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»Jetzt nicht«, sagte Adam leise. Es war nur für Custos Ohren bestimmt.
Sie durchquerten die Halle der FBI-Außenstelle in Phoenix, meldeten sich bei dem diensthabenden Wachmann ab und traten hinaus in die teuflische Hitze. Gespickt mit Kaktusblättern und Palmzweigen schmorte die Stadt bei Rekordtemperaturen in einem Ofen aus Beton und Blei. Das gleißende Sonnenlicht brannte auf den rot gedeckten Dächern, und Adam hob die Hand, um sein Gesicht vor der Sonne zu schützen. Sie schritten auf den Mietwagen zu. Custo nahm auf dem Fahrersitz Platz.
Adam öffnete die Beifahrertür und verbrannte sich dabei die Finger – verdammt heiß –, glitt hinein und stellte das Gebläse der Klimaanlage auf arktische Temperaturen ein. Custo blickte zu ihm hinüber. In dem gedämpften Licht wirkten seine grünen Augen durchscheinend, seine kurzen dunkelblonden Haare waren schweißnass und standen wie Stacheln von seinem Kopf ab.
»Wie ist es gelaufen?«, wollte Adam wissen und zog dabei eine Wasserflasche aus dem Sechserpack zu seinen Füßen. Während Adam ihren neuesten Informanten befragt hatte, war Custo die wenig beneidenswerte Aufgabe zugefallen, die örtlichen Agenten in Sachen Geisterergreifung und -festsetzung auf den neuesten Stand zu bringen.
»Die lokalen FBI-Agenten sind skeptisch, aber informiert.« Custo lenkte den Wagen aus der Parklücke. »Anscheinend hat Homeland Security einen Bericht über das Geisterphänomen veröffentlicht, allerdings ohne ins Detail zu gehen. Die Außenstelle in Phoenix überprüft die Verbrechen der Gegend nun anhand der Faktoren, die ich aus Segue mitgebracht habe. Und bei dir?«
Adam verlieh seiner Verzweiflung mit einem Schulterzucken Ausdruck. »Der Junge behauptet, eine Frau zu kennen, auf die Talias Beschreibung passt. Er sagt, sie würde sich mit der Straßenbande an der Universität herumtreiben und wäre möglicherweise süchtig oder eine Prostituierte.«
Custos Blick verfinsterte sich. »Etwa noch eine Sackgasse?«
»Ich weiß es nicht. Der Kerl sagt, man würde die Frau nie ohne Buch sehen. Außerdem hätte sie immer in der Universitätsbibliothek herumgehangen, bis man sie hinausgeworfen habe. Er sagt, sie sei sehr redegewandt, und man könne sie für eine Studentin halten.« Adam veränderte seine Haltung. Der übermäßige Stress und die Anspannung machten ihn derart nervös, dass sich sein Körper trotz der Hitze nach einem langen Lauf sehnte. Mit grimmiger Entschlossenheit unterdrückte er seine Energie. Eins nach dem anderen.
»Er ist sicher, dass er sie gesehen hat, nur eben eine drogenabhängige Version von ihr.« Adam starrte aus dem Fenster. Der tiefblaue Himmel wurde blasser, je weiter die Sonne nach Westen glitt. Die Nacht brach herein. Ein weiterer verlorener Tag.
Zwei Monate waren seit dem Verschwinden von Talia O’Brien und ihrer Mitbewohnerin Melanie Prader vergangen. Die Familie Prader hatte überall auf dem Campus der Universität von Maryland Fotos von Melanie aufgehängt und es sogar zu einem Beitrag in den Fernsehnachrichten gebracht, in dem die Mutter des Mädchens vor der fetten Schlagzeile Haben Sie Melanie gesehen? inständig um Hilfe flehte.
