DREIZEHN

(I)

Die Stimmung am Morgen war seltsam. Nachwirkungen von gestern Abend, vermutete Charity. Ein Mörder. Auf dem Weg zu uns. Nicht, dass sie selbst sonderlich beunruhigt gewesen wäre – die Morde, von denen der Polizist berichtet hatte, waren weit entfernt geschehen, und sie war sicher, dass man den Mörder bald schnappen würde. Die Polizei war rund um die Uhr an der Sache dran. Sie werden ihn kriegen ...

Doch Tante Annie sah furchtbar aus. Sie war blass und machte einen erschöpften Eindruck, als sie kraftlos das Frühstück servierte.

»Lassen Sie uns das machen, Annie«, bot Jerrica an und nahm ihr den Hirsesirup und die Platte mit den Maispfannkuchen ab. »Sie sehen so müde aus.«

»Das bin ich auch«, gab Annie zu und setzte sich an den Tisch. »Ich hab’ fast gar nicht geschlafen. Hatte furchtbare Träume.«

Das erinnerte Charity an ihre eigenen Träume: den wiederkehrenden Traum von ihrer persönlichen Lustunfähigkeit. Es war ein Kryptogramm oder vielleicht nur eine grausame Rekapitulation ihres Lebens. In dem Moment, wo ich mit einem Mann ins Bett gehe, erstirbt seine Erregung komplett. Warum?

»Ich hatte grässliche Träume«, verkündete Pater Alexander, als er das Esszimmer betrat. »Schon die zweite Nacht in Folge. Ich fühle mich, als hätte ich überhaupt nicht geschlafen.«

»Geht mir genauso, Pater«, sagte Annie.

»Vielleicht verträgt mein Gehirn die ganze saubere Luft nicht«, scherzte er. Er goss sich gekühlten Orangensaft ein und zündete sich eine Zigarette an. »Ich bin an den Smog von Richmond gewöhnt.«

Jerricas Augen schienen bei der plötzlichen Ankunft des Priesters aufzuleuchten, wie Charity bemerkte. Doch sie bemerkte noch etwas anderes. Jerrica, dachte sie verwirrt. Ihre Freundin schien nicht sie selbst zu sein. Sie machte einen aufgedrehten, überdrehten Eindruck.

»Und wo wir gerade von Richmond reden«, fuhr der Priester fort. »Ich muss heute zurückfahren.«

»Was?«, rief Jerrica aus. »Ich dachte, Sie bleiben hier, um die Abtei zu eröffnen.«

»Tue ich auch«, sagte er. »Aber die Dokumente, die ich gestern im Verwaltungsbüro gefunden habe, sind ein völliges Durcheinander, ich blicke einfach nicht durch. Ich muss das Zeug meinem Boss zeigen, mal sehen, ob er was damit anfangen kann. Ich werde in ein paar Stunden zurück sein.«

Charity entging nicht, wie Jerrica plötzlich auf ihrem Stuhl herumrutschte ...

»Goop, mein Gehilfe, müsste am Nachmittag zurück sein, Pater«, sagte Annie. »Er kann Sie fahren, wenn Sie möchten.«

»Nein, das ist nicht nötig.« Alexander hielt mit dem Saftglas in der Hand inne. »Wo ist er überhaupt?«

»Ja, Tante Annie«, fragte auch Charity. »Jetzt, wo ich darüber nachdenke – ich habe ihn seit gestern Morgen nicht mehr gesehen.«

»Das liegt daran, dass ich ihn gestern Abend nach Roanoke geschickt hab’, um Kunststoffleisten zu kaufen«, verriet Annie.

Das ergab für Charity nicht viel Sinn. »Du hast ihn über Nacht nach Roanoke geschickt?«

»Nun, ich hätt’ es nich’ tun müssen und eigentlich brauch’ ich die Leisten auch nich’«, erklärte ihre Tante. »Ich hab’ ihn absichtlich weggeschickt.«

»Warum?«, fragte Jerrica.

