ZWANZIG
(I)
»Ich verstehe das nicht«, jammerte Charity. Flucht war jetzt ihre oberste Priorität. Die einzige Möglichkeit, am Leben zu bleiben, bestand darin, so schnell wie möglich so weit wie möglich von Luntville wegzukommen. Nachdem Charity sich von ihrem Schock erholt hatte, hatte Annie sie aus dem Haus und in den Pick-up geführt. Sie hatten keine Zeit, nach Goop zu sehen. Sie hatten keine Zeit für irgendetwas anderes als Flucht.
Annie schoss mit durchdrehenden Rädern vom Parkplatz. Der rechte hintere Kotflügel schrammte an einem Baum entlang, als sie auf die Hauptstraße einbog und beschleunigte.
Charitys Bewusstsein driftete allmählich in einen Zustand zurück, den man fast als Normalität bezeichnen konnte, so ähnlich wie der Fokus einer Brennlinse. Aber sofort drangen wieder die Bilder und Fragen auf sie ein. »Diese Narben«, sagte sie, zusammengekauert auf der Sitzbank des Pick-ups, die Hand an die Stirn gelegt. »Diese grässlichen Narben an deinen Brustwarzen und Beinen ... Was ist passiert?«
Annies entschlossenes Gesicht blieb weiter auf die Straße gerichtet, während sie fuhr. »Bestrafung, Liebes. Manchmal kann man einfach nich’ mit bestimmten Dingen leben, außer man bestraft sich selbst. Ich bestraf’ mich jetzt schon seit langer Zeit.«
Bestrafung? »Warum?«
Als ihre Tante nicht antwortete, öffnete sich Charitys Mund für die nächste Flut an Fragen, doch sie blieben ihr im Hals stecken, als sie sich erinnerte ...
Als sie sich an das erinnerte, was sie durch das Guckloch gesehen hatte.
Abscheulich. Riesig. Und, ja, ein Monster.
Ein riesiger, glänzender, kahler Kopf, länglich wie ein seltsamer, verwachsener Kürbis. Hände so groß wie Kohleschaufeln. Und als das Ding sich umgedreht hatte, hatte sie sein Gesicht sehen können, und bei der Erinnerung daran wäre sie fast wieder ohnmächtig geworden.
Das Gesicht ...
Schiefe, verwachsene Ohren. Eine deformierte Nase, die aussah, als hätte jemand zwei getrocknete Feigen aneinandergepresst. Ein Auge groß wie ein Tennisball, das andere so klein wie eine Cocktailtomate. Und der Mund ...
Charity erschauderte erneut, ihr Magen zog sich so plötzlich zusammen, dass sie befürchtete, sich übergeben zu müssen ...
Ein riesiger steinerner Kiefer umrahmte einen Mund wie einen Abgrund, voller Zähne so spitz wie Teppichnadeln.
»Wohin fahren wir?«, fragte sie.
»Weg von hier. Irgendwohin«, sagte Tante Annie.
»Das ... geht nicht«, protestierte Charity, deren Verstand allmählich wieder die Kontrolle übernahm. »Jerrica und der Priester. Sie sind immer noch in der Abtei. Wir können nicht einfach wegfahren und sie zurücklassen. Dieses Ding ... wenn es über den Bergrücken geht – es könnte in weniger als einer halben Stunde an der Abtei sein. Wir müssen Jerrica und Pater Alexander holen.«
Annie schien der Vorschlag nicht zu gefallen, auch wenn sie nicht direkt widersprach. »Wir könnten sterben, Liebes, weißt du das?«
Charity knirschte mit den Zähnen. »Wir werden sie nicht im Stich lassen! Wir müssen sie wenigstens warnen!«
»Na gut.« Annies Stimme klang, als würde man rostiges Metall abschleifen. »Wir fahren an der Abtei vorbei. Aber gib nicht mir die Schuld, wenn wir da nicht mehr wegkommen.«
»Gut.« Aber in Charitys Gedanken wirbelten immer noch die Fragen. »Du musst mir etwas erklären. Dieses ... Ding – das Ding, das ich durch das Loch gesehen habe. Das war Bighead, oder?«
»Ja«, antwortete Annie, den Blick auf die dunkle Straße gerichtet.
