ELF
(I)
Bighead war schon wieder geil und hungrich auch. War ’n langer Tag, wie er so durch ’n Wald und über die Hügel und Täler gelatscht war, und jetz’ war der Unterwald, wo Grandpap ihn großgezogen hatte, für ihn fast weiter weg wie der Mond.
Ja, der Unterwald lag jetz’ hinter ihm. War nich’ mehr sein Zuhause.
Die Welt-da-draußen – das war jetz’ sein Zuhause.
Die Sonne ging runter und nahm das schöne helle Licht aus ’m Himmel. Und wie Bighead da so langlatschte, durch Büsche und Gestrüpp und Dickicht, musst’ er an sein’ Grandpap denken und an all die Sachen, die der alte Mann ihm beigebracht hatte. Ziemlich lange hatte Grandpap ’n Auto gehabt und ab und zu is’ er losgefahrn und mit so ’ner Bauernpuppe zurückgekomm’, die er beim Anhalten oder wo gefunden hat, und so hat Bighead dann von ’n Blumen und Bienen gelernt und wie man in ’ne Fotze reinrammelt, um ’n Schuss loszuwer’n. Aber hat natürlich nie so funxioniert, wie Bighead dachte. »Verdammt, Junge!«, hat Grandpap mal gejammert, als er gesehn hat, wie Bighead ’ne Puppe kaputt vögelte. »Gott hat dir wirklich ’n Mordsgerät gegeb’n, das hat er! So dick wie Grandma Meyers Nudelholz isser! Wascheinlich wirste nie vernünftich komm’ könn’ mit so’m Hammer! Sollst eingtlich in ihn’ drin komm’ und ihn’ ’n Baby machen! Sollst sie nich’ umbring’!« Bighead war davon ganz durchnander; er wollt’ doch alles richtich machen, aber’s sah nich’ so aus, als würd’s klappen, no Sir. Sein Prügel war so dick, dass er die Puppen kaputt machte, und so sollt’s nich’ sein, sachte jenfalls Grandpap. Aber was sollt’ er machen?
Und er dachte wieder an die laute Stimme, die er gehört hatte und die gesacht hatte: KOMM. Bighead war keiner, der unbedingt ’n großartigen Sinn im Leben sah, aber er dachte sich, dass ’s nich’ schaden könnt’, auf die Stimme zu hörn. Und genau das machte er! Latschte jeden Tag viele Meilen, wusste überhaupt nich’, wo er hinging, aber er ging trotzdem. »Der Sinn des Lebens wird dich eines Tages rufen, Bighead«, hatte Grandpap erzählt, kurz bevor er starb. »Und du musst dies’m Sinn folgen.«
’n paar Hitzeblitze warn über ihm und Bighead hörte wieder die Stimme.
KOMM, sachte sie.
Und klar, Bighead kam, aber er musste dringend auch auf ’ne annere Weise komm’, ihr wisst schon, und er hatte mächtig Hunger.
Und da sah er das kleine Farmhaus ...
(II)
»’n braves Mädchen is’ mein Baby ...«
Ned kauerte in der Dunkelheit seines Zimmers und lauschte.
»Aua, Daddy!«, rief seine Schwester laut. »Das tut weh!«
»Ach, Liebling«, kam die Stimme seines Vaters. »Du musst noch lern’, dass manche Dinge im Leben eben ’n bisschen wehtun. Das is’ nix. Wirst dich schon dran gewöhn’.«
Es passierte fast jede Nacht: Daddy kam von der Farm, mit seiner großen grünen Drillmaschine oder der Heupresse, und dann setzte er sich hin und trank seinen Shine, bis der Mond rauskam. Und dann passierte es immer.
Ned war 13, Melissa zwölf. Ihre Mommy war vor ein paar Jahren gestorben, irgendein Krebs, hatte der Doktor gesagt. Und seitdem war alles nicht mehr richtig gewesen.