»Nun, Liebes, ich wollte sichergehen, dass er über Nacht da bleibt. Goop Gooder is’ ein wundervoller, hilfsbereiter junger Mann, aber er kann auch ’n richtiger Quälgeist sein – jedenfalls, wenn’s um Frauen geht. Mir is’ aufgefallen, dass er sich ziemlich in Sie verkuckt hat, Jerrica. Also dachte ich, ich schick’ ihn für ’n Tag aus der Stadt, damit Sie ’n bisschen Ruhe vor ihm haben.«

Jerrica errötete. »Oh, Annie, das hätten Sie nicht tun müssen. Es ist keine große Sache.«

»Doch, is’ es, wenn Sie mich fragen. Schließlich sind Sie ’n Gast und ’ne Freundin meiner Nichte. Ich kann nich’ zulassen, dass mein Gehilfe hinter Ihnen her hechelt.«

Alexander hob eine Augenbraue, doch Charity musste lächeln. »Wann brechen Sie nach Richmond auf, Pater?«

»Jetzt gleich«, sagte er und stand auf. »Ich werde am späten Nachmittag oder frühen Abend zurück sein. Bis später.«

»Bye, Pater«, sagten Annie und Charity fast gleichzeitig. Doch Jerrica sprang auf und folgte ihm in den Flur. Charity versuchte, nicht den Eindruck zu erwecken, als würde sie lauschen, aber es war nicht zu überhören. »Pater!«, sagte Jerrica nebenan. »Nehmen Sie mich mit!«

Eine Pause. »Sicher«, stimmte der Priester zu.

Dann waren sie zur Haustür hinaus.

»Armes Kind«, sagte Annie. »Sie interessiert sich etwas zu sehr für den Priester.«

»Scheint so«, sagte Charity.

»Aber ich muss zugeben, ich find’ ihn selber mächtig attraktiv, und wenn man seinen Glauben bedenkt, sogar noch mehr.«

»Priester haben immer diesen Effekt. Ich schätze, es liegt daran, dass sie verbotene Früchte sind, sozusagen.«

»Du hast recht, Liebes. Nichts is’ attraktiver als ’n Mann, den man nich’ haben kann.«

Charity saß still und dachte darüber nach. Warum kann ich keinen Mann haben?, fragte sie sich. Warum geht immer alles in die Hose und ich weiß nicht einmal, warum? Sie verspürte den Drang, weiter über das Thema zu reden, vielleicht sogar ihre Tante ins Vertrauen zu ziehen. Aber welchen Sinn sollte das haben? Damit würde sie sich nur selbst lächerlich machen.

»Aber ich will dich was fragen, Charity. Bild’ ich mir das nur ein oder sieht Jerrica irgendwie komisch aus?«

Sie hat es auch bemerkt, dachte Charity. Aber was sollte sie dazu sagen? »Ich glaube, du hast recht. Sie scheint ... angespannt zu sein. Aber das liegt wahrscheinlich nur daran, dass hier alles so anders für sie ist«, versuchte sie zu erklären. »Sie ist ein Stadtmensch. Sie ist das Landleben nicht gewohnt.«

Annie nickte. »Daran hab’ ich nich’ gedacht.«

Charity wechselte das Thema. »Möchtest du ein paar Blumen pflücken und zum Friedhof gehen?«

Ihre Tante neigte den Kopf und legte eine Hand an die Stirn. »Normalerweise lass’ ich keinen Tag aus, aber ehrlich gesagt, Charity, fühl’ ich mich heute so erledigt, dass ich mich lieber noch ’n bisschen hinlege, wenn’s dir nichts ausmacht.«

»Das solltest du tun«, stimmte ihr Charity zu. »Bei der ganzen Aufregung gestern Abend. Schlaf noch ein bisschen. Ich komme schon klar.«

»Bist du sicher?«

»Natürlich, Tante Annie. Ruh dich ein bisschen aus, wir unterhalten uns später.«

»Du bist so lieb.« Annie stand auf, um in ihr Zimmer zu gehen. »Aber ich versprech’ dir, heute Abend koch’ ich uns was, das du so schnell nich’ vergessen wirst.«

»Okay, Tante Annie. Schlaf gut.«

Charity beobachtete, wie ihre Tante davonschlurfte. Dann war sie allein und fragte sich, was sie mit dem Tag anfangen sollte.

