ACHTZEHN
(I)
Bighead saß unter ’nem Hickorybaum und war am Medertiern, er dachte über sein’ Platz im Unnerwersum nach, dacht’ er. Irnkwas war komisch. Bighead hatte jetz’ zwei Tage nix gegessen und er hatte auch kein’ Schuss mehr gehabt, seit er den Alten in seim Farmhaus, der seine Kids fickte, ins Kackloch gerammelt hatte. Nommalerweise fraß Bighead ja Hirn und Därme und was nich’ alles, so viel wie er konnte, und ließ keine Gelengheit für ’n Schuss aus – he, er wär’ drüber hergefallen wie Fliegen über Stinkkäse.
Aber jetz’ war er einfach nich’ intrissiert, no Sir.
Was war’s nur? Die Stimme? Die ’innerung an sein’ guten alten Grandpap? Sein fillersofisches Aufsteign in ’n ekserstenschalistischn Bereich? Oder ’ne Kommination von allem?
Bighead wusste ’s nich’! Er wusste sowieso ’n Scheißdreck! Er war’n hässlicher, Leute murksender, Hirn fressender, Pussy fetzender Idiot!
Aber ’s war egal, weil auch ’n hässlicher, Leute murksender, Hirn fressender, Pussy fetzender Idiot Momente ham konnte, wo er über seine Selbsvewirkelichigung nachdachte. So wie in Abraham Maslows Bedürfnishirrachie erkannte auch Bighead, dass ’s wichtigere Dinge im Leben gab wie nur zu mampfen und abzuspritzen.
Gestern, als er ’n Friedhof gefunden hatte, war er sogar noch mehr verwirrt und durchnander gewesen. War fast so, als hätt’ ihn jemand dahin geführt. Aber warum? Warum? ’n Friedhof? ’n Platz, wo die Leute aus der Welt-da-draußen annere Leute verbuddelten, wenn sie tot war’n?
Das war noch so ’ne Sache, war das. Noch ’ne Sache, die übahaupt kein’ Sinn machte!
Er hatte da geschlafen und am Morgen war er weitergegangen.
Und jetz’ saß er unterm Hickorybaum und starrte in ’n Wald, und ’ne große Kröte hüpfte vorbei, aber Bighead murkste sie nich’ mal ab. An jedem annern Tag hätt’ er auf jeden Fall den Quadder aus der Kröte rausgequetscht und aufgefuttert, aber heute nich’. Und auch wenn er keine Pussy oder ’n Kackloch gefunden hätte, hätt’ er bis jetz’ schon zwei- oder dreimal sein’ Prügel abgerubbelt.
Aber nich’ heute.
Yeah, irnkwas war komisch, und ’s wurde immer komischer. Sein Kopf fühlte sich an, als wär’ er mit Nebel voll, machte ihn ganz durch’nander und ließ ihn über Sachen nachdenken, die er übahaupt nich’ mal verstand. Scheiße, Mann, er wünschte, sein alter Grandpap wär’ noch am Leben! Bighead vermisste den stinkigen, krächzenden, weißbärtigen alten Sack und wie sein kleiner Stummel von ’nem Arm rumflatterte, wenn Grandpap sich über was aufregte. Wir sin’ alle aus ’m bestimmten Grund hier auf der Erde, Bighead, hatte der alte Mann oft gesacht. Und ich weiß jetz’, dass ich wegen ei’m ganz bestimmten Grund hier bin: um dich großzuziehn. Dafür bin ich hier auf der Erde. Und irnkwann wirst du erkennen, warum du hier bist ...
Aber das war nu mal das Problem, ne?
Wie sollte Bighead denn genau wissen, warum er hier war? Grandpap konnt’ ihm nix mehr erzähln – Grandpap war tot.