Ned wusste, dass es nicht richtig war, denn er hatte den anderen Kindern in der Mittelschule zugehört, und keiner von ihnen hatte von solchen Dingen erzählt. Also sagte Ned auch nichts davon, weil er nicht wollte, dass seine Freunde dachten, seine Familie wär’ nicht normal.
Aber es ging immer weiter und weiter ...
Daddy fing immer mit Melissa an. Ned sah es nie, aber er konnte es sich denken. »Es is’ Daddyzeit, Melissa«, sagte Daddy immer. Sie konnten den ekligen Shine in seinem Atem riechen. Ned wartete in seinem Zimmer, bis er an die Reihe kam. Er konnte hören, was passierte, und manchmal wurde Daddy richtig böse – dann hörte Ned das scharfe, feuchte Klatsch! So hörte es sich an, wenn Daddy Melissa ins Gesicht schlug, weil sie jammerte oder nicht gehorchte. Ned wusste es, weil er die gleiche Behandlung bekam.
»Das war’s, meine Süße«, sagte Daddy jetzt auf der anderen Seite der Wand. »Jetz’ muss ich mich nur noch für dein’ Bruder bereit machen.«
Sie weinte noch etwas, schluchzte in sich hinein. Meistens brachte Daddy Melissa zum Bluten, aber das wunderte Ned nicht, denn ihn brachte er auch zum Bluten.
»Braves Mädchen. Du bist Daddys braves kleines Mädchen. Die Schmerzen sin’ vorbei, mein Schatz. Daddy is’ fertich.«
Oh, nein, dachte Ned. Denn wenn Daddy das sagte, hieß es, dass Ned an der Reihe war.
Ned tat das Einzige, was er tun konnte: Er betete zu Gott. »›Verlasset euch auf den Herrn ewiglich‹«, sagte Pater Karpins jeden Sonntag in der Kirche, kurz bevor die Messe zu Ende war. »Glaubt an Gott und Er wird euch helfen.« Nun, Ned glaubte ja an Gott, und er betete jede Nacht, aber kein einziges Mal, seit Mommy gestorben war, hatte Gott auf eines seiner Gebete geantwortet.
Die Tür öffnete sich mit einem Klicken. Das Flurlicht stach ins Zimmer und landete auf Neds Gesicht.
»Es is’ Daddyzeit, Junge ...«
Er hatte schon lange aufgegeben, sich zu wehren; Daddy schlug ihn, wenn er es tat. »Du weißt, was du tun musst«, sagte Daddy.
Sein Ding stand vor und wippte irgendwie, als er näher kam.
»Jetzt sei ’n braver Junge und tu was Gutes für dein’ Daddy.«
Nackt und zitternd beugte Ned sich vor. Er wollte es nicht tun, aber, Gott!, er wollte nicht geschlagen werden. Daddy schlug hart zu.
»Braver Junge. So ’n braver Junge ...«
Ned hatte ihn jetzt im Mund, so wie Daddy es ihm gezeigt hatte. Er schmeckte irgendwie scharf und salzig und Ned wusste, dass das so war, weil Daddy ihn gerade erst aus Melissas Babyloch gezogen hatte. Er konnte seine Schwester im anderen Schlafzimmer schluchzen hören.
»’n guter Junge is’ mein Sohn. ’n guter Junge weiß, wie er sein’ Daddy froh machen kann.«
Ned hasste es. Nach einer Weile packte Daddy Neds Kopf und stieß mit seinem Ding feste in seinen Hals, und manchmal musste Ned dabei würgen – er konnte einfach nicht anders.
Aber das war noch nicht das Schlimmste ...
»Okay, Junge. Du weiß’, was dein Daddy will. Dreh dich um und leg’ dich auf ’n Bauch. Und zieh die Backen aus’nander.«
»Oh, Daddy! Bitte ...«
Klatsch!
Der Schlag von Daddys Handfläche in seinem Gesicht stach wie eine Biene. Eine Träne quetschte sich aus Neds Auge. Bitte, Gott, betete er. Lass es nicht wieder geschehn!
