7
Moses hatte großes Verhandlungsgeschick.
Er brachte Gott, den Oberoberboss, davon ab, das gesamte jüdische Volk zu vernichten (Exodus 32,13).
Na, wenn das nicht der ultimative Beweis dafür ist, dass man sein Schicksal selbst in die Hand nehmen kann.
Ich würde mir gern eine Scheibe von Moses Verhandlungsgeschick abschneiden, wenn ich mich mit meinem Dad rumschlage.
»Amy, du bist aber früh dran. Der Konversionsunterricht beginnt erst in zehn Minuten.«
Ich stehe in der Tür von Rabbi Glassmans Büro in der Beit-Chaverim-Synagoge. Er geht einige Papiere durch und reibt sich dabei seinen grau melierten Bart.
»Ich brauche einen Rat«, sage ich zu ihm.
Rabbi Glassman legt seine Unterlagen beiseite und bietet mir mit einer Geste den Stuhl auf der gegenüberliegenden Seite seines Schreibtischs an. »Ich habe immer ein offenes Ohr. Dafür bin ich hier.«
»Um sich das Gejammer anderer Leute anzuhören?«
»Unter anderem«, sagt er lächelnd und lehnt sich in seinem großen, dick gepolsterten Stuhl zurück. »Was hast du auf dem Herzen?«
Jede Menge. Aber ich werde mich darauf beschränken, was mir gerade am meisten zu schaffen macht. »Ich habe Mist gebaut.«
»Bist du in Konflikt mit dem Gesetz geraten?«, fragt er.
»Nein, mit meinem Dad. Ich habe unerlaubt seine Kreditkarte genommen, und jetzt will er, dass ich ihm das Geld zurückzahle, das ich ausgegeben habe.« Ich sehe den Rabbiner an, um sicherzugehen, dass er nicht vor Schreck aus den Latschen kippt.
»Um wie viel handelt es sich, wenn ich fragen darf?«
Ich hebe die Hände. »Ich weiß, das klingt jetzt vielleicht komisch, aber ich habe es für einen guten Zweck genommen. Ich habe ihn beim PJSN angemeldet … Sie wissen schon, dem Professionellen Jüdischen Single-Netwerk. Das ist eine Online-Singlebörse. Ich habe es nur gut mit ihm gemeint.«
Die Augenbrauen des Rabbiners schnellen nach oben. »Du hast deinen Vater ohne seine Einwilligung bei einer Partnervermittlung angemeldet?«
Ich nicke. »Er braucht eine Frau.«
Rabbi Glassman seufzt, dann sagt er mit ruhiger Stimme: »Amy, manchmal muss man den anderen selbst überlassen, wie sie ihr Leben gestalten wollen.«
»Ja, aber was ist, wenn sie sich für den falschen Weg entscheiden?«
»Jeder macht Fehler. Sogar Rabbiner. Wir sind alle nur Menschen.«
In letzter Zeit hat es den Anschein, als würde ich mehr als den üblichen Prozentsatz an menschlichen Fehlern machen. »Wollen Sie damit sagen, dass ich zusehen soll, wie mein Dad bis ans Ende seiner Tage allein bleibt?«
»Unsinn. Er hat doch dich, oder? Manchmal zählt nicht die Menge, sondern die Wichtigkeit einer Sache.«
»Das ist sehr philosophisch, Rabbi«, sage ich und lächle.
»Ich habe heute einen guten Tag.«
Ich beiße mir innen auf die Wange. »Davon hatte ich in letzter Zeit nicht sonderlich viele.«
»Ah, aber man lernt die guten Tage erst richtig schätzen, wenn man auch schlechte erlebt hat.«
»Wie Jona, als Gott dafür gesorgt hat, dass er vom Wal gefressen wurde?«
»Ich sehe, du hast deine Hausaufgaben gemacht.«
Ich beuge mich vor und flüstere: »Ja, obwohl ich das nicht alles für bare Münze nehmen kann, Rabbi. Es kommt mir ein wenig weit hergeholt vor, wenn Sie verstehen, was ich meine. Kann ich trotzdem Jüdin werden, auch wenn mein Verstand bei manchen Bibelgeschichten protestiert?«
Mit Rabbi Glassman kann ich ganz offen sprechen, weil er mich im Unterricht noch nie für meine Ansichten oder Argumente verurteilt oder ausgelacht hat. Er gibt mir das Gefühl, als wäre das, was ich zu sagen habe, wirklich wichtig und klug. Sogar wenn ich anderer Meinung bin als er.
Rabbi Glassman lehnt sich vor und wispert zurück: »Amy, ich finde auch, dass es weit hergeholt ist.«
Mir bleibt der Mund offen stehen. »Sie auch? Keine Sorge, Rabbi. Ihr Geheimnis ist bei mir gut aufgehoben.«
Rabbi Glassman lächelt. »Ich glaube, am Ende geht es immer um Vertrauen. Und um Glauben. »
»An die Menschen?«, frage ich.
Er zuckt mit den Schultern, als wüsste er nicht auf alles eine Antwort. »An die Menschen … an Gott … an sich selbst. Meinst du, dass du Vertrauen und Glauben hast?«
Ich sehe zu ihm auf. »Soll ich das jetzt beantworten?«
Mein Rabbiner schüttelt den Kopf. »Ich weiß nicht, ob du schon so weit bist, diese Frage zu beantworten. Denk einfach eine Weile darüber nach und komm dann wieder zu mir, wenn du … sagen wir … zwanzig bist.«
Ich stehe auf und versuche, all das im Kopf zu behalten, was Rabbi Glassman mir mit auf den Weg gegeben hat, während ich sein Büro verlasse. »Bis gleich im Unterricht, Rabbi«, sage ich über die Schulter. »Und danke fürs Zuhören.«
»Jederzeit gern«, ruft er mir nach.
Fünf Minuten später sitze ich mit fünf anderen im Konversionsunterricht. Mein Vater ist Jude ist, meine Mutter nicht. Ich habe die meiste Zeit meines Lebens bei meiner Mom verbracht und bin ohne Religion aufgewachsen. Letzten Sommer in Israel habe ich gemerkt, dass mir in meinem Leben etwas gefehlt hat: Jüdin zu sein. Also lerne ich jetzt so viel wie möglich über meinen Glauben.
Deshalb die religiöse Unterweisung.
Wir treffen uns einmal die Woche. Rabbi Glassman liest mit uns Geschichten aus der Bibel, und wir tauschen uns darüber aus, diskutieren und überlegen, welche Bedeutung oder welche Botschaft dahintersteht. Er erklärt uns auch die verschiedenen jüdischen Feiertage und bringt uns die Gebote bei. Der Rabbiner sagt, dass Traditionen einen großen Teil des Judentums ausmachen. Da ich aber nicht wirklich mit jüdischen Traditionen groß geworden bin, muss ich mir selbst ein paar ausdenken.
Wieder zu Hause führe ich Köter Gassi und gehe dann ins Perk Me Up! Ja, ich bin jetzt dank Marla und meinem Vater offiziell dort angestellt. Meine Strafe ist ein Job in meinem Lieblingscafé und dennoch bin ich alles andere als begeistert.
Marla begrüßt mich mit einem breiten Lächeln. »Schön zu sehen, dass wir heute Abend alle total gut drauf sind.«
»Es war ein langer Tag.«
»Oh, dann lasse ich dich vielleicht lieber nicht auf die Gäste los, sondern nur den Boden und die Tische putzen.«
Ich setze ein falsches Lächeln auf.
»Das gefällt mir schon besser«, sagt Marla. »So wollen die Kunden das.«
Sie dirigiert mich hinter die Theke, wo ich ein paar Formulare ausfüllen muss, und hält mir dann eine gelbe Schürze hin. »Hier, für dich. Du machst einfach mit mir mit, bis deine Schicht endet.«
Gelb ist nicht gerade meine Farbe, aber ich hänge mir das sonnige Ding klaglos um den Hals und schnüre mit den Bändern eine Schleife um meine Taille. Obwohl es schon sieben Uhr abends ist, bestellen manche Gäste Gebäck. Sie trinken sogar so spät noch Kaffee, vor allem diejenigen, die die Nacht durcharbeiten wollen.
Die meisten, die die Nacht durcharbeiten, sind Anwälte, wie ich feststelle. Sie bereiten sich auf einen Gerichtstermin am nächsten Morgen vor oder so etwas. Glaubt ihr, dass das Geld, das sie scheffeln, den ständigen Schlafmangel rechtfertigt? Ich für meinen Teil könnte jedenfalls nie Anwältin werden. Dafür schlafe ich zu gern.
Nach fünfzehn Minuten drückt Marla mir einen weißen Lappen mit so antibakteriellem Zeugs drauf in die Hand und bittet mich, die Tische zu wischen.
Ich hatte eigentlich gehofft, mich bis zum Ende meiner Schicht hinter der Theke verstecken zu können, aber da habe ich mich wohl geschnitten. Ich bin schon froh, dass ich nicht die Toiletten putzen muss, also trabe ich zu den Tischen und mache mich an die Arbeit.
Ich beginne mit der versteckten kleinen Ecke, in der ein Sofa und zwei bequeme Stühle stehen, doch dann erstarre ich. Auf einem der Stühle sitzt mit einem Buch niemand anders als Nathan Ich-heiße-nicht-Keener Greyson. Er blickt auf, und ihm ist anzusehen, dass er über dieses Zusammentreffen ungefähr so begeistert ist wie ich. Er führt gerade eine Tasse zum Mund, hält jedoch kurz vor seinen Lippen mitten in der Bewegung inne.
Ich widerstehe dem Drang, ihn darauf anzusprechen, wieso er Gerüchte über mich in die Welt setzt, und wische hastig seinen Tisch ab, ehe er sein Getränk – was auch immer es ist – wieder abstellt.
»Du hast einen Fleck übersehen«, murmelt Nathan. Ich schnaube. Ich habe keinen Fleck übersehen.
»Die Tische sind alle sauber«, berichte ich Marla, als ich wieder zurück zur Kasse gehe.
Mit zufriedener Miene lässt sie den Blick durchs Café schweifen. Die nächste halbe Stunde bekomme ich von ihr eine Einführung, wie man Espresso, kalte Getränke und Mixgetränke zubereitet. Außerdem erzählt sie mir ein bisschen von ihrer Kundschaft und erklärt mir, wie die Kasse funktioniert. Die Informationsflut macht mich ganz schwindelig, aber ich glaube, ich hab alles verstanden. Oder ich erwecke zumindest den Eindruck, es verstanden zu haben.
»Traust du dir zu, die nächsten fünf Minuten allein die Stellung zu halten, während ich neue Becher bestelle?«, fragt Marla. »Und vergiss nicht: immer schön lächeln. Das Café heißt nicht umsonst Perk Me Up!«
Nennt mich die Lächelnde Super-Barista. Na ja, nicht ganz – ich kann noch nicht mit Zimt, Muskatnuss oder anderem Schnickschnack den Kaffee »garnieren«, wie Marla es nennt. Seit ich bei meinem Dad eingezogen bin, war ich so oft im Perk Me Up!, dass ich mich mit den Basics hier ganz gut auskenne, doch sobald es darüber hinausgeht, bin ich aufgeschmissen.
Während ich zähle, wie viele Becher wir noch übrighaben, geht die Tür des Cafés auf.
Mein erster richtiger Kunde. Ich lächle und blicke auf. Als ich sehe, wer es ist, entspanne ich mich.
Mein Dad.
»Willkommen im Perk Me Up!«, begrüße ich ihn in übertriebenem Tonfall. »Was kann ich für Sie tun?«
Er kommt zum Tresen und blickt sich um. »Du machst eine gute Figur als arbeitende Frau«, sagt er stolz.
»Lass den Quatsch. Was willst du?«
Hinter mir schnappt jemand nach Luft. Ups, es ist Marla, die nicht sehen kann, dass es nur mein Dad ist und nicht ein richtiger Kunde. »Amy!«, schimpft sie.
Doch als sie näher kommt, atmet sie erleichtert auf.
»Holla, Sie haben aber ruppiges Personal«, sagt mein Dad und zwinkert Marla zu. »Okay, Amy, ich nehme eine große Tasse vom Kaffee des Hauses, schwarz mit einem Schuss Espresso.«
»Das gibt eine schlaflose Nacht«, sage ich zu ihm.
»Gut. Ich habe heute nämlich noch jede Menge Arbeit zu erledigen.«
Und das, obwohl mein Vater kein Anwalt ist. Er erzählt kaum etwas von seiner Arbeit. Eigentlich ist es cool, dass er einen Top-secret-Job hat, also nörgle ich nicht rum, wenn er mal bis spät in die Nacht arbeitet.
Marla beobachtet mich, wie ich die Mischung in eine Tasse gieße. Als ich fertig bin, lächelt sie. Dann reiche ich das Gebräu meinem Dad. Er wartet nicht mal, bis es etwas abkühlt, sondern nimmt sofort einen Schluck. »Das ist der beste Kaffee, den ich je getrunken habe!«, sagt er zu Marla, wobei seine Reaktion dermaßen übertrieben ist, dass es ihm keiner abnimmt.
Ich verdrehe die Augen. »Aba, komm, setz dich endlich.«
»Setz dich ruhig zu ihm«, schlägt Marla vor. »Deine Schicht ist sowieso vorbei.«
»Ich bin doch erst seit einer Stunde hier. Wie kann sie schon zu Ende sein?«
»Das ist der Deal«, schaltet sich mein Dad ein. »Eine Stunde pro Tag unter der Woche und sonntags drei Stunden. Ich wollte nicht, dass deine Schulaufgaben darunter leiden.«
Acht Stunden die Woche sind nicht so wild, schon gar nicht, wenn ich Samstagabend freihabe.
Ich halte Marla meine gelbe Schürze hin, aber sie sagt, ich soll sie morgen wieder zur Arbeit mitbringen. Dann hole ich meine Tasche aus dem verschließbaren Schränkchen und geselle mich zu meinem Dad an den Tisch.
Er nimmt Post aus seiner Aktentasche und blättert sie durch. Ich verrenke mir fast den Hals, um zu sehen, ob ein Brief von Avi dabei ist. Es ist über zwei Wochen her, dass er geschrieben hat. Das sieht ihm gar nicht ähnlich.
»Und?«, frage ich.
Dads spitzbübisches Lächeln spricht Bände.
Ich halte ihm die Hand hin. »Gib.«
Er zieht einen Brief aus dem Stapel und ich reiße ihm den Umschlag aus der Hand. Mein Herz setzt einen Schlag lang aus, und in meinem Bauch flattert auf einmal ein Schwarm klitzekleiner Schmetterlinge umher, während ich mit den Fingern über den Absender streiche.
Seit Avi und ich diese Fernbeziehung führen, muss ich ständig mit meiner Unsicherheit kämpfen. Wenn ich abends im Bett liege und ihn vermisse, frage ich mich, ob er mich schon vergessen hat. Hat er eine andere kennengelernt, die niedlicher oder hübscher ist oder einfach … nicht so viele Komplexe hat wie ich?
Ich fühle mich ein bisschen besser, als ich den Brief aufreiße, doch dann merke ich, dass mein Dad mich beobachtet … auf meine Reaktion wartet.
»Lies ihn doch vor«, schlägt er vor.
»Ja, genau«, sage ich sarkastisch und lasse den Brief in meiner Tasche verschwinden. Ich lese ihn später. Im Bett … allein.
»Warte!«, ruft Marla, als wir gerade gehen wollen. Sie hält einen Rucksack in der Hand. »Kennst du den Jungen, der auf einem der Stühle da drüben gesessen hat? Er hat seine Tasche vergessen.«
»Das ist Nathan«, sage ich. »Bestimmt merkt er es bald und kommt zurück, um sie zu holen.«
»Sei nicht albern, Amy«, meint mein Dad. »Du kannst ihm den Rucksack doch auf dem Heimweg vorbeibringen.«