»Aber ich habe das Grab gesehen. Jemand hat es aufgegraben. Und jemand hat in den Sargdeckel BIGHEAD, FAHR ZUR HÖLLE gekratzt. Wenn Bighead als Kind gestorben ist und begraben wurde, wie um alles in der Welt können wir ihn dann gerade gesehen haben?«
(II)
Mit dieser Frage hätte Annie rechnen müssen. Nach allem, was die arme Charity gesehen hatte ...
Das Lenkrad fühlte sich wie ein polierter Knochen an. »Ich werd’ es dir erzählen, Charity. Ich glaub’, du hast ’n Recht drauf, es zu erfahren.«
»Was du nicht sagst.«
Und Annies Gedanken schweiften ab.
Zurück, zurück ... Zu jenem Tag vor 30 Jahren ...
(III)
Die Männer aus der Stadt hatten sich um das Ding gekümmert, damals vor neun Monaten. Aber das hatte nichts geändert, nicht für Annies Schwester. Die Männer hatten es erschossen, es getötet. Sich drum gekümmert, dachte sie.
Aber für Sissy änderte das nichts, nicht wahr?
Annie war die Hebamme der Stadt, wegen irgendeines Problems in ihrem Bauch konnte sie keine eigenen Kinder bekommen. Aber ihre Schwester ...
Ihre Schwester lag vor ihr auf dem Tisch, die Beine weit gespreizt. Ihr Gesicht war von der Anstrengung gerötet, ihre Vagina dehnte sich. Große, reife Brüste sonderten einen dünnen Milchfilm ab.
Annie konzentrierte sich auf ihre Arbeit, sie hielt die Hände unter den gespreizten Schenkeln ihrer Schwester ausgebreitet. Es kommt, es kommt, dachte sie.
Doch was würde es sein?
»Mein GOTT!«
Es kam nicht so, wie es sollte. Es kam ... durch den Bauch ...
Es fraß sich seinen Weg aus dem Leib ihrer Schwester heraus ...
(IV)
»Du musst wissen, das alles passierte ein Jahr, nachdem du geboren wurdest, Charity. Was ich dir erzählt hab’ – dass deine Ma mit ’ner Schrotflinte Selbstmord begangen hat –, war nur ’ne Erfindung. Sie starb im Kindbett. Meine liebe Schwester Sissy, deine wundervolle Mama«, erzählte Annie. Sie fuhr zügig mit dem Pick-up durch die Stadt und auf den Bergrücken zu, auf dem die Abtei lag.
»Ja, ’n Jahr oder so, nachdem deine Mama dich bekommen hatte«, fuhr Annie fort, »passierte was, im nächsten Winter ... Deine Mama war’s, die Bighead auf die Welt brachte. Und als er auf der Welt war, war sie tot ...«
(V)
Es fraß sich heraus.
Es fraß sich seinen Weg aus Sissys aufgedunsenem Bauch.
Nagend, kauend, mit glitzernden Zähnen ...
»Wir wissen, was’s wirklich is’!«, rief einer von den Männern. »Es is’ nich’ natürlich! Es muss sterben!«
Und das Ding kämpfte sich aus dem Bauch ihrer Schwester heraus ...
(VI)
»Deine Mama war’s ... die Bighead auf die Welt brachte«, gestand Annie.
Charity starrte auf die Straße. »Aber ich habe das Grab von Bighead gesehen! Es ist geöffnet worden! Das Ding ist als Kind gestorben!«
Ein Kloß setzte sich in Annies Kehle fest. Einen Moment lang konnte sie nicht sprechen. Was sollte sie sagen? Wie konnte sie ihre Tat gestehen?