Aber Ned hatte keine Wahl, oder? Gott war offensichtlich nicht zu Hause.
Er lag auf dem Bett, auf dem Bauch, und er griff nach hinten und zog seine Pobacken auseinander. Daddy stöhnte, beugte sich in der sanften, warmen Dunkelheit vor und spuckte direkt in Neds Poritze.
»Und jetz’ sei lieb zu dei’m Daddy, Junge. Wie ’n braver Junge. So solln’s alle braven Jungs für ihr’n Daddy tun.«
Ned wimmerte. Er konnte fühlen, wie das Ende von Daddys Ding an seinem Loch rieb. Stumme Tränen flossen aus seinen Augen und nässten die Laken.
Und obwohl Gott noch nie auf seine Gebete geantwortet hatte, betete er trotzdem:
Bitte, Gott. Ich glaub’ an Jesus und den Heiligen Geist und den alten Pater Karpins, und ich glaub’ an Dich. Bitte, Gott. Hilf mir und Melissa. Ich fleh’ Dich an. Mach, dass es aufhört ...
Hörte er da ein lautes, dumpfes Geräusch? Es klang, als würde jemand Großes ins Zimmer kommen. Das Ende von Daddys Ding wollte gerade in Neds Poloch stoßen ...
Daddy machte: Arrrrrrrgh!
Und das, wovor Ned mehr Angst hatte als vor allem anderen – es hörte auf.
Daddy war plötzlich nicht mehr auf ihm und als Ned sich umdrehte, konnte er nicht viel sehen, weil das Zimmer so dunkel war. Aber er sah einen Schatten, einen riesigen Schatten, der Daddy am Kopf hochhob.
Dann wurde Daddy auf den Boden geworfen und der große Schatten stürzte sich auf ihn. Ein schlimmer Gestank war im Zimmer und ein hässliches dumpfes Geräusch, wahrscheinlich Daddys Füße, die auf den Boden hämmerten.
Dann schrie Daddy ...
Es lief Ned kalt den Rücken herunter. Die Tür schwang weiter auf und Melissa huschte herein – ihr kleines weißes Nachthemd hatte vorne einen roten Fleck –, und sie quiekte, als sie auf den Boden blickte.
»Melissa! Komm her!«, rief Ned.
Seine Schwester eilte zu ihm und er nahm sie in den Arm, um sie zu trösten. Es war so dunkel, dass er nicht richtig erkennen konnte, was passierte, aber er wusste, dass es nicht gut war für Daddy, so wie er da auf dem Boden schrie mit diesem großen Schatten auf ihm.
Melissa schluchzte. »Wer ... wer is’ das?«
»Ich glaub’, es is’ Gott«, sagte Ned und zog sie enger an sich heran. »Ich hab’ zu Gott gebetet, dass er machen soll, dass es aufhört, und das hat er! Dieser große Schatten kam rein und packte Daddy und’s hörte auf!«
»Das ...« Melissa schluckte ein Schluchzen herunter. »Das is’ ... Gott?«
»Ich ... ich weiß es nich’ genau, aber ich glaub’, ja.«
Das Zimmer dröhnte von Daddys Schreien. Es war lauter und klang schlimmer als damals, wo dem Mähdrescher der große Stein in die Trommel geraten war. Nein, Daddys Schreie klangen kaum noch menschlich.
Doch dann hörten sie auf und es gab andere Geräusche wie trockene Zweige, die zerbrochen wurden, aber sie konnten immer noch sehen, wie der dunkle Schatten sich auf Daddy bewegte, als würde er rammeln, und dann hörten sie ein Grunzen und so was wie ein Seufzen.
Dann ein anderes Geräusch, etwas knirschte, vielleicht Walnüsse, und dann ein feuchtes schmatzendes Geräusch.
Und dann stand der Schatten auf ...