Trotz all seiner Möglichkeiten hatte Adam kaum mehr erreicht. Er fahndete über den Campus hinaus im gesamten Bundesstaat, dann landesweit nach Talia und Melanie. Er suchte in öffentlichen Anstalten nach ihr, bei Sekten und in Kreisen organisierter Kriminalität, verlangte Gefälligkeiten und regte den Informationsfluss mit Barmitteln an. Auch das Internet bezog er mit ein, seine Leute trugen sich in Freundschaftslisten sowie öffentliche und private Foren ein. Verwirrende Foren.
Daraufhin war er mit Hinweisen überschüttet worden:
»Mit der scharfen Braut mit den kurzen Haaren habe ich in einer Bar in Chicago angebändelt …«
»Die Frau mit den langen Haaren sieht genauso aus wie die Vorschullehrerin von dem Kind meiner Schwester …«
»Das blonde Mädel wohnt im Keller einer Campusbibliothek. Für fünfzig Mäuse verrate ich, in welcher …«
Noch eine Sackgasse? Das konnte er nicht ertragen. Nach sechs Jahren Suche war Talia O’Brien die erste Person, die den Namen »Schattenmann« in einem Kontext benutzte, der seinem Bruder helfen konnte. Wenn sie noch lebte, würde er sie finden.
Adam zwang sich, im Präsens zu sprechen. »Talia O’Brien ist zuverlässig, solide und vertrauenswürdig. Berechenbar. Sie ist ihr ganzes Leben lang zur Schule gegangen. Ich wette, sie fühlt sich in der Nähe eines Campus am wohlsten. Wenn ein junger Kerl sie gesehen hat, haben das auch andere getan. Ich höre mich um.«
»Hätte sie sich im Winter für Arizona entschieden, wenn es hier angenehm warm ist, hätte ich das ja verstanden, aber wieso im Sommer bei dieser teuflischen Hitze?« Custo fädelte sich auf einer Schnellstraße mit der Nummer 101 ein. Der Verkehr glitt zügig über die Fahrbahn, die in dem gleißenden Licht beinahe weiß wirkte, wabernde Hitzewellen stiegen von ihr auf.
»Wenn sie hier ist, hat das einen Grund.«
Adam kannte Talia, er hatte sie genauso gründlich studiert wie sie die Gegenstände ihrer Forschung. Als Erstes hatte er Kontakt zur Universität aufgenommen, um an ihre Arbeit zu kommen. Ihre Schriften waren einfallsreich und zeichneten sich durch eine verquere Logik aus. Sie belegte ihre Behauptungen jedoch mit einer Fülle von Daten. Ihr Leben war geordnet und mit Studienzeiten und Kursen verplant, alle eingetragen in den Kalender für das laufende Semester, das sie dann nicht mehr bis zum Ende besucht hatte. Ihre Bücher waren sogar mit farbigen Aufklebern versehen. Zwei Tage hatte er gebraucht, um ihr System zu entschlüsseln, was ziemlich frustrierend gewesen war. Talia O’Brien mochte Kontrolle. Er bezweifelte stark, dass sie eine drogenabhängige Prostituierte war. Es entsprach einfach nicht ihrem Charakter, sich im Chaos zu verlieren.
Am University Drive verließen sie den Freeway und fuhren eine von Palmen gesäumte Straße am Rand des Campusgeländes hinunter. Zwei Jugendliche hingen in einem Schattenrechteck herum, das die untergehende Sonne hinter einem Gebäude bildete.
Custo drosselte die Geschwindigkeit und hielt an. Mit Talias Bild in der Hand sprang Adam aus dem Wagen. Augenblicklich trieb ihm die Hitze den Schweiß auf die Haut und trocknete ihn von innen aus.
Einer der Jugendlichen schüttelte den Kopf. Der Blick des anderen zuckte hoch zu dem Foto und zurück auf sein I-Phone. »Die kenne ich nicht.«
Vier Blocks weiter hatte sich eine größere Gruppe auf dem Parkplatz eines alten Supermarktes versammelt. Dunkelhäutige kleine Kerle, die die Schirme ihrer Baselballkappen tief ins Gesicht gezogen hatten.
»No la vi.« Die habe ich nicht gesehen.