Doch dann ...

Ihre Augen weiteten sich.

Ich weiß, dachte sie.

(II)

»Raus damit«, verlangte Alexander.

»Was?«, fragte Jerrica und befestigte ihren Sicherheitsgurt, als der Mercedes auf die Route 23 einbog.

»Hören Sie auf mit diesem Was-Scheiß. Sie sind high. Sie sind völlig neben der Spur, Jerrica. Sie benehmen sich, als hockten Sie auf der Stromschiene der Scheißmetro.« Der Priester machte ein finsteres Gesicht. »Was ist es? Koks? Heroin? Speed? Sie haben irgendwas genommen.«

Ihr Kopf hätte kaum tiefer hängen können. »Koks.«

»Scheiße! Ich wusste es!« Alexander schrie fast. »Ich will Ihnen gar nicht erst einen Vortrag halten, Jerrica – Sie haben das alles hundertmal gehört. Ich sage nur eins: Das Leben ist ein verdammtes Geschenk Gottes – und jetzt sehen Sie sich an, was Sie damit machen.«

Sie schluchzte stumm; sie wusste, dass er recht hatte. »Ich ...«, fing sie an. Wie sollte sie es erklären? Wie konnte sie ihm von ihrem Fluch erzählen und dass es immer auf das eine oder das andere hinauslief? Er würde sie in der Luft zerreißen. Also sagte sie nur: »Ich habe Probleme.«

»Ach hören Sie doch auf!«, schnauzte er sie an. »Jetzt fehlen nur noch die Scheißgeigen im Hintergrund! Sie haben Probleme. Scheiße, Jerrica, jeder hat Probleme, aber Probleme sind doch keine Entschuldigung für Drogenabhängigkeit!«

Das Wort – Drogenabhängigkeit – traf sie wie ein Hammerschlag. Ich bin drogensüchtig, erkannte sie, doch tief im Innersten hatte sie es immer gewusst, auch wenn sie das Kokain seit Jahren nicht angerührt hatte. Die Anschuldigungen des Priesters wühlten sie auf. »Ich habe vor Jahren damit aufgehört«, sagte sie mit rauer Kehle. »Ich wollte nie mehr damit anfangen; bis ich Sie getroffen habe.«

»Oh, also ist es meine Schuld, dass Sie eine Kokserin sind, hm?«

Sie biss die Zähne zusammen und ballte die Fäuste. »Es ist, weil ich mich in Sie verliebt habe.«

Jetzt ging er richtig ab. »Sind Sie völlig durchgedreht? Ich bin ein gottverdammter PRIESTER, Jerrica! Ich kann weder Sie noch sonst jemanden lieben! Die einzige Person, die ich liebe, ist JESUS CHRISTUS! Glauben Sie, bloß weil eine süße Blondine daherkommt, werfe ich meinen Priesterkragen aus dem Fenster, vergesse meine Gelübde zu Gott und scheiß’ auf alles?«

»Ich sage Ihnen nur, was ich fühle!«, kreischte sie.

»Ja? Was Sie da fühlen, ist Scheiße. Sie bleiben jetzt ruhig da sitzen und sagen den Rest der Fahrt kein Wort mehr!«

»Oh Gott, Sie sind so ein Arschloch!«

Alexander zündete sich eine Lucky an und lachte. »Stimmt, Baby. Ich bin ein Arschloch. Arschloch ist mein zweiter Vorname. Aber wollen Sie wissen, was Ihr zweiter Vorname ist?« Einen Moment lang sah er so aus, als wollte er sie schlagen. »Ihr zweiter Vorname ist Junkie.« Und dann trat er auf die Bremse und brachte den Wagen quietschend am Straßenrand zum Stehen. »Ich wette, Sie haben das Zeug auch noch bei sich. Geben Sie es her. Wo ist es?«

Ihre Kehle fühlte sich so zugeschnürt an, dass sie kaum reden konnte. »Ich-ich-ich ...«

»Ich-ich-ich-was?«, schnauzte er.

»Ich habe es nicht!«

»Blödsinn!«

»Wirklich nicht! Ich schwöre es! Ich habe letzte Nacht alles verbraucht! Ich habe Ihnen nur gesagt, was ich fühle!«

Er warf ihr einen Blick zu, der so voller Verachtung war, dass sie das Gefühl hatte, dort auf dem Beifahrersitz vertrocknen zu müssen wie eine kleine Pfütze in der Sonne.

»Halten Sie einfach für den Rest der Fahrt die Klappe«, wiederholte er und fuhr wieder auf die Straße. »Wenn nicht, befördere ich Sie mit einem Arschtritt aus dem Wagen und Sie können den ganzen Weg zurück nach Luntville oder D.C. oder Kokstown trampen oder wohin auch immer Sie Ihr kaputtes, verpfuschtes Leben schleppen wollen. Aber halten Sie die Klappe! Sagen Sie kein Wort!« Er lehnte sich hinter dem Lenkrad zurück.

»Denn ich rede nicht mit Junkies«, sagte er.

(III)

Es war so schwül! Wie hält sie es nur aus, das jeden Tag zu machen?, fragte Charity sich. Ich bin 30 Jahre jünger als sie und schon mir ist es zu viel.

Und heiß war es wirklich, sogar auf den schattigen Waldwegen. Die Hitze war fast greifbar. Charity schlug wütend nach den Mücken, die um ihr Gesicht und ihre Arme schwirrten. So leicht und locker ihr dünnes Sommerkleid auch war, trotzdem war sie in kürzester Zeit nass geschwitzt; ihre gesamte Haut schien zu triefen. Ihr tropfte sogar Schweiß von den Augenbrauen auf die Wangen.

Doch sie ging weiter, ihre Neugier verführte sie genauso effektiv wie die Pseudo-Liebhaber, von denen sie letzte Nacht geträumt hatte. Gestrüpp knackte unter ihren Sandalen. Die Flecken des Sonnenlichts, die wie leuchtende Pinseltupfer durch die Bäume fielen, zeigten ihr den Weg.

Irgendwas stimmt nicht mit Jerrica, überlegte sie, um ihre Gedanken von der drückenden Hitze abzulenken. Man konnte es nicht leugnen. Beim Frühstück hatte Jerrica keinen Bissen gegessen; sie hatte nur dagesessen, fast zitternd. Sie war sicherlich nicht wegen Goop aufgebracht; Charity wusste, dass sie sich davor fürchtete, Goop zu treffen, nach ihrer kurzen Affäre mit ihm. Was war es dann? Der Priester? Ich hoffe nicht, dachte Charity. Okay, Jerrica hatte auf der Fahrt hierher offen ihre wilden sexuellen Gelüste eingestanden, was sie sehr überrascht hatte, aber selbst eine unverbesserliche Nymphomanin sollte wissen, dass es wenig Sinn hatte, einen Priester zu begehren.

Dann schlugen ihre Gedanken einen Purzelbaum. Der Polizist, fiel ihr ein. Die Morde ... Doch es war dumm, sich darum Sorgen zu machen. Wie der Polizist schon gesagt hatte, es war nur eine Vorsichtsmaßnahme. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ein Mörder ausgerechnet in Luntville sein Unwesen treiben sollte; das war einfach absurd. Ich bin nur verwirrt, dachte sie. Die Hitze ...

Nach scheinbaren Meilen öffnete sich der feuchte Waldweg vor ihr. Der Anblick des offenen, sonnenbeschienenen Friedhofs war atemberaubend, trotz der Hitze. Wildgräser schaukelten in der warmen Brise. Die Dolden wilder Möhren wippten. Charity ging direkt zum Grab ihrer Mutter. Sie blickte ernst und mit gefalteten Händen auf das Grab. Das Einzige, was auf dem einfachen, abgenutzten Stein stand, war: SISSY. Meine Mutter. Annies Schwester. Sie hatte Selbstmord begangen, als Charitys Vater bei der Bergwerksexplosion ums Leben kam; Annie hatte ihr alles erzählt. Trotzdem war es ein merkwürdiges Gefühl, so vor dem Grab ihrer eigenen Mutter zu stehen, einer Frau, die sie nie gekannt hatte.

Ruhe in Frieden, Mutter, dachte sie.

Dann ging sie weiter. Sie war nicht nur gekommen, um das Grab ihrer Mutter zu sehen. Sie wurde die Erinnerung an den gestrigen Tag nicht los. Wie bizarr das alles gewesen war. Nachdem Tante Annie die Blumen auf Sissys Grab gelegt hatte, hatte sie Charity gebeten, zurück zum Waldrand zu gehen und auf sie zu warten. Und Charity hatte gesehen, wohin ihre Tante gegangen war.

Zu einem anderen Grab in der hinteren Ecke des Friedhofs, mit einem zweiten Blumenstrauß.

Wer?, dachte sie. Wer?

Die hinterste Ecke, ja, fast schon jenseits des eigentlichen Friedhofs. Charity folgte ihrer Erinnerung und fand schnell das Grab. Sie wusste, dass es die richtige Stelle war, da sie die Blumen sah, die ihre Tante gestern dort hingelegt hatte, einen zusammengebundenen Strauß aus ihrem eigenen Garten. Dort lagen sie.

Sie beschattete ihre Augen vor der Sonne und starrte hinab.

Die Blumen waren bereits vertrocknet, so heiß war es. Aber die Stelle sah so nüchtern aus. So klein. Und ...

Das ist komisch ...

Ein völlig blanker Grabstein.

Er war alt, erkannte sie, Regen und Wetter hatten über Jahre ihre Spuren hinterlassen. Doch auf dem abgerundeten Stein befand sich keine Inschrift.

Es sei denn ...

Charity kniete sich hin. Da war etwas, oder? Direkt an der Grasnarbe.

Sie drückte das Gras am Fuß des Grabsteins herunter. Sie kniff die Augen vor Anstrengung zusammen und drückte noch fester. Ihre Finger fühlten ... etwas.

Doch es war zu tief!

Sie stand wieder auf und packte mit beiden Händen den Grabstein, sie wollte es unbedingt herausfinden. Niemand würde es sehen, oder? Es war ein Familienfriedhof und wer würde sich hier schon an so einem Tag freiwillig rösten lassen? Nur ich, dachte sie und hätte fast gelacht.

Sie drückte den Stein vor und zurück. Zuerst bewegte er sich gar nicht, doch schließlich –

Ja!

– gab er ein bisschen nach. Dann noch ein bisschen. Dann noch mehr.

Bald war der Stein so locker, dass er wackelte.

Okay, dachte Charity, jetzt völlig schweißüberströmt, aber mit ungebrochener Entschlossenheit.

Sie zog aufwärts, und ...

Ughhhh!

Der Stein löste sich und fiel auf den Boden.

(IV)

Ich hätte nicht mitkommen sollen, dachte sie. Sie ließ den Kopf jetzt schon so lange hängen, dass ihr der Nacken schmerzte. Ich hätte im Haus bei Charity bleiben sollen, an meinem Artikel arbeiten sollen, was auch immer ...

Alexander parkte den Mercedes hinter einem kleinen, tristen Komplex aus Steingebäuden, vermutlich dem Diözesanzentrum. Jerrica wusste nicht viel über Richmond, war vorher kaum in dieser Stadt gewesen. Sie waren an Gettos, Reihen verwahrloster Mietshäuser und verlassenen Straßen voller Müll vorbeigekommen. War die ganze Stadt in einem solchen Zustand?

Wie befohlen, hatte sie seit seinem Wutausbruch kein Wort gesagt. Was hätte sie auch sagen sollen? Jerrica hatte sich in ihrem Leben schon oft geschämt, aber nicht so wie heute, wie jetzt. Er hat recht, verurteilte sie sich selbst. Ich bin ein Junkie, ich bin eine Versagerin. Er muss sich vor mir ekeln.

»Okay«, sagte er schließlich, als er eingeparkt und den Motor abgestellt hatte. Dann fuhr er zögernd fort: »Hören Sie, Jerrica. Es tut mir leid, dass ich Sie so angeschrien habe.«

Sie blickte überrascht auf; das war das Letzte, was sie erwartet hatte. Es ... tut ihm leid?

»Ich habe ein paar ziemlich bescheuerte Sachen zu Ihnen gesagt, Sachen, die ich nicht so gemeint habe, und es tut mir leid. Hören Sie mir zu?«

Sie nickte. Getrocknete Tränen verkrusteten ihre Wangen.

»Ich bin Verhaltenspsychologe, das ist meine Ausbildung. Ich habe Sie so zusammengefaltet, weil Sie wirklich in Schwierigkeiten stecken. Ich habe diese Dinge zu Ihnen gesagt, weil Sie mir wichtig sind und weil Sie mir etwas bedeuten. Verstehen Sie?«

Sie nickte wieder, jetzt verwirrt.

»Wenn Sie mir nichts bedeuten würden, hätte ich kein Wort gesagt. Ihr Leben ist Ihre Sache. Ich will nur nicht mit ansehen, wie Sie es ruinieren.«

»Ich weiß«, piepste sie, die Hände in den Schoß gelegt.

»Sie müssen wieder in Ordnung kommen. Wir werden darüber reden, okay? Ich werde Ihnen helfen. Okay? Wollen Sie, dass ich Ihnen helfe?«

»Ja!«, platzte sie heraus und plötzlich weinte sie wieder, umarmte ihn, schluchzte. »Es tut mir leid! Ich weiß nicht, was mit mir los ist, ich weiß nicht, warum ich das alles tue! Ich schäme mich so!« Ihre Tränen strömten und befeuchteten ihr Top.

Er schwieg, hielt sie fest, gab ihr ein paar Augenblicke, um sich zu beruhigen. »Dies ist eine brutale Welt, ich weiß, und oft scheint sie nicht fair zu sein. Doch im Endeffekt – und ich glaube, das wissen Sie auch – hängt es an jedem Einzelnen von uns, die Dinge ins Lot zu bringen. Ich werde jetzt ungefähr eine Stunde bei meinem Boss sein. Ich möchte, dass Sie die Zeit nutzen, um über alles nachzudenken, und wenn ich hier fertig bin, unterhalten wir uns. Okay?«

Sie nickte noch einmal und nahm ihr Gesicht von seiner Schulter. »Ich will es. Ich will wieder in Ordnung kommen.«

»Und das werden Sie«, versicherte er ihr.

Sie stiegen aus dem Wagen. Die Hitze drückte auf sie herab. Alexander fuhr fort: »Ihnen wird aufgefallen sein, dass das Diözesanzentrum nicht gerade im feinsten Teil der Stadt liegt. Verlassen Sie lieber nicht das Grundstück, okay?« Er deutete zu einer Ziegelsteinmauer mit einem Eisentor darin. »Da ist ein Hof. Warten Sie dort auf mich.«

»Okay«, sagte sie.

Er lächelte in der Sonne. »Alles wird gut.« Dann ging er mit seiner Aktentasche in der Hand auf das Gebäude zu und betrat es durch eine Seitentür.

Jerrica sah ihm hinterher und wischte sich die Augen. Nichts konnte angemessen zum Ausdruck bringen, wie sie sich fühlte, aber es war so, wie sie sich immer fühlte, oder?

Wenn es nicht das eine war, dann war es das andere.

Warum jetzt? Die alten Dämonen waren zurück, aber warum? Sie kämpfte in der Sonnenglut darum, einen Sündenbock zu finden, aber es gab keinen.

Nur mich selbst.

Der ummauerte Hof schien gut gepflegt zu sein: gestutzte Hecken, Steinwege, große Bäume, die Schatten spendeten. Ja, der Hof sah aus wie ein Ort, an dem man gut sitzen und nachdenken konnte, wie es der Priester empfohlen hatte, aber ...

Sie wusste es.

Ich. Werde. Es. Nicht. Tun, rang sie mit sich selbst, und je mehr sie kämpfte, desto unentschlossener wurde sie. Sex, Drogen – es spielte keine Rolle. Es war immer das Gleiche. So oder so war sie verloren, sie war es immer gewesen.

Und sie würde es immer sein.

Ihre ewige Ausrede: Sie konnte nicht anders. Sie wandte sich von der Zuflucht des Hofes ab und eilte davon.

Zum üblen Teil der Stadt.