Er musste bald zweieinhalb Meter groß sein, und sein Gesicht geriet genau in den Mondstrahl, der durch das Fenster hereinfiel. Und Ned und Melissa – sie sahen das Gesicht.
»Das is’ nich’ Gott!«, kreischte Melissa.
Nein, erkannte Ned, ich glaub’, das is’ er nich’.
»Gott sieht nich’ so aus! Er is ’n netter freundlicher Mann, der auf ’m Thron sitzt, und er hat langes weißes Haar und ’n weißen Bart!«
Aber was sie da sahen, war ein Gesicht, das wie nichts davon aussah. Der Kopf war größer als eine Wassermelone, und die Augen in dem Gesicht ...
Ned hätte fast geschrien.
Ein Auge war groß wie eine Grapefruit, das andere klein wie eine Weintraube. Und der Mund ... der Mund sah aus wie ein schwarzes Loch voll mit Glassplittern.
»Das is’ nich’ Gott, Ned!«, kreischte seine Schwester. »Das is’ der Teufel!«
Der Teufel? Aber das war doch Quatsch! Ned hatte zu Gott gebetet wegen Hilfe. Nicht zum Teufel.
»Es is’ der Teufel«, schluchzte Melissa. »Und er wird mit uns das Gleiche machen, was er mit Daddy gemacht hat!«
Aber Ned konnte es nicht glauben. Er wollte es nicht glauben. Nein, das kann nich’ sein! Gott würde nie so etwas Gemeines tun, oder? Er würde nicht zulassen, dass der Teufel sie in den Hintern rammelte, nachdem er Daddy gerade davon abgehalten hatte, es zu tun! Nein. Ganz bestimmt nicht! Ned weigerte sich zu glauben, dass Gott ein solcher Dreckskerl sein und so was geschehen lassen konnte!
Also tat er, was er immer tat. Er betete.
Bitte, Gott. Meine Schwester und ich, wir ham nix Böses getan. Und wir wissen, dass Du nich’ zulassen wirst, dass der Teufel uns was tut. Ich dank’ Dir mit meinem ganzen Herz, dass Du uns von Daddy gerettet hast, aber jetz’ bete ich wieder, so wie’s Pater Karpins gesagt hat. Ich bete, dass Du ’n Teufel weggehn lässt.
Der Teufel sabberte und starrte sie an und da bemerkte Ned zum ersten Mal die Größe seines Dings. Es war riesig, und ...
Oh, nein!
Es wurde wieder hart.
Es würde sie beide umbringen, das wusste Ned, als er sah, wie groß es war. Das kann nich’ sein!, dachte er wieder. Gott kann nich’ zulassen, dass das passiert!
Melissa brabbelte irgendwas. Der Schatten des Teufels kam näher ...
Bitte, Gott!, betete Ned mit fest zugekniffenen Augen. Bitte! Lass den Teufel weggehn! Ich FLEH’ Dich an!
Und dann verließ der grässliche Gestank das Zimmer. Melissa zitterte in seinen Armen.
Als Ned seine Augen öffnete, sah er, dass der Teufel das getan hatte, worum er Gott gebeten hatte.
Der Teufel war gegangen.
(III)
Scheiße, nee. Das war’n nur Knirpse, war’n das! Bighead stampfte vom Haus weg in die Dunkelheit. Hatte ’n feinen Schuss in ’n Arsch vom Alten gehabt und hatte seine Rübe geknackt und leckeres Hirn gemampft, hat er, und hatte sich orndlich ’n Bauch vollgeschlagen. Und dann war er schon wieder hart geworden. Aber als er gesehn hat, dass ’s nur Kids warn – Scheiße, nee!
Die warn so klein. Braucht’ er gar nich’ erst versuchen, die zu ficken. Scheiße, nee, so groß, wie Bigheads Hammer war, würd’ er wascheinich gar nich’ erst reinkomm’. Da konnt’ er’s gleich lassen.