Eine weitere Gruppe – ältere Jugendliche, zwischen denen ein paar Studenten abhingen – traf sich auf dem Parkplatz vor einem alten Einkaufszentrum. Ihre Aufmerksamkeit galt einem jungen Mann, einem Weißen mit Rastalocken. Er hielt auf einer hohen Betonmauer Hof, die den Parkplatz von den angrenzenden Geschäften trennte.
Adam versuchte es zunächst bei einem Jugendlichen von vielleicht fünfzehn Jahren. Er zeigte ihm Talias Bild.
»Nee. Die kenn ich nicht.« Krachend ließ der Junge sein Skateboard auf den Boden fallen. Auf seinem T-Shirt hatten sich weiße Schweißränder gebildet.
Adams dunkelgrünes Polohemd klebte feucht an seinem Rücken. Er hielt eine Zwanzigdollarnote hoch. »Weißt du, wo sie sich herumtreiben könnte?«
»Bist du ihr alter Herr?« Der Junge taxierte ihn, er klang viel zu zynisch und zu reif für sein Alter.
»Ihr Bruder«, korrigierte Adam. Die Beziehung zu seinem Bruder war die wichtigste in seinem Leben. Es tat ihm gut, sich bei jeder Gelegenheit daran zu erinnern.
Der Junge schnappte sich den Zwanzigdollarschein. »Vielleicht hängt sie unter der Überführung zwischen Dobson und Granite Reef ab, aber ich glaube nicht, dass sie jetzt da ist. Es wird dunkel.«
»Oi!«, schrie der Mann mit den Rastalocken von der Mauer.
Adam ignorierte ihn und wandte sich an die Gruppe. »Ich will nur meine Schwester nach Hause holen. Damit sie die nötige Hilfe erhält. Ich würde jeden Preis bezahlen, um sie wiederzufinden.«
Der Junge blickte abwartend zu Rastalocke.
»Weißt du, was das heißt?« Adam ließ nicht locker. »Das ist so viel, dass jeder von euch ein bequemes Leben führen könnte.«
Kommt schon, raus mit der Sprache.
Die Gruppe zögerte, noch waren sie nicht wirklich interessiert. Selbst in Adams eigenen Ohren hörte sich sein Versprechen, einen großen Geldbetrag zu zahlen, unglaubwürdig an, dabei hatte er jedes Wort ernst gemeint. Wer immer ihm half, Talia O’Brien zu finden, hatte ausgesorgt. Allem Anschein nach hatten diese Jungs hier nichts zu verlieren.
Rastalocke sprang von der Mauer und schlenderte auf Adam zu. Dreckige Jeans. Schwarzes Schlabber-T-Shirt. Flip-Flops. Um das dünne Handgelenk trug er eine geflochtene Kordel aus Hanf.
Er blickte auf das Bild. »Ja, die kenne ich.«
»Wo ist sie? Ich brauche genaue Angaben.« Adam wollte hier nicht seine Zeit verschwenden. Vielleicht verstand die Polizei mehr vom universitären Untergrundleben. Von Rumtreibern. Von verlassenen Gebäuden.
Rastalocke blickte zu den Bäumen hinüber, hinter denen jetzt die Sonne unterging, und runzelte die Stirn. »Komm morgen wieder. Nach Sonnenuntergang wagen sich die Tierchen raus. Ich muss meine Leute reinbringen.«
Adam horchte auf. »Die Tierchen?«
»Dämonen. Das Ende der Welt ist gekommen, Mann, aber keiner außer uns rafft das. Das Ende der Welt.« Er deutete auf den feuerroten Schein, der sich am Horizont ausbreitete. »Die Sonne geht hier schnell unter, und dann kommen die Tierchen raus. Hast du nie vom Süßen Trunk gehört?«
»Nein.«
»Das ist eine Band, Mann. In ihren Songs erzählen sie, wie es sein wird. Wie es abläuft. Das Ende der Welt. Das Ende des Todes. Es kommt mit dem Sonnenuntergang. Hör zu: Dämonen wandeln, Dämonen fressen. Rauben den Menschen, was sie brauchen. Hilf uns kämpfen. Brich den Fluch. Zuerst muss die Menschheit zerschmettern den Tod.«
»Das verstehe ich nicht«, erwiderte Adam, aber der Text trieb ihm einen Schauder über den erhitzten Rücken und erinnerte ihn irgendwie an Jacob.