(V)

»Tom! Welche Überraschung!« Monsignore Halford grüßte ihn mit echter Freude. Seine Füße lagen auf dem edlen Teakholzschreibtisch und er blätterte im Catholic Review.

»Ich dachte mir schon, dass Sie schwer zu arbeiten haben, Bob«, sagte Alexander stirnrunzelnd. »Wahrer Glaube ruht nie.«

»Was bringt Sie hierher zurück? Wie läuft es mit Wroxeter?«

»Gequirlte Kacke.« Alexander knallte seine Aktentasche auf den Couchtisch und ließ sie aufschnappen. »Dünnschiss. Das ist es, was läuft.«

Halford schloss die Augen und rieb sich den Nasenrücken. »Meine Güte, Tom. Ich habe Sie gebeten, Ihre Fäkalsprache etwas einzuschränken, oder? Ich stelle Ihnen eine einfache Frage, und Sie werfen schon wieder mit Obszönitäten um sich.«

»Gorillakacke – das ist es, was in Wroxeter los ist, Bob. Scheiße, Kacke, Exkremente.«

»Tom!«

Alexander schwenkte den Ordner mit den Akten der Abtei. »Irgendjemand schmiert mir in großem Maßstab Scheiße in die Augen und ich werde das Gefühl nicht los, dass Sie es sind.«

Halford fuhr auf. »Sie gehen zu weit, Tom. Was gibt Ihnen das Recht ...«

»Es gibt keine behördlichen Aufzeichnungen darüber, dass Wroxeter Abbey jemals geschlossen wurde«, klärte Alexander ihn auf. »Diese Akten enthalten Patientendaten, Dienstpläne und Bestandslisten bis zum Juli ’76. Die Schließungsurkunde, die Sie mir gegeben haben, behauptet, dass die Abtei im April geschlossen wurde.«

»Ein Verwaltungsirrtum ...«

»Am Arsch!«, gab der Priester zurück. »Kommen Sie, Bob, das Büro der Äbtissin ist unberührt. Es ist sogar noch voll mit ihren persönlichen Sachen, genau wie die Schlafräume der Nonnen.« Alexander beobachtete den Monsignore sehr genau, achtete besonders auf Augen, Gesicht und Handbewegungen. »Auch die Nachttische im Patienten-Schlafsaal sind voll mit persönlichen Dingen. Und die Medizinabteilung ist noch voller Medikamente, die 20 Jahre alt sind. Die Diözese schließt eine Abtei, aber lässt verschreibungspflichtige Medikamente im Gebäude zurück? Wollen Sie mich verarschen, Bob? Es sieht so aus, als wären alle über Nacht verschwunden, und die Kirche hätte am nächsten Tag irgendwelche Lakaien rausgeschickt, um den Laden zuzumauern, bevor irgendjemand was mitbekommt. Und warum vermute ich so etwas? Gestern habe ich das gottverdammte Grundbuchamt von Russell County angerufen ...«

»Verdammt, Tom!«, rief Halford ziemlich aufgebracht. »Sie haben kein Recht, sich in Kirchenangelegenheiten einzumischen!«

»Kirchenangelegenheiten, nein. Kirchenscheiße, ja.« Alexander lächelte finster und zündete sich eine Lucky an. »Ich wusste, dass Ihnen das ein bisschen Feuer unterm Hintern machen würde. Und ich muss Ihnen wohl nicht sagen, dass das Grundbuchamt des Countys behauptet, dass die Kirche nie eine Schließungsurkunde zu den Akten gegeben hat.«

»Wir haben sie beim Staat hinterlegt!«

»Aber das ist illegal, Bob.«

»Nicht mit einer Sondervollmacht, Sie Schlaumeier.«

»Warum eine Sondervollmacht?«, hakte Alexander nach. Er erfuhr alles, was er wissen wollte, einfach, indem er den Monsignore beobachtete. »Warum wurde die Schließungsurkunde nicht einfach ganz normal eingereicht? Was soll das Ganze? Die einzigen Gründe, eine Sondervollmacht zu beantragen, sind die, dass man Grundsteuern für ein aktiv genutztes Gebäude umgehen will oder dass man eine Inspektion durch das County vermeiden will. Und ich muss Sie ja nicht daran erinnern, dass die katholische Kirche von allen Grundsteuern befreit ist.«