Yes Sir. Schien ihm’s Beste zu sein. Und übahaupt fühlt’ er sich auch grade irnkwie ’n bisschen zufrieden. Hatte ’n guten Schuss gehabt und sich ’n Bauch mit gutem heißem Hirn vollgemampft. War Zeit, weiterzugehn.
Denn wenn’s eins gab, wo sich Bighead so richtich sicher war, dann war’s, dass er weitermusste. Hatte ’ne Mission, hatt’ er. Wusste nich’, was für eine, aber er hatte eine.
Und über ihm im großen schwarzen Himmel blitzte’s wieder wie verrückt, und wie’s so blitzte, hörte er wieder das eine Wort in seim Kopf:
KOMM.
(IV)
»Das war unfassbar!«, verkündete Jerrica. Sie saß am Tisch neben Pater Alexander, ihnen gegenüber saßen Charity und Tante Annie. Annie hatte Himbeerwein eingeschenkt und einen Teller Strauben und selbst gemachten Sirup auf den Tisch gestellt. Jerrica, die mittlerweile mehr als halb betrunken war, fuhr fort: »Diese beiden Kerle, ihr hättet sie sehen sollen. Asoziale Kotzbrocken der untersten Kategorie. Und als sie anfingen, uns anzupöbeln, hat Pater Alexander sich nichts gefallen lassen! Der bärtige Kerl hat mich angefasst und es lief mir kalt den Rücken runter. Aber eine Sekunde später flog der Typ quer durch die Bar! Pater Alexander hat ihn mitten ins Gesicht geschlagen!«
Alexander versuchte, sein Grinsen zu unterdrücken. Ja, er hatte ein paar Idioten, die es dringend gebraucht hatten, kräftig in den Arsch getreten, aber wenn er jetzt darüber nachdachte, fühlte er sich gar nicht mehr so gut dabei. Eine Bibelstelle schoss ihm in den Sinn, aus dem Matthäus-Evangelium: Denn wer das Schwert nimmt, der soll durch das Schwert umkommen. Und eine weitere, noch wichtigere: So dich jemand auf die rechte Wange schlägt, dem biete auch die andre dar. Alexander war trotz Jerricas Lobpreisung voller Selbstekel. Der Kerl hat sie angefasst, versuchte er sich zu rechtfertigen. Er hat sie berührt. Um Christi willen, er hat ihre Brust begrapscht. Ich musste doch etwas tun, oder?
Aber er fragte sich, ob Gott guthieß, was er getan hatte. Verdammt, warum habe ich nur das komische Gefühl, dass es ihm nicht gefällt?
»Das ist erstaunlich, Pater«, sagte Charity. »Ein Priester, der mit den einheimischen Raufbolden aufräumt.«
»Es war keine große Sache«, versuchte er es abzutun. »Wie es eben so läuft. Wahrscheinlich hätte ich versuchen sollen, eine andere Lösung zu finden.«
»Eine andere Lösung?«, fragte Jerrica. »Es ging um alles oder nichts. Das Gesetz des Dschungels!«
Alexander rang sich ein Lächeln ab und nickte. Ja, Süße, aber ich bin Priester. Ich gehorche einem anderen Gesetz ...
Eine kurze Gesprächspause gab ihm die Gelegenheit, das Thema zu wechseln. Gott sei Dank! Er blickte zu Charity und ihrer Tante hinüber. »Und was haben Sie beide heute gemacht?«
»Nun, Pater«, begann die schöne alte Frau, »ich dachte mir, dass es an der Zeit sei, Charity zum Grab ihrer Mutter zu führen. Sie war meine Schwester – Sissy hab’ ich sie immer genannt –, ’ne Frau, wie man sie besser nich’ findet. Ich hatte ’n schlechtes Gewissen, dass es so lang gedauert hat.«
»Oh, Tante Annie, bitte«, rief Charity aus vollem Herzen. »Es gibt keinen Grund, ein schlechtes Gewissen zu haben!«
Alexander fiel mit einem Bibelzitat ein. »Zeit bedeutet nichts«, sagte er. »›Wer kann sagen, wie viel Sand das Meer, wie viel Tropfen der Regen und wie viel Tage die Welt hat?‹ ›Was geschieht, das ist zuvor geschehen, und was geschehen wird, ist auch zuvor geschehen.‹«
Bei diesen tröstenden Worten stiegen Annie Tränen in die Augen.
