmal wäre das gut und manchmal einfach nur furchtbar.
Schließlich kommen wir im vierzigsten Stock an.
»Man sieht sich, Barbie«, murmelt Nathan.
Habe ich gerade recht gehört?
Barbie? Ähm … damit kommt er mir nicht davon. Auf gar keinen Fall.
Ich erstarre und drehe mich um. »Wie hast du mich gerade genannt?«, frage ich.
Ich hätte wissen müssen, dass er mich ignoriert. Ignorieren ist offenbar Nathans Spezialität.
In der Wohnung begrüßt mich Köter, indem er an mir hochspringt und mir mit der Zunge all seine Keime quer übers Gesicht schlabbert. Angeblich soll ein Hundemaul sauberer sein als der Mund eines Menschen, aber wer das behauptet, hat noch nicht das Maul meines Hundes getestet. Er leckt ein wenig zu oft an Weichteilen rum, um ihn – auch wenn man wirklich großzügig ist –in die Kategorie »sauber« einstufen zu können.
Ich sehe auf, als Köter zu seiner Leine hinüberrennt. Zu meinem Erstaunen sitzt Dad am Esstisch.
»Haben sie dich gefeuert?«, frage ich.
Mein Dad blickt auf. »Nein. Ich wollte nur da sein, wenn du nach Hause kommst.«
Das ist eine Premiere. »Warum?«
Dads Aufmerksamkeit wird abgelenkt, weil Köter die Leine im Maul hält und seinen Schwanz wie eine Lanze umherschwingt. »Wir reden später darüber, wenn du Köter Gassi geführt hast.«
Das klingt nicht gut. »Sag’s mir jetzt.«
»Er macht gleich auf den Boden, wenn du dich nicht beeilst.«
»Und ich drehe gleich durch, wenn du nicht damit rausrückst. Was ist los?«
Mein Dad holt tief Luft. »Ich bin noch nicht so lange im Vater-Business (er sagt fadder-Business), aber ich gebe mein Bestes. Du hast ohne meine Erlaubnis meine Kreditkarte benutzt. Diese sechsmonatige Mitgliedschaft kostet mich über dreihundert Dollar.«
Das kommt ungefähr hin. »Ich habe mich doch entschuldigt.«
»Diesmal, Amy, reicht eine Entschuldigung nicht.«
Panik kriecht in mir hoch. Will er, dass ich ausziehe und bei Mom und ihrem hyperallergischen Mann wohne? Die erlauben mir nie und nimmer, Köter in ihrem blitzeblanken Vororthaus zu behalten, vor allem jetzt nicht, da auch noch ein Baby unterwegs ist. Muss ich auf eine neue Schule, wo ich keinen kenne? Die Highschool ist schon hart genug, auch ohne die Neue zu sein, und ich werde jetzt nicht an Nathan denken, weil er mein Mitleid nicht verdient hat.
»Ich mache alles, Aba. Bitte schick mich nicht weg.«
Mein Dad steht auf. Ich weiß, dass er gleich die Katze aus dem Sack lässt, und beiße mir auf die Unterlippe. »Ich habe nicht vor, dich wegzuschicken, mein Schatz.«
»Nein?«
»Nein. Ich habe dir einen Job besorgt.«