Halford war nicht erfreut. Er war wütend. »Ich mag es nicht, wenn man mich einen Lügner nennt, Tom.«

»Dann hören Sie auf zu lügen. Verdammt, Bob, ich bin ein ausgebildeter Psychologe. Ich wurde dazu ausgebildet, zu erkennen, wann jemand lügt. Schon mal von Augenlid-Fluktuation, Negativ-Impuls-Kinästhetik oder entgegengesetzter Auge-Hand-Reaktion gehört? Ich sehe das alles bei Ihnen, Bob. Ich wette mein Priestergehalt, dass Sie mir direkt ins Gesicht lügen.«

»Sie Dreckskerl«, murmelte Halford, dann gab er zu: »Okay, ich will offen mit Ihnen reden. Aber ich habe nicht gelogen. Sagen wir lieber, es war eine kleine Umgehung der Fakten.«

»Na, großartig. Auch wenn man ›Schwachsinn‹ anders nennt, ist es immer noch ...«

»Ich sollte Sie verdammt noch mal versetzen, Sie Scheißkerl!« Halford sprang auf und schlug mit der Faust auf den Tisch.

»Achten Sie auf Ihre Ausdrucksweise, Bob.«

»Das ist etwas, was Sie mir nicht zu sagen brauchen!«

»Entspannen Sie sich.« Alexander zuckte mit den Schultern und zog an seiner Zigarette. »Erzählen Sie mir einfach die Wahrheit, okay?«

Halford setzte sich, immer noch wütend. »Wir sorgten dafür, dass wir nicht beim County aktenkundig wurden, damit sie keinen Inspektor schickten. Wir wollten keinen County-Inspektor in der Abtei, weil das Fiskaljahr im April endet. Wir sagten, dass wir die Abtei im April statt im Juli geschlossen hatten, weil wir nicht die Hospizsteuern für das nächste Jahr zahlen wollten. Die Kirche ist nicht in allem steuerbefreit, Sie Obergenie.«

»Okay, das verstehe ich«, bekannte Alexander. »Aber da ist noch mehr, also rücken Sie’s schon raus. Ich gebe zu, dass ich nichts von den Hospizsteuern wusste, aber ich weiß, dass der Transport von Intensivpflegepatienten – wie zum Beispiel todkranken Priestern – von Rechts wegen beim Gesundheitsamt angemeldet werden muss. Auch da habe ich angerufen, Bob. Sie haben überhaupt nichts amtlich gemacht!«

Halfords Schultern sackten herab wie die eines Pokerspielers, dessen Bluff durchschaut worden war.

»Was ist der wahre Grund, Bob? Es gibt keine Aufzeichnungen darüber, dass die Patienten von Wroxeter Abbey verlegt wurden, als die Abtei geschlossen wurde. Die Kirche hat diese Sache mit der Sondervollmacht nicht gemacht, um die Hospizsteuern zu umgehen, sondern, um zu verhindern, dass ein County-Inspektor in die Abtei kam, denn sie hatte Angst, er würde irgendwas sehen. Ich will wissen, was es war, das er nicht sehen sollte.«

Halford knirschte mit den Zähnen und rang die Hände. »Es gab immer noch Spuren auf dem Gelände. Wir wollten nicht, dass ein County-Inspektor dorthin ging und einen Polizeibericht verfasste.«

Alexander starrte ihn an. »Einen Polizeibericht?«

»Einen Mordbericht. Großer Gott, Tom. Warum können Sie nicht einfach tun, was man Ihnen aufträgt? Ich habe Sie dahingeschickt, damit Sie das Gebäude für eine Wiedereröffnung instand setzen. 20 Jahre sind lang genug, dass niemand mehr Fragen stellt. Doch damals? Das ist nicht gerade die Art von Publicity, die sich die katholische Kirche hätte leisten können.«

Jetzt verstand Alexander gar nichts mehr. »Was konnte sich die Kirche nicht leisten?«

Halford warf entnervt die Hände in die Luft. »Die Nonnen wurden ermordet«, sagte er.