Du wirst’s wissen, Junge, wenn die Zeit reif is’. ’s wird zu dir komm’, wenn du’s am wenigsten erwartest. Grandpap hustete und spuckte ’n dicken Klumpen Schleim aus. ’s wird zu dir komm’ wie ’ne Stimme, die in dei’m Kopf flüstert ...
Da stand Bighead auf und seine nich’ auszuhaltende Gestank-Aura stand mit ihm auf. Er ging weiter. Meilenweit. Seine großen Füße stampften durch die Büsche und rissen Blätter und Zweige ab. Die Hitze kam auf ihn runter wie kräftiger Regen und nach ’ner Weile blieb er stehn.
Sein großes und sein kleines Auge starrten durch die Bäume, ohne dass er blinzelte, und da hörte er’s wieder:
Die Stimme:
KOMM.
Und da sah er’s auch:
Das Haus.
(II)
Tschink-tschink-tschink!
»Was kann ich tun, um Ihnen zu helfen?«
»Hm?« Alexander blickte etwas unwirsch über seine Schulter, bevor er zum nächsten Schlag mit der Spitzhacke ausholte. Jerrica sah gelangweilt aus und völlig nass geschwitzt, wie sie da im schwachen Lampenlicht stand. »Ich hätte Sie nicht bitten sollen, hierher mitzukommen; Sie sehen aus, als würden Sie gleich vor Hitze aus den Latschen kippen.«
»Es geht schon«, antwortete sie höflich.
Der Priester setzte die Spitzhacke auf dem Boden ab und atmete durch. Er hatte noch keinen großen Fortschritt erzielt, aber immerhin kam er mit der Spitzhacke besser voran als mit dem Vorschlaghammer. »Das wird länger dauern, als ich dachte. Wahrscheinlich werde ich hier noch einige Stunden zu tun haben. Warum fahren Sie nicht zu Annie zurück? Es bringt ja nichts, wenn wir uns hier beide gar kochen lassen.«
»Nein, ich bleibe lieber hier und warte auf Sie. Vielleicht mache ich einen Spaziergang auf dem Gelände.«
»Gute Idee, gehen Sie raus aus dieser Hitze. Ich komme bald nach.«
Er wischte sich mit seinem mittlerweile durchnässten Taschentuch den Schweiß von der Stirn.
Jerrica verschwand durch den langen Gang und die Treppe hinauf.
Was soll ich bloß mit ihr machen?, fragte er sich. Sie hat mehr Probleme, als die Dreifaltigkeitskirche Gesangbücher hat. Er würde geduldig an ihr arbeiten müssen, seinen gesamten Priester-Seelenklempner-Grips einsetzen müssen, um sie in Therapie und Behandlung zu drängen.
Die Hitze hier unten würde ihn bald komplett dehydrieren. Das Ganze war kein Spaß; er war kein junger Mann mehr, er musste aufpassen.
Tschink-tschink-tschink!, fuhr er mit der Spitzhacke fort. Mörtelstaub stob in Wolken auf, Steinsplitter stachen in sein Gesicht. Tschink-tschink-tschink!
Er machte wieder eine kurze Pause. Verdammt, Spock! Ich bin Priester, kein Presslufthammer! Er schlug auf den Rand ein, wo die neuen Steine an das alte Mauerwerk ansetzten; hier hoffte er am ehesten eine Schwachstelle zu finden.
Ich werde diese Wand einreißen, verdammt noch mal! Ich werde es schaffen!
Er wischte sich den Schweiß ab, hob die Spitzhacke und machte weiter:
Tschink-tschink-tschink!
(III)
Die Hitze war unerträglich. Selbst hier draußen, als sie hinter der Abtei entlangging, lief Jerrica der Schweiß in Strömen herunter, auf ihren feuchten Armen klebte der Staub des Kellers. Wie hielt der Priester das nur aus da unten, wo es noch heißer war, wie schaffte er es, die schwere Spitzhacke zu schwingen?
Ein hübscher, wenn auch halb zugewucherter Pfad führte vom Bergrücken herab. Leuchtende Pilze klebten wie neongelber und oranger Schorf an Baumwurzeln. Bunte Blumenköpfe stießen durch das wuchernde Unkraut. Auf halber Strecke hielt sie misstrauisch an und blickte den Pfad zurück. Die Abtei war nicht mehr zu sehen. Warum sollte sie misstrauisch sein? Warum paranoid? Der Priester konnte sie ganz sicher nicht sehen, es sei denn, er hatte Röntgenaugen, die den festen Boden des Bergrückens durchdringen konnten.
Ihre Hand berührte leicht die Tasche ihrer abgeschnittenen Jeans. Die vollgestopfte Tasche. Nein, dachte sie voller Entschlossenheit. Ich. Werde. Es. Nicht. Tun. Es brachte ja nichts. Nur ein kleines bisschen?, schlug ein anderer Teil von ihr vor. Bedenke, was du alles durchgemacht hast, um es zu bekommen. Ihr Magen zog sich zusammen, als sie sich daran erinnerte.
Nur ein kleines bisschen würde ihr doch nicht großartig schaden, oder?
Ich. Werde. Es. Nicht. Tun.
Sie musste sich ablenken, ihre Gedanken von dem Kokain wegbekommen, für das sie ihr Leben riskiert und das Sperma eines Drogendealers geschluckt hatte. Deshalb war sie ja überhaupt erst zu diesem Spaziergang aufgebrochen, aber es funktionierte nicht. Was jetzt?
Ein blendender Schimmer leuchtete ihr durch die Bäume entgegen.
Der See!
Ja! Da war ihre Ablenkung! Bei dieser Hitze ...
Sie eilte den Rest des Pfades hinunter, als verspräche die silberne Oberfläche des Sees eine vorläufige Erlösung. Im nächsten Moment stand sie am grasbewachsenen Ufer und blickte hinaus. Die Sonne brannte; das Wasser sah unberührt aus, so unberührt, dass es fast unwirklich erschien. Wenn sie in D.C. auf den Potomac River blickte, war die Realität unübersehbar. In diesem See gab es keine Verschmutzung, keinen treibenden Müll, keine Regenbogenschlieren von Ölfilmen auf dem Wasser. Der See war wunderschön. Jerrica zog sich aus.
Warum nicht?, überlegte sie. Sie wollte eine Ablenkung – hier war sie. Es war so schwül heute, dass sie kaum atmen konnte. Gab es etwas Besseres, um sich von ihren Problemen abzulenken, als ein nettes, kühles Bad? Und wer sollte sie sehen? Hier draußen im Nirgendwo?
Ihre schweißgetränkten Kleider fielen zu Boden.
Und dann ging sie seufzend in das kühle Wasser. Das Wasser wusch ihren Schweiß ab, ebenso all ihre Befürchtungen, ihre Unsicherheiten, ihre Abhängigkeit.
Es verschwand alles in dem kühlen Nass.
Ich frage mich, wie tief der See ist, überlegte sie. Schlick quetschte sich zwischen ihren Zehen hervor; sie ging weiter und genoss die einzigartige Kühle. Das Wasser wurde tiefer, ging ihr bis zum Oberschenkel, dann zum Bauch. Dann bis an ihren nackten Busen. Dann bis an ihr Kinn. Und dann ...
Was ist das?
Sie ging weiter ...
(IV)
Der Nachmittag kam mit seiner Hitze und ging wieder. Gott sei Dank kühlte es sich wieder ab. Annie hatte 30 Jahre lang Blumen auf das Grab ihrer Mutter gelegt. Höchste Zeit, dass ich es selbst mache, dachte Charity und pflückte ein paar Blumen im Wildgarten. Sie stellte einen hübschen Strauß aus Lobelien und Zitronenmelisse zusammen, eine fröhliche Kaskade aus Rot und Pink. Als Tante Annie sie gefragt hatte, ob sie mir ihr zum Friedhof gehen wolle, hatte Charity ohne Zögern zugestimmt.
»Es ist so heiß«, sagte Annie, als sie den ausgetretenen Weg entlanggingen. Sie trug einen großen weißen Sonnenhut und ein leichtes pastellfarbenes Kleid. Doch Charity bemerkte, dass ihre Tante immer wieder ihre freie Hand zum Busen hob und rieb, als würden ihre Nippel jucken. Charity trug zur Abwechslung Shorts und eine lindgrüne bauchfreie Bluse. Und ihre Tante hatte recht: Es war heiß, sogar so spät am Tag noch.
»Ich weiß gar nich’, wo Goop abgeblieben is’«, sagte Annie. »Ich hab’ ihn nicht gesehen, weder im Garten noch im Haus. Wahrscheinlich is’ er mir noch böse, dass ich ihn nach Roanoke geschickt hab’. Er weiß bestimmt, dass ich’s getan hab’, damit er Jerrica nich’ auf die Nerven geht.«
»Mach dir keine Sorgen, Tante Annie. Er wird irgendwo was erledigen, aber ...«
Charitys Gedanken kamen zum Stehen. Wie sollte sie es formulieren? Die Frage juckte sie schon die ganze Zeit wie ein Ausschlag. »Ich muss dich etwas fragen.«
»Was denn, Liebes?«
Die Sonne brannte auf Charitys Wangen. Gras knickte unter ihren Sandalen. »Ich würde gern etwas über das zweite Grab erfahren. Das anonyme Grab, auf das du vorgestern Blumen gelegt hast.«
Stille. Die beiden gingen schweigend den Weg entlang. Charity wartete, bis ihre Tante schließlich sagte: »Das ist nur ... irgendwas. Musst du dir keine Gedanken drum machen.«
Nicht gerade eine befriedigende Antwort.
Und dann wechselte Annie das Thema und sagte: »Ich kann’s gar nicht erwarten, dass Jerrica und der Pater wieder zurück sind. Ich liebe es, für andere zu kochen. Heute Abend gibt’s Flusskrebs-Stew, Buttermilch-Laugenkekse, gedünstete Kermesbeerentriebe und gestürzten Birnenkuchen zum Nachtisch. Der Pater wird es lieben.«
»Er ist ein wunderbarer Mann, nicht wahr?«
»Oh ja, ein wirklich feiner Mann Gottes.«
Doch Charity konnte sich nicht ewig mit diesem Small Talk abgeben. Sie hätte am liebsten noch einmal nach dem anonymen Grab gefragt, aber sie sagte sich, dass jetzt wohl nicht der richtige Augenblick war. Sie wird es mir erzählen, wenn sie so weit ist ...
Schließlich kamen sie am Friedhof an, sein hohes Gras leuchtete hell in der Sonne. Als sich der Weg auf die Friedhofslichtung öffnete, stolperte Charity über eine Baumwurzel und ließ ihren Blumenstrauß fallen. »Oh, ich muss sie wieder aufsammeln!«, rief sie. »Geh schon zu den Gräbern, Tante Annie, ich bin gleich bei dir.«
Ihre Tante ging weiter und schien im grellen Sonnenlicht zu verschwinden.
Charity bückte sich, um die Blumen aufzuheben und wieder zu einem Strauß zu arrangieren, und –
Hörte einen Schrei.
Sie schoss hoch, erstarrte und rief: »Tante Annie!«
Die einzige Antwort bestand in einem weiteren Schrei.
Charity rannte, trat achtlos auf die Gräber. Sie sprintete zum anderen Ende des Friedhofs, wo sie ihre Tante auf dem Boden zusammengebrochen fand.
Und sie sah noch etwas:
Das Grab ihrer Mutter und das merkwürdige anonyme Grab –
Mein Gott!
– waren aufgegraben.