Ja, dachte Alexander, als er sie betrachtete. Als sie jung war, haben sich bestimmt genug Männer nach ihr umgesehen. Eine sehr nette Frau und eine attraktive obendrein, auch noch in ihrem Alter. Manchmal konnte man es sehen, ohne jemanden genauer zu kennen: Charitys Tante war ein guter Mensch.
»Oh!«, rief Jerrica aus, nachdem sie noch einen Schluck Wein genommen hatte. »Das wird dir gefallen, Charity! Pater Alexander und ich saßen in der Bar – bevor diese beiden Kotzbrocken kamen –, und weißt du, was Pater Alexander gesehen hat?«
Charity sah sie fragend an. »Ich habe keine Ahnung ...«
»Direkt vor uns, eingeritzt in die Trennwand zwischen den Nischen. Genau das, was wir gestern auch gesehen haben! BIGHEAD WAR HIER, hat jemand geschrieben.«
»Oh Gott!«, entfuhr es Charity.
»Bighead?«, fragte Tante Annie.
»Oh, ja. Irgendjemand an der Theke hat uns von dieser lokalen Legende erzählt«, erinnerte sich Jerrica bereitwillig und mit Unterstützung des kühlen, dunklen Weins. »Es ist faszinierend. Ich kann es kaum erwarten, in meinem Artikel darüber zu schreiben. Eine ländliche Legende, ein Monsterkind, das in den Wäldern geboren wurde, ein Kannibale!«
»Sie sollten lieber über wichtigere Dinge schreiben«, schlug Annie vor. »Is’ ja nich’ nötig, unsere Gemeinde mit so ’nem Zeug zu beleidigen.«
Jerrica schien zu schrumpfen. »Oh, tut mir leid, Annie. Ich hab’ mir nichts dabei gedacht. Ich wollte nur ...«
»Is’ schon in Ordnung, Liebes. Es is’ nur meine Meinung. Wenn Sie über unser Land schreiben wollen, meine ich, sollten Sie nich’ diesen ganzen Mist dazutun.«
»Oh, das tue ich nicht, Annie, ich verspreche es«, rief Jerrica. Jesus, sie ist betrunken, stellte Alexander fest. Sie brabbelte weiter: »Wirklich, ich habe es nicht böse gemeint. Ich habe nur gedacht ...«
»Ich glaube«, unterbrach Alexander sie, »wir hatten heute einen interessanten Tag, und es wird wirklich spät.« Sie fingen an, sich gegenseitig auf die Nerven zu gehen. Es wäre am besten, jetzt abzubrechen. Er trank den Rest seines Weines, drückte seine Zigarette aus und schlug vor: »Warum gehen wir nicht ins Bett und sehen zu, dass wir etwas Schlaf bekommen?«
»Das ist eine gute Idee, Pater«, stimmte Charity zu. Annie und Jerrica nickten zögernd.
»Wir sehen uns morgen früh«, sagte der Priester. »Und was Bighead angeht, so müssen wir wohl keine Angst haben, dass er an unsere Tür klopft.«
Die Frauen lachten einmütig. Doch dann –
Tock-tock-tock!
Im dämmrigen Zwielicht des Salons fuhren ihre Köpfe herum.
Tock-tock-tock!
Jemand klopfte an die Tür.
Eine plötzliche warme Brise strömte in das Haus, als Annie die Haustür öffnete. Wer zur Hölle kann das so spät noch sein?, fragte sich Alexander. Ein später Tourist auf der Suche nach einem Zimmer? Jemand, dessen Wagen liegen geblieben war? Der Priester schielte zur Tür, Charity und Jerrica standen direkt hinter ihm. Dämmerlicht und die unregelmäßigen Peitschenhiebe entfernter Blitze machten aus der Gestalt auf der Schwelle eine stroboskopische Silhouette. Eine große Gestalt, breit, kräftig ...
