13
Von Beginn an, als die Juden Sklaven des ägyptischen Pharao waren, bis hin zum Versuch der Nazis, die jüdische Rasse zu vernichten, haben die Juden gelitten – doch am Ende haben sie sich behauptet und sind gestärkt daraus hervorgegangen.
Sogar Gottes Zorn haben sie überstanden (Exodus 32,10).
Hindernisse zu überwinden, liegt mir als Jüdin im Blut.
»Die ganze Schule denkt, ich wäre schwul.«
Ich stehe vor meinem Schließfach und suche nach meinem Geschichtsbuch. Es ist irgendwo hier drin. »Hast du was gesagt?«, frage ich Nathan mit zuckersüßer Stimme, während ich mich noch immer durch den Bücherstapel in meinem Spind wühle.
»Amy.«
Ah, da ist es ja. Ich ziehe mein Buch heraus und frage mich, wann Mr Krazinski uns wohl mit einem Test überraschen wird. Vielleicht sollte ich das Buch heute mit nach Hause nehmen und es mir zu Gemüte führen.
Nathan packt meinen Arm und zieht mich vom Schließfach weg. »Autsch«, sage ich. Er ist stärker, als ich vermutet hätte, aber weh tut es nicht. Ich reibe mir demonstrativ den Arm.
»Ich habe dir nicht wehgetan. Noch nicht.«
»Was willst du von mir, Nathan? Ich muss zum Unterricht und bin schon spät dran.«
Er trägt ein blütenweißes Button-down-Hemd und eine navyblaue Bundfaltenhose. Doch sein mangelndes Modegespür fällt mir kaum auf, weil ich mich darauf konzentriere, ihm nicht in die Augen zu sehen. Mirandas lächerlicher Vergleich mit den Smaragden geht mir nicht mehr aus dem Kopf.
»Gib zu, dass du überall rumposaunt hast, ich wäre schwul.«
Ich lehne mich gegen die Schließfächer und versuche, seinem Blick auszuweichen. »Hör mal, Nathan. Ich habe niemandem erzählt, dass du schwul bist. Vielleicht habe ich gesagt, dass du nicht auf Mädchen stehst.«
»Warum? Weil ich nicht auf dich stehe?«
»Das ist unterste Schublade, Nathan.«
»Oh, ich kann noch viel weiter nach unten. Der Boden ist noch lange nicht erreicht, Amy. Leg es lieber nicht drauf an.« Er macht einen Schritt auf mich zu, spreizt die Arme und stützt sich links und rechts mit beiden Händen an die Spinde hinter mir, sodass ich gefangen bin. »Sieh mich an.«
Am liebsten würde ich weiter auf die gegenüberliegende Wand starren, aber das wäre feige. Und ich bin absolut kein Feigling. Er ist sehr groß und sehr nah. Ich kann den Duft seines Eau de Toilettes riechen. Als ich aufblicke, starre ich direkt in seine Augen, weil ihm die Brille runtergerutscht ist. Ich schlucke und sage: »Was ist so schlimm daran, wenn jemand denkt, du wärst schwul? Jason Hill ist schwul, und er ist der beliebteste Junge der Schule – bei den Mädchen genauso wie bei den Jungs.«
»Wenn es so wäre, wäre mir das scheißegal. Aber es ist nicht so.«
»Dann sag den anderen doch, dass du hetero bist. Genau wie ich überall klarstellen muss, dass ich mich nicht bei einer Singlebörse angemeldet habe.« Ich schiebe seinen Arm weg und gehe zu meinem Klassenraum, während ich die ganze Zeit darüber nachdenken muss, dass sein Auftreten überhaupt nicht zu seinem Äußeren passt. Es ist, als würde man einen Büffel als Hyäne verkleiden. Es passt einfach nicht.
Jessica ist auch in meinem Kurs für amerikanische Geschichte. Ich setze mich auf meinen Platz neben ihr, nachdem Mr Krazinski mich angeraunzt hat, weil ich zu spät bin. Ich habe ihn angelogen und gesagt, schuld wäre ein Frauenproblem, was ihn in Nullkommanichts mundtot gemacht hat.