Rastalocke hielt den Kopf schief. »Dann musst du das Geld wohl geerbt haben, denn ich habe es so deutlich wie möglich formuliert, und du verstehst es trotzdem nicht. Die Sonne geht unter. Wenn deine Schwester nur halbwegs bei Verstand ist, sucht sie irgendwo Schutz. Ansonsten wird sie von den Dämonen gefressen.«
»Wo könnte das sein?« Adam zückte eine Hundertdollarnote und hielt sie hoch.
Rastalocke verzog missbilligend das Gesicht und winkte ab. »Das ist das Ende der Welt, Mann. Was soll ich denn mit dem Lappen da? Oder irgendeiner von uns?«
»Es bringt euch von der Straße.« Sag mir einfach, wo.
»Ich kann mich selbst von der Straße bringen. Ich bin freiwillig hier. Ich bin hier, weil das hier echt ist. Du und dein schickes Hemd, ihr seid Mist, Mann. Du lebst in der Dunkelheit; du weißt es nur nicht.«
Am liebsten wäre Adam dem Punk an die Gurgel gegangen, aber er behielt die Kontrolle über sich und sagte mit beherrschter Stimme: »Ich will es ja verstehen. Hilf mir, es zu begreifen, damit ich sie finden kann.«
»Wenn sie in der Gegend ist, hält sie sich in einem Gebäude auf. Oder sollte es zumindest tun. Tally liebt die Gefahr. Sie traut niemandem. Ich habe ihr einen Platz in meiner Familie angeboten, aber das wollte sie nicht. Ich weiß nicht, wo sie jetzt ist.«
Adams Brust brannte, ein Gefühl, das er nicht einordnen konnte, brachte ihn um seine Fassung. Er blickte hinunter auf das Foto in seiner Hand. »Ich habe ihren Namen gar nicht erwähnt.«
»Nun, ich habe dir doch gesagt, dass ich sie kenne. Hast du mir etwa nicht geglaubt?« Rastalocke grinste und forderte seine Leute mit ausgebreiteten Armen auf, sich auf Adams Kosten zu amüsieren. Auf sein Zeichen hin taten sie es.
Solange er an Informationen kam, war Adam das egal.
»Vielleicht glaubst du mir ja jetzt, was ich dir über Dämonen und Nächte erzählt habe«, fuhr Rastalocke fort.
Adam glaubte ihm. »Wo könnte sie sein?« Bitte.
Rastalocke seufzte. »Versuch es beim Priester, Mann. Nördlich von Santa Maria. Im Berghang.«
»Priester?« Adams Herz hämmerte, aber er behielt die Kontrolle, indem er tief einatmete und die aufkeimende Hoffnung unterdrückte.
»Das sind Straßennamen, Mann. Weißt du, was eine Straße ist?«
Nur Jacob sprach in diesem herablassenden Ton mit ihm, aber Adam war zu dankbar, um sich darüber zu ärgern.
»Ich verstehe, dass ihr mein Geld nicht wollt.« Adam hielt inne und korrigierte sich. »Dass ihr euch nicht für mein Geld entscheidet. Aber es ist alles, was ich euch bieten kann. Das und meinen Dank.« Er zückte seine Brieftasche, zog die gesamten Banknoten aus der ledernen Mappe, griff ein paar Visitenkarten – die persönlichen mit seiner Mobilnummer – und streckte sie ihnen entgegen. Rastalocke rührte keinen Finger. Adam ließ alles auf den Boden fallen.
»Wenn ich irgendetwas für euch tun kann, ruft mich an. Wenn ihr mir etwas sagen wollt. Wenn ihr in Schwierigkeiten seid.« Er hob den Blick und sah die Jugendlichen an. »Das gