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Gott sprach zu Moses (Exodus 3,4).
Spricht Gott noch immer zu den Menschen?
Und wie kommt es, dass er mir nie zu antworten scheint, wenn ich mit ihm spreche?
Am Sonntag fahre ich mit Köter zu Moms neuem Haus in Deerfield. Seit ich bei meinem Dad wohne, besuche ich sie jedes Wochenende. Köter hüpft schon ins Haus, ehe ich die Tür ganz aufgemacht habe.
»Ärg! Ärg!«
Ich muss nicht lange raten, wo Mom steckt. Ihr spitzer Schrei aus der Küche ist unüberhörbar. »Amy!«
Jetzt geht das wieder los. »Was?«, sage ich übertrieben fröhlich.
»Musstest du den Köter mitbringen?«
»Köter, Mom. Er heißt Köter.« Okay, so gesehen ist er natürlich auch ein Köter.
»Ärg!«, macht Köter.
»Warum bellt er so komisch?«
»Du weißt doch, dass er einen Sprachfehler hat.« Das liegt in der Familie. Mein Dad kann kein »th« sprechen, weil es diesen Laut im Hebräischen nicht gibt. Aber ich habe mich daran gewöhnt und höre seinen Akzent gar nicht mehr. Genau wie bei Köter.
»Vielleicht stimmt was nicht mit ihm?«, meint sie und weicht einen Schritt zurück. »Hat er alle nötigen Impfungen?«
Ich bedenke Mom mit meinem berühmt-berüchtigten Hohnlächeln, bei dem sich meine Lippen genau im richtigen Maße kräuseln – nicht zu viel und nicht zu wenig. »Und du bezeichnest mich als Drama Queen. Er ist gesund und munter.«
»Schick ihn lieber raus, okay? Marc ist allergisch.«
Ich fühle mich mies dabei, Köter nach draußen in die Kälte zu verbannen, vor allem, weil er aus Israel kommt und Hitze gewöhnt ist. Aber dafür hat er schließlich einen Pelzmantel, also sollte ich mir keinen Kopf deswegen machen, oder?
»Köter. Raus mit dir!«, befehle ich und öffne die Hintertür. Ihm scheint es nichts auszumachen, denn er hopst fröhlich zur Tür hinaus.
Ehrlich gesagt glaube ich, dass Marc allergisch auf die Vorstellung reagiert, einen Hund im Haus zu haben. Er ist ein Sauberkeitsfanatiker. Und Köter ist ein sabberndes, sich haarendes Biest.
Ich drehe mich um und merke, dass meine Mom mir auf die Brüste starrt.
»Sie sehen in letzter Zeit ein bisschen aus, als würden sie hängen. Es wird mal wieder Zeit für ein paar neue BHs.«
»Mom«, sage ich entsetzt. »Mit meinen BHs ist alles in Ordnung.«
»Wann hast du dich zum letzten Mal richtig vermessen lassen?«
Oh nein, jetzt geht die Leier wieder los. Ich soll mich allen Ernstes in eine Umkleide stellen, damit eine Verkäuferin mich anstarrt und von Kopf bis Fuß ausmisst, um mir schließlich behilflich zu sein, meine Dinger in einen BH zu packen. Einmal hat meine Mom mich in so eine spezielle Dessous-Boutique geschleppt. Es war das Peinlichste, was ich je erlebt habe. (Na gut, ich gebe zu, dass ich Peinlichkeiten geradezu magisch anziehe, aber diese Sache rangiert ganz weit oben auf der Liste.)
»Könnten wir bitte über was anderes als meine Dinger sprechen?«
Toll. Jetzt kommt auch noch der geheiligte Allergiker in die Küche. Hoffentlich hat er die Unterhaltung über meine Hängebrüste nicht mitbekommen. »Hi, Amy«, sagt er.
Ich murmle ein »Hi«.
Er beugt sich über meine Mom und küsst sie. Iiiih! Also echt, wenn er jetzt anfängt, mit ihr hier rumzumachen, dann bin ich weg.
»Ha-tschi!«
»Oh Liebling«, sagt Mom (und meint nicht mich damit). »Amys Hund war im Haus.«
»Ist schon in Ordnung«, sagt er.
Schleimer.
Ich kann dieses Liebesgeplänkel nicht ab – darauf reagiere ich allergisch. »Ich gehe mit Köter Gassi.«
»Warte. Wir wollten dich was fragen.«
Ich sehe Mom an. »Was denn?«
»Komm … setz dich.«
Ich lasse mich auf einen Küchenstuhl fallen. Mom setzt sich neben mich, Marc sich neben Mom. Sie nimmt meine Hand.
Okay, jetzt geht es um mehr als um Brüste und BHs, das merke ich daran, wie Mom meine Hand drückt.
»Wie würdest du es finden, wenn du eine große Schwester wärst?«
Ich zucke die Schultern. »Nicht so doll.«
Ich mag mein Leben, wie es ist. Ich habe meine Mom, ich habe meinen Dad, ich habe Jessica, ich habe meinen Nicht-Freund Avi und ich habe Köter. Alles bestens, warum sollte ich mir ein kleines Balg wünschen, das alles durcheinanderbringt?
Meine Reaktion versetzt Moms Begeisterung einen kräftigen Dämpfer.
»Wieso? Überlegt ihr, ein Kind zu adoptieren? Hör mal, Mom, ich wage zu bezweifeln, dass das in eurem Alter noch geht.«
»Entschuldige mal, ich bin siebenunddreißig.«
Eben! »Du bist fast vierzig!«
»Außerdem«, sagt sie, ohne auf meine Bemerkung einzugehen, »denken wir nicht über eine Adoption nach. Ich bin schwanger.«
Pause.
Stille.
Speichern.
Habe ich recht gehört?
»Du bist schwanger? Schwanger wie du bekommst ein Baby?«
Marc lächelt breit. »Genau.«
Ich stehe auf. »Und ihr habt mich nicht mal gefragt?« Sie hätten ja wenigstens vorher mit mir darüber sprechen können, oder? Brauchen sie einen Ersatz für mich, weil ich zu meinem Dad gezogen bin? Es ist ja nicht so, als würde ich mich nie bei ihnen blicken lassen. Ich lasse mich sehr wohl blicken. Aber Mom hat einfach kurzerhand unsere Stadtwohnung verkauft und ich konnte nicht im vorletzten Highschool-Jahr die Schule wechseln. Was wäre denn dann aus meinen Freundschaften geworden? Oh Mann! Und sie freuen sich auch noch so. Als würde mit dem nigelnagelneuen Kind alles viel besser werden als mit dem alten, gebrauchten Modell.
Ein Baby.
An der Tatsache kommt man nicht vorbei – ich werde ersetzt.
»Ich werde keine Windeln wechseln«, platze ich heraus. Ja, ich weiß selbst, dass diese Bemerkung unreif und kindisch ist, aber sie ist mir einfach so rausgerutscht. So was soll schon mal vorkommen.
Mom sieht mich mit Tränen in den Augen an. »Du musst keine Windeln wechseln.«
Tut mir leid, aber ich kann hier nicht die Gelassene geben. Mir wirbeln Hunderte von Fragen durch den Kopf. »War das geplant?«
Marc und Mom sehen sich an. »Na ja, schon«, sagt er.
»Und denkt ihr nicht, es wäre wichtig gewesen, mich nach meiner Meinung zu fragen?«
»Amy, Marc und ich wollen zusammen Kinder. Ich habe gedacht, du würdest dich darüber genauso freuen wie wir.«
Ich schlucke, was gar nicht so einfach ist, weil ich einen Kloß von der Größe eines Basketballs im Hals habe.
»Ich muss los«, sage ich und hole meinen Hund. »Komm, Köter.« Ich führe ihn ums Haus herum. Ich muss hier weg und in Ruhe darüber nachdenken, wo in Zukunft mein Platz ist innerhalb meiner sogenannten Familie.
Mom rennt mir hinterher. »Amy, bleib da. Ich will nicht, dass du wütend bist.«
Ich seufze. »Ich bin nicht wütend, Mom. Ich muss das nur alles erst mal sacken lassen.« Im Auto klappe ich mein Handy auf, um Jessica eine SMS zu schreiben.
Ich: Rate mal, wer schwanger ist.
Jess: Du?
Ich: Im Ernst.
Jess: Deine Mom?
Ich: Japp.
Jess: Glückwunsch!?
Ich: Bitte keine Gratulation.
Jess: Gibt Schlimmeres.
Ich: Was?
Jess: Wenn du’s wärst.
Ich: Bin Jungfrau.
Jess: Nobody’s perfect.
Ich: Bring mich nicht zum Lachen.
Jess: Besser als heulen, oder?
Eins muss man meiner besten Freundin lassen: Sie rückt die Dinge ins rechte Licht. Aber Jessica kennt die Geschichte zwischen meiner Mom und meinem Dad nicht so genau. Und ich glaube, dass bei meinem Dad der Stachel immer noch tief sitzt. Und das ist nicht witzig.
Zurück in der Innenstadt ist die Temperatur bestimmt um mindestens zehn Grad gefallen. Anscheinend passt sich das Wetter meiner inneren Kälte an.
Eigentlich weine ich nie, aber meine Augen werden gerade irgendwie ganz von selbst wässrig. Verdammt.
Zuhause angekommen, schmeiße ich mich auf mein Bett. Mein Vater tut mir leid – jetzt noch mehr, wo Mom und Marc wirklich eine eigene Familie gründen, während mein armer Dad allein ist. Nun wird er meine Mom nie zurückbekommen. Wenn er das mit dem Baby erfährt, ist er bestimmt total fertig. Ich muss mir was einfallen lassen – und zwar schleunigst. Mein Traum vom heilen Familienleben ist mir vor der Nase jäh zerplatzt.
Ist das normal, dass die Familie einen in den Wahnsinn treibt? Ich muss mit jemandem darüber reden. Am liebsten mit meinem Nicht-Freund, aber der ist irgendwo mitten in Israel in der Ausbildung. Keine Telefonanrufe im Ausbildungslager.
Ich werfe einen Blick auf Avis Bild auf meinem Nachttisch. Er trägt einen Kampfanzug, über die Schulter hat er sein Maschinengewehr geschnallt. Und er lächelt. Lächelt. Als wäre nichts dabei, mitten in der brütend heißen Wüste Negev im Ausbildungslager festzusitzen. Im Moment vermisse ich ihn ganz besonders. Er ist so stark – innerlich und äußerlich. Ich wünschte, ich wäre genauso.
In seinem letzten Brief hat er mir was über die Sterne geschrieben. In der Wüste Negev habe er zum Himmel hinaufgeschaut, und der sei so klar gewesen, dass er mindestens eine Milliarde Sterne gesehen habe.
Er schrieb, dass er da an mich denken musste und sich gefragt hat, was ich unter denselben Sternen wohl gerade mache. Mein Herz ist quasi zu Knoblauchbuttersoße dahingeschmolzen (in die dippe ich so gern meine Pizza), als ich seinen Brief gelesen habe. Manchmal denke ich, dass er die richtige Sichtweise aufs Leben hat. Und ich? Ich würde beim Anblick einer Milliarde Sterne wahrscheinlich denken: Ich bin so klein und unbedeutend.
Ich sitze auf meinem Bett und öffne meinen Rucksack. Von dort lacht mich die Seite mit den Kontaktanzeigen an. Ich muss sie aus Versehen eingesteckt haben. Ich reibe mir die Augen und werfe einen Blick auf die schwarzen Zeilen.
Eine klitzekleine Idee, so winzig wie ein weit entfernter Stern formt sich in meinem Hinterstübchen.
Wenn sich Mom und Marc ihr eigenes kleines Vorort-Familienidyll erschaffen können, dann werde ich das für meinen alleinstehenden Dad doch wohl auch hinkriegen – und zwar hier in der Stadt.
Was spricht eigentlich dagegen, eine Annonce für ihn aufzugeben? Vielleicht lernt er ja, wie Marla es ausgedrückt hat, auf diese Art und Weise seine Seelenverwandte kennen.