»Kann ich ... Ihnen helfen?«, fragte Annie mit aufgerissenen Augen. Ihre Finger krampften sich um die Türkante.
Doch dann sah Alexander etwas an der Brust der Gestalt aufblitzen, und hinter ihr, auf der runden Auffahrt, beleuchteten weitere Blitze ein weißes Auto mit einem Signalbalken, einer Gewehrhalterung und einem Wappen auf der Tür.
Ein Cop, erkannte der Priester.
»Tut mir leid, Sie zu stören, ich weiß, es is’ schon spät«, sagte der Mann. »Ich bin Sergeant Russell Mullen, Virginia State Police.« Die Stimme sprach in der typischen breiten, schleppenden Sprechweise der Gegend. ›Police‹ klang wie ›Pouliiß‹.
»Stimmt etwas nicht, Officer?«, fragte Charity mit einer Stimme, der man nicht nur ihre Neugier, sondern auch eine gewisse Besorgnis anmerkte.
»Nun ...« Officer Mullen zögerte, eine Hand in die Hüfte gestützt. »Ich will Sie ja nich’ beunruhigen, aber ich wüsst’ gern, ob Sie hier irgendwelche verdächtigen Leute gesehn haben, äh, ich sollt’ vielleicht nich’ Leute sagen, sondern ’n Mann, ’n großen Mann, der vielleicht in Fenster reingesehn hat oder rumlungerte? ’n Fremden, der über die Straße kam? Irgendwas Ungewöhnliches?«
Sie verneinten es und nach dieser verstörenden Frage trat ein unangenehmes Schweigen ein. Die Augen des Priesters verengten sich, während die der Frauen sich weiteten.
»Es hat ’n paar Morde gegeben, Leute«, rückte der Cop endlich mit der Sprache heraus. »Kein Grund zur Besorgnis, ich will nur ...«
»Morde sind kein Grund zur Besorgnis?«, entfuhr es Jerrica.
»Na ja, Ma’am, klar sind sie das, aber diese Morde sind alle ’n Stück weiter im Süden verübt worden. Is’ ’ne weite Gegend hier und Luntville hat ja keine eigene Polizeiwache, deswegen dauert’s ’n bisschen, bis wir mit den Leuten geredet haben. Is’ nur ’ne Vorsichtsmaßnahme, um auf der sichern Seite zu sein. Sie wissen, wie die Leute hier sind, halten’s nich’ für nötig, Türen und Fenster und alles abzuschließen. Bin nur hier, um Ihnen zu raten, das zu machen.«
»Nur als Vorsichtsmaßnahme«, spottete Jerrica.