Sie fühlte sich wie aus Stein, als sie sagte: »Es war nich’ Bighead, der in dem Grab bestattet wurde, das du auf ’m Friedhof gesehen hast. Es war ... ein anderes Kind.«
»Ein anderes Kind! Wovon redest du?«
»Es war ’ne Totgeburt«, fuhr Annie fort. »Das Kind von Geraldine Larkins ...«
(VII)
Annie hatte davon gehört. Geraldine Larkins hatte sich so sehnlich ein Baby gewünscht ...
Doch es kam tot auf die Welt.
Zu viel Inzucht, hatten sie gesagt. Zu viel Moonshine und zu viel Schlechtigkeit. Geraldine hatte einen wunderschönen kleinen Jungen geboren ...
Aber es war ein toter Junge.
Sie hatten ihn im Wald verscharrt; Annie hatte sie auf einem ihrer Spaziergänge gesehen. Sie hatte gesehen, wie sie das arme kleine Baby begruben.
Also machte sie Folgendes ...
(VIII)
»Ich hab’s ausgegraben«, gab Annie zu. »Ich hab’ Geraldine Larkins’ armes totes Baby ausgegraben und ... ich hab’s ausgetauscht ...«
»Ausgetauscht?«
»Ich hab’s ausgetauscht. Denn ich brachte’s nich’ übers Herz, das zu tun, was die Männer aus der Stadt sagten. Sie wussten, woher Bighead kam, und sie wollten ihn töten. Aber ich sagte ihnen, dass ich es mach’.«
Unverständnis erblühte in Charitys Gesicht wie eine Nachtblume. »Du hast ihnen gesagt, dass du was machst?«
»Ich hab’ gesagt, dass ich es töten werd’. Dass ich Sissys Baby töten werd’. Bighead. Aber stattdessen hab’ ich Bighead mit Geraldines tot geborenem Baby ausgetauscht. Und dann hab’ ich ... dann hab’ ich dem toten Baby mit ’ner Bratpfanne den Schädel eingeschlagen und die Männer haben’s alle gesehen. Und sie glaubten mir ...«
»Du hast Babys vertauscht«, sagte Charity. »Du hast ein lebendes Baby gegen ein totes ausgetauscht ...«
»Ja, ganz genau!«, schrie Annie, die schließlich von der vollen Wucht ihrer Schuld überrollt wurde. »Ich hab’ es so gedreht, dass sie dachten, es is’ Bighead, dem ich den Schädel einschlag’, aber in Wirklichkeit war’s ’n Baby, das schon tot war!«
»Beruhige dich, bitte«, versuchte Charity sie zu trösten. Doch ...
»Annie«, sagte Charity. »Ich muss wissen, was mit dem lebenden Baby geschah. Ich muss wissen, was mit dem echten Bighead geschah ...«
(IX)
Sie musste sich beeilen. Bevor die Männer zurückkamen, musste sie das lebende Kind, das sich aus dem Leib ihrer Schwester gefressen hatte, verstecken. Es war doch nicht die Schuld des Kindes, oder? Wie denn auch? Wie konnte irgendein neugeborenes Kind, unter welchen Umständen es auch immer zur Welt gekommen war, für seine Taten verantwortlich gemacht werden?
Es is’ nich’ die Schuld des Babys ...
Sie wollte das lebende Kind im Wald verstecken und dann später wieder abholen. Aber da kam dieser alte klapprige Laster die Straße entlang. Er hielt an. Und der Fahrer hatte sie gesehen. Der Fahrer hatte gesehen, was sie getan hatte: ein Kind im Wald ausgesetzt ...
Ein heruntergekommener alter Kerl, ’ne Missgeburt. Inzucht. Hatte nur einen kompletten Arm, der andere war nur ’n kleiner Fetzen Fleisch mit ’n paar Fingern dran.
»Das muss ’ne göttliche Fügung sein«, sagte der Mann. »Ich lass die Welt hinner mir zurück, ohne je das Einzige gekricht zu ham, was ich mir wirklich gewünscht hab’, und hier bis’ du und schmeißt genau das wech.«
»Ich ... ich hab’ es nicht weggeschmissen!«, versuchte die junge Annie zu erklären. »Ich wollte’s später zurückholen!«
»Um was zu tun, Süße?«
»Na ja, ich ... ich ...« Annie blinzelte den missgebildeten Mann an. »Ich weiß nich’ genau, aber ich schwör’ bei Gott, dass ich’s nich’ zum Sterben liegenlassen wollte!«
»Gib mir das Baby, Süße«, sagte der Mann. »Ich werd’s aufziehn, wie Gott es vorgesehn hat. In mei’m Leben is’ bis jetz’ noch nix richtig gelaufen. Aber ich kann dir schwör’n, dass ich das Baby aufziehn werd’ ...«
Annie stand steif wie ein Stock und starrte dem Mann in die Augen. Was sollte sie mit dem Baby machen? Im Ernst, wie konnte sie hoffen, so ein furchterregendes Kind aufzuziehen, ohne dass einer der Stadtbewohner etwas merkte?
Vielleicht war’s Gott. Vielleicht war das Gottes Weise, ’n Wunder zu wirken.
»Passen Sie gut auf das Kind auf, bitte«, sagte Annie. »Es is’ hässlich, aber dafür kann’s nix. Also ... bitte. Passen Sie gut drauf auf und ziehen Sie’s gut auf.«
Der Mann im Laster weinte über das Geschenk. »Das werd’ ich! Das werd’ ich! Ich versprech’s!«
Und Annie, selbst nicht einmal 30 Jahre alt, gab das monströse Kind dem Fremden.
Und sah zu, wie er davonfuhr.
(X)
»Ich hab’ es einem Mann gegeben ...«
»Einem Mann! Was für einem Mann?«
»Irgendeinem alten durch Inzucht verkrüppelten Kerl, er sagte, er wünschte sich nichts mehr, als’n Kind aufzuziehen. Ich konnte nichts anderes tun.«
Charity schluckte hörbar. »Du hast ein totes Baby gegen Bighead ausgetauscht und den echten Bighead irgendeinem Mann gegeben, der die Straße entlanggefahren kam?«
Annies Knöchel wurden weiß, als sie das Lenkrad fester umklammerte. »Als die Männer zurückkamen, um nachzusehen, sahen sie Geraldines tot geborenes Baby auf dem Küchentisch, mit eingeschlagenem Schädel. Sie dachten, es wär’ Bighead. Ich sagte ihnen, ich hätte dem Kind was in die Brühe getan, um’s zu betäuben, und ihm dann ’n Schädel eingeschlagen, und sie glaubten, es wär’ Bighead. Und dann hab’ ich’s begraben. Aber den echten Bighead hatte schon dieser alte Kerl mitgenommen. Und da hörte ich auf, drüber nachzudenken – und fing an, mich selbst dafür zu bestrafen. Mich zu verbrennen. Hab’ mich dafür gehasst, dass ich vielleicht das Falsche getan hab’.« Mit feuchten Wangen blickte Annie ihre Nichte an. »Ich wusste nich’, was ich sonst tun sollte.«
(XI)
Und jetzt?
Da war noch mehr, nicht wahr?
Großer Allmächtiger Gott, vergib mir, was ich getan hab’!, dachte Annie bei sich selbst.
Es gab noch mehr zu erzählen ...
Über die Abtei.
(XII)
»Deshalb bin ich nich’ so heiß drauf, zur Abtei zu fahren, um den Priester und deine Freundin abzuholen«, fuhr Annie fort.
»Das verstehe ich nicht«, sagte Charity.
»Denn da is’ Bighead jetz’ ganz bestimmt hingegangen.«
»Zur Abtei? Warum sollte er unbedingt zur Abtei gehen?«
Sie konnte nicht alles erzählen, oder? Nein! Aber sie konnte zumindest etwas erzählen.