Jess sieht schrecklich aus. Es würde mich wundern, wenn sie heute Morgen geduscht hat, so zerzaust, wie sie aussieht. Ihre brauen Haare stehen wirr vom Kopf ab, sie trägt ein ausgeleiertes Sweatshirt und ist ungeschminkt. Plötzlich spielt es keine Rolle mehr, dass sie sich gestern Abend ziemlich unsensibel mir gegenüber verhalten hat. Ich muss wissen, was los ist. Jess und ich sind seit zwölf Jahren beste Freundinnen. Unsere Freundschaft ist stärker als jeder Streit.
Hoffe ich.
Aber jetzt mache ich mir Sorgen. Sie sieht nicht mal in meine Richtung, also muss ich warten, bis der Gong die Stunde beendet, um sie in die Mangel zu nehmen. Echt wahr, diese Schule sollte in Drama Academy umbenannt werden.
Als es endlich läutet, schnappt sich Jess ihre Sachen und eilt schneller als ein Hase, der von einem Hund gejagt wird, aus dem Klassenzimmer. Schiebend und schubsend bahne ich mir einen Weg durch die Schülermassen, um sie einzuholen. Ich höre ein paar Typen fluchen, als ich mich an ihnen vorbeidränge, aber das Einzige, woran ich denken kann, ist, dass meine Freundin in Schwierigkeiten steckt.
Ich finde sie auf der Mädchentoilette. »Jess, ich weiß, dass du da drin bist. Ich habe dich gesehen.« Als ich keine Antwort erhalte, fahre ich fort: »Ich gebe zu, dass ich nur um meinen eigenen Mist gekreist bin und mich viel zu wenig um dich gekümmert habe, aber lass uns bitte darüber reden.«
Die Tür einer Kabine geht auf und Roxanne Jeffries kommt heraus.
Sie wirft ihre rote Mähne zurück und sagt mit einem höhnischen Grinsen: »Wie ich höre, hat Mitch Jessica für eine kleine Neuntklässlerin abserviert.«
»Halt die Klappe, Roxy, oder ich sage allen, dass du dir letzten Sommer Implantate hast machen lassen, während du angeblich im Übernachtungs-Camp warst«, zische ich.
»Blöde Zicke«, schnaubt Roxanne wütend.
»Ja, das kommt mir bekannt vor. Und jetzt verschwinde. Dein Parfüm macht mich krank. Oder ist das dein Körpergeruch?«
Roxanne wäscht sich die Hände und stürmt aus der Toilette.
»Du bist keine blöde Zicke«, kommt Jessicas Stimme aus einer der Kabinen. An ihrer Stimme kann ich erkennen, dass sie geweint hat. »Du bist nur sehr beschäftigt.«
»Nein, ich glaube, die hat schon recht. Ich bin eine blöde Zicke, denn egal, was bei mir gerade los ist, seine beste Freundin darf man niemals hängen lassen.«
Mit einem zusammengeknüllten Taschentuch in der Hand zieht Jess ihre Klotür auf. »Tut mir leid, was ich über dich und Avi gesagt habe.«
»Mir tut es leid, dass ich nicht eher gemerkt habe, wie mies es dir geht. Was ist los? Stimmt es, was Roxanne gerade gesagt hat?«
Ihre Augen füllen sich mit Tränen und ich reiche ihr ein Papier-Handtuch. »Bevor ich gestern Abend zur Jugendgruppe losgefahren bin, hat Mitch angerufen. Er meinte, er müsse was Wichtiges mit mir besprechen. Ich habe versucht, es ihm aus der Nase zu ziehen, aber er wollte es lieber auf später verschieben. Ich habe ihn gefragt, ob es etwas Gutes wäre, und er meinte Nein.«
Ich beiße mir vor Anspannung auf die Unterlippe. »Er hat doch nicht …?«
»Doch. Als ich von der Jugendgruppe nach Hause gekommen bin, habe ich ihn angerufen. Er hat mit mir Schluss gemacht und mir gesagt, dass er mit Kailey Pulson zum Valentinstanz geht.«
Meine Augenbrauen ziehen sich verwirrt zusammen. »Kailey Pulson? Die aus der Neunten?« Kailey Pulson ist eine totale Sportskanone und geht in ihrer Freizeit ständig klettern.