»Genau, Ma’am.«
Alexander fragte: »Können Sie uns Genaueres über diese Morde sagen, Sergeant?«
»Tja, Pater, kann ich leider nich’«, antwortete Mullen, während hinter ihm das Wetterleuchten blitzte, »weil’s vertraulich is’. Ich darf nur sagen, dass in ’n letzten paar Wochen ’n paar Frauen tot und ziemlich übel zugerichtet aufgefunden wurden. Vor allem Mädchen aus ’n Hügeln und aus ’n Bergen.«
Mädchen aus den Hügeln, überlegte Alexander. Und aus den Bergen. »Waren die Morde sexuell motiviert?«
»Äh, ja, war’n sie, Sir, äh, ich mein’, Pater.« Mullen wand sich, als wäre ihm kalt. »Die Tatorte sahn ziemlich übel aus, nach allem, was ich gehört hab’.«
»Gab es Zeugen?«
»Nich’ bis heute, Pater. Heute Abend hat der Mörder ’n Farmer in sei’m Haus angegriffen und den armen Kerl direkt vor ’n Augen seiner Kids umgebracht. Gott sei Dank hat er sich nich’ auch noch an ’n Kindern vergriffen. Und die armen Kids war’n verständlicherweise mächtig hysterisch, konnten uns keine brauchbare Beschreibung geben, außer dass der Mörder ziemlich groß war.«
Alexander fühlte sich genötigt, seiner Neugier noch weiter nachzugeben. »Gab es auch Hinweise auf sexuelle Übergriffe an diesem letzten Opfer, dem Mann?«
Mullen nickte grimmig. »Und ich fürchte, dass is’ alles, was ich über die Einzelheiten sagen darf, Pater.«
»Aber wo ist das passiert?«, fragte Charity. »Können Sie uns das wenigstens sagen?«
»Das heute? Kann Ihnen den Namen vom Opfer nich’ sagen, aber er und seine Kids lebten in ’nem alten Farmhaus gleich hinter Crick City.«
Tante Annie schien etwas erleichtert und legte die Hand an die Brust. »Das ist fast fünfzig Meilen entfernt.«
»Ja, Ma’am, Sie sehn also, wie schon gesagt, dass es wirklich keinen Grund zur Besorgnis gibt. Möchte nur, dass Sie die nächste Zeit ’n bisschen vorsichtig sind, bis wir den Kerl geschnappt ham. Sie wissen schon, wie ich gesagt hab’ – Tür’n und Fenster schließen und die Augen aufhalten.«
»Machen wir, Sergeant«, versprach Alexander, »und danke, dass Sie uns Bescheid gegeben haben.«
»Aber einen Moment mal«, mischte sich Charity ein. »Was ist mit den anderen Morden, den Frauen? Wo sind die passiert? Waren sie weiter entfernt?«
»Ja, Ma’am, war’n sie, im nächsten County, um genau zu sein.« Aber dann zögerte der Polizist wieder, trat verlegen von einem Bein aufs andere. »Und das is’ eigentlich der Hauptgrund, wieso wir die Leute um Luntville ’rum benachrichtigen.«
Alexander sah ihn fragend an. Das Ganze ergab nicht viel Sinn; es erschien ihm wie eine schlechte Einschätzung der Situation seitens der staatlichen Polizei, wie eine unnötige Überreaktion. »Das verstehe ich nicht«, sagte er. »Wenn diese Morde so weit entfernt verübt wurden, warum benachrichtigen Sie dann die Einwohner Luntvilles?«
Weitere Verlegenheit, eine weitere Pause. Der Polizist ragte als düstere Silhouette vor ihnen auf. »Die ersten paar Opfer wurden nördlich vom Boone National Forest and Game Preserve gefunden. Dann fanden wir ’n anderes in der Nähe von Stearns. Zwei weitere zwischen Bristol und Lockwood, und noch zwei zwischen Lockwood und Rocky Top.«
Annie keuchte. »Und der eine heute, der Farmer. Gleich hinter Crick City haben Sie gesagt, oder, Officer?«
»Stimmt, Ma’am«, antwortete der Polizist in noch düstererem Ton.
»Mein Gott«, sagte Charity.
Doch Alexander sah sich um und musterte ratlos die Besorgnis in ihren Gesichtern. »Ich verstehe es immer noch nicht. Was ist das Problem?«
Blitze zuckten stumm; die warme Luft bewegte sich leicht. »Sehn Sie, Pater«, begann der Polizist, »basierend auf den Fundorten der Leichen sieht’s so aus, als würde der Mörder sich in grader Linie bewegen ... direkt ...«
»... direkt auf Luntville zu«, flüsterte Charity. Und ...
»Annie!«, kreischte Jerrica.
Allgemeine Verwirrung. Was zur Hölle?, dachte Alexander, doch dann hörte er ein dumpfes Geräusch, blinzelte und sprang vor. Der Polizist eilte zu Hilfe.
Tante Annie war ohnmächtig geworden und brach auf dem Boden zusammen.