»Es war nich’ so, wie Pater Alexander erzählt hat«, erklärte sie. »Die Abtei wurde nich’ geschlossen, weil die Nonnen nach Afrika geschickt wurden. Sie wurde geschlossen, weil die Nonnen starben.«
»Starben? Wie?«
»Sie wurden ermordet. Von Bighead. Es war vor über 20 Jahren, nur ’n paar Jahre, nachdem die Kirche die Abtei wiedereröffnet hatte, um sich um sterbende Priester zu kümmern. Davor war sie ziemlich lange geschlossen, seit ’n Fünfzigern. Es war, weiß nich’, Anfang der Siebziger, als die Nonnen kamen, um daraus ’n Hospiz zu machen. Aber ’n paar Jahre danach kam Bighead zurück. Konnte nich’ mehr als zehn Jahre alt gewesen sein, als er’s tat. Und er brachte die ganzen armen Nonnen und die sterbenden Priester um. Der Junge muss von da, wo der alte Kerl ihn aufgezogen hat, abgehauen und zur Abtei zurückgekehrt sein.«
»Aber ich verstehe nicht, Tante Annie ...« Charitys Gesicht zeigte Verwirrung. »Zur Abtei zurückgekehrt? Was meinst du damit? Wieso zurückgekehrt?«
(XIII)
Charity starrte durch die Windschutzscheibe; das Wetterleuchten pulsierte, es war so weit entfernt, dass es kaum real erschien. Doch auch Charitys Leben erschien ihr kaum noch real. Ihre Mutter hatte nicht Selbstmord begangen; sie war gestorben, als sie dieses Ding auf die Welt brachte, ein Jahr nach Charitys Geburt. Doch was war in dem Jahr geschehen? Irgendetwas Furchtbares. Irgendetwas, das mit der Abtei zu tun hatte.
Was war es?, fragte sie sich nervös und leicht benommen von all dem, was sie gehört hatte. Was ist passiert?
»Deine Mama, Liebes ...« Annie schluckte und unterdrückte einen Seufzer. »Du warst damals vielleicht drei Monate alt. Deine Mama und ich, wir machten oft lange Spaziergänge durch ’n Wald, und eines Abends stellten wir fest, dass wir an der Abtei angekommen waren. Wir sind natürlich nich’ reingegangen, damals war das Gebäude versiegelt, schon seit Jahren. Erst zehn Jahre später kamen die Nonnen und eröffneten dieses Hospiz für Priester, die an Krebs und so starben. Aber ...«
Charity packte den Arm ihrer Tante. »Was ist passiert?«
Annie starrte mit weit aufgerissenen Augen auf die Straße. »Da war ein Mann ...« Ihre Stimme bebte. »Ein Mann kam aus ’m Wald hinter der Abtei ...«
(XIV)
Es geschah so schnell. In der einen Sekunde spazierten sie und Sissy friedlich am See entlang und in der nächsten Sekunde ... schrie Sissy.
Es war Schicksal, dass der Mann sich für Sissy entschieden hatte und nicht für Annie. Zuerst konnte Annie nichts anderes tun, als sich wie festgenagelt an einen Baum zu drücken und voller Entsetzen zuzuschauen. Der Schatten ragte auf, umschlang ihre Schwester wie ein Umhang und riss ihr die Kleider in einer einzigen Bewegung vom Leib.
Der Körper der riesigen Gestalt warf Sissy auf den Boden und vergewaltigte sie direkt dort am schlammigen Ufer des Sees. Jeder Stoß des Vergewaltigers trieb einen entsetzlichen Schrei aus Sissys Kehle, ein Geräusch wie von einer Katze, die in Flammen stand. Im schwachen Licht der Winterdämmerung konnte Annie nur die Arme und Beine ihrer Schwester unter dem pumpenden Körper des Mannes herausragen sehen. Doch bald erstarben Sissys Schreie; sie verlor das Bewusstsein. Aber die ekelerregenden Geräusche der Vergewaltigung dauerten an, während die Hüften des Mannes weiter pumpten, rein und raus, rein und raus, eine scheinbare Ewigkeit.
Ein tiefes Grunzen erklang. Der Vergewaltiger zog seinen erschlaffenden Penis heraus, der so groß war wie eine Tube Plätzchenteig. Sissy lag bewegungslos unter ihm – Annie dachte, sie sei tot, doch dann bewegte sich ihr Kopf und ihre Augen flatterten. Und in dem Moment wich auch Annies Lähmung.
Die Gestalt stand auf, drehte sich um ...
Annie schrie und flüchtete in den Wald.
(XV)
»Deine Mama wurde vergewaltigt, Liebes«, fuhr Annie fort. »Dort im Schlamm am See. Wurde schlimmer vergewaltigt, als man’s je für möglich halten würde. Ich hätte was tun sollen, hätte versuchen sollen, ihr zu helfen – aber ich hatte einfach zu viel Angst. Also rannte ich, rannte bis in die Stadt und stürmte ins alte Sallee Place. Gott sei Dank waren viele von den Männern da und spielten Karten, Wayne und Brian, Johnnie Pelan, die Ketchum-Jungs und dieser nette Bärtige, Davy Barnett hieß er, glaub’ ich. Ich erzählte ihnen, was passiert war, und sie stürmten sofort los, schnappten sich ihre Gewehre und Schrotflinten und rannten zur Abtei, so schnell sie konnten ...«
(XVI)
Annie folgte ihnen, konnte kaum Schritt halten, ihre Lungen schmerzten. Es war fast ganz dunkel, als sie zum See kamen, und, ja, er war immer noch da, hatte sich wieder auf Sissy gestürzt und rammelte sie da im Dreck fast zu Tode. Die Männer riefen durcheinander: »Verdammte Scheiße!« »Was zur Hölle?« »Pumpt ihn voll Blei, Jungs! So was macht kein gottverdammtes Arschloch mit einer unsrer Frau’n!« Die Gestalt erhob sich halb, als sie zu schießen begannen, der Lärm war ohrenbetäubend in der Dunkelheit. Eine Salve nach der anderen, bis die Kugeln ihn durchlöchert und getötet hatten. Aber Sissy ...
(XVII)
»Sie töteten ihn, das taten sie, aber deine Mama ...« Annie konnte das Schluchzen nicht mehr unterdrücken und ließ die Tränen fließen. »Deine arme Mama war von der Vergewaltigung schwer verletzt worden. Wirklich ganz schlimm verletzt, da unten. Wir brachten sie nach Hause und Doc Nutman kam rüber und sagte, dass es ’n Wunder wär’, dass sie überhaupt noch lebte. Aber sie erholte sich nie mehr richtig. Partielles Koma, sagte der Doc. Die nächsten neun Monate lag Sissy nur im Bett und sagte kein Wort. Starrte nur die Wand an und wurde jeden Tag dicker.«
So. Endlich. Nach all den Jahren hatte Annie endlich die Wahrheit über diese entsetzliche Dezembernacht herausgelassen, und über die noch viel entsetzlichere Szene, die sich neun Monate später abgespielt hatte. Es war nicht fair, dass Charity auf diese Weise erfahren musste, was mit ihrer Mama passiert war, aber es lief nun mal nicht immer so, wie man es gern hätte.
Annie lenkte den Pick-up von der Hauptstraße auf den Zufahrtsweg zur Abtei. Sie hatte gedacht, dass sie sich besser fühlen würde, wenn sie die Wahrheit erzählt hatte, aber es war nicht so.
Es war nicht so, wusste sie, weil da immer noch ein kleines bisschen Wahrheit war, das sie nicht erzählt hatte. Die feineren Details würde sie nie erzählen können.
Doch bevor sie noch weiter darüber nachdenken konnte, tauchte die eigentümliche Ziegelsteinfront der Abtei im Scheinwerferlicht auf.