Tränen laufen Jessica über die Wangen, als sie nickt. »Was soll ich denn bloß machen?«
Der Gong läutet wieder. Jetzt komme ich zum zweiten Mal zu spät. »Ich lass mir was einfallen, Jess. Ich bin schließlich nicht umsonst deine beste Freundin. Was wir dringend brauchen, sind heiße Dates für den Valentinstanz. Überlass das mir.«
Jess schnieft. »Um ganz ehrlich zu sein, ich will gar nicht mehr hin. Kailey und Mitch zusammen zu sehen, hat mir gerade noch gefehlt.«
Sie hat recht. Als ich die Tür zum Gang öffne, drehe ich mich um und sehe meine beste Freundin an. »Dann hängen wir einfach zu Hause ab. Nur wir beide – zwei Mädchen ohne Verabredung. Wir schauen DVDs, bestellen uns Pizza und quatschen die ganze Nacht. Na, wie klingt das?«
»Danke, Amy«, sagt Jess.
Wegen meines Gesprächs mit Jess komme ich zu spät zum Literaturunterricht, aber anstelle von Miss Haskell ist eine Vertretung da, insofern ist es halb so wild. Vielleicht ein Vorbote von gutem Karma, das des Weges kommt?
Beim Mittagessen hole ich mir etwas an der Salatbar und mache mich dann auf die Suche nach Mitch. Wenn ich den in die Finger kriege, kann er sich warm anziehen. Auch wenn Jessica findet, dass ich nichts unternehmen soll. Wenn es nach ihr geht, soll ich ihn in Ruhe lassen, aber das kann ich nicht.
»Barbie«, sagt eine Männerstimme hinter mir. Ich fahre herum. Natürlich ist es Nathan. Niemand sonst besäße die Frechheit, mich Barbie zu nennen. Ohne ein Wort zu sagen, zieht er mich an sich und küsst mich.
Küsst mich richtig. Mein Tablett mitsamt dem Essen kracht hinunter – auf dem Boden und meinen Schuhen häuft sich eine Riesensauerei aus grünem Salat, Rohkost und Thousand-Islands-Dressing. Nathans weiche, einladende Lippen sind leicht geöffnet, und als ich mich ihm gerade entwinden und ihn anschreien will, schlingt er seine Hand um meine Taille und drückt mich noch fester an sich.
Mein Verstand sagt mir, dass ich mich schleunigst von ihm lösen sollte, obwohl meine Lippen jetzt genauso eifrig sind wie die von Nathan. Ich greife nach seinem Oberarm und versuche, ihn wegzuschieben, doch er ist zu kräftig, und außerdem fehlt mir die letzte Entschlossenheit.
Nathan tritt als Erster einen Schritt zurück, nachdem seine Brille in mein Gesicht gerutscht ist und ich zusammengezuckt bin. Er wendet sich mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht der Menge zu, schiebt seine Brille hoch und sagt: »Okay, dann gehe ich mit dir zum Valentinstanz.«
Okay? Gar nichts ist okay!
Die ganze Cafeteria ist in Aufruhr und die Jungs johlen. Ich bin immer noch völlig benommen, als Gladys, die Frau von der Essensausgabe, die Schweinerei mit dem heruntergefallenen Salat bemerkt und uns mit einem empörten Blick und einer bissigen Bemerkung über den Verhaltenskodex an der Chicago Academy zur Seite schiebt.
Auch als ich wieder klar sehen kann, stehe ich noch immer unter Schock. Nathan will Gladys helfen, die Sauerei wegzuputzen, doch sie verscheucht ihn mit einer Handbewegung.
Wortlos durchquere ich die Cafeteria und lasse mich auf einen Stuhl neben Miranda fallen, der der Mund offen steht. Ich weiß. Ich sitze sonst nie bei Miranda. Aber Miranda und ihre Freunde sind eben nicht so alte Klatschtanten – oder Lästermäuler – wie meine eigenen Freunde. Ich lächle sie vorsichtig an. Dummerweise folgt mir Mr Smaragdauge auf den Fersen und setzt sich neben mich.
»Hier«, sagt er und schiebt mir eine braune Tüte hin. »Mein Mittagessen. Kannst es haben, weil deins runtergefallen ist.«
Oh, heute mal ganz Gentleman. Also, bitte!
Ich schaue zu Jessica hinüber, die am Tisch der beliebten Mädchen sitzt. Vor weniger als zwei Stunden habe ich ihr erzählt, ich würde nicht zum Valentinstanz gehen, sondern zu Hause bleiben. Wahrscheinlich denkt sie jetzt, ich hätte gelogen und würde was mit Nathan anfangen.
»Mir ist der Appetit vergangen«, blaffe ich Nathan an. Also echt, wie soll man nach alldem was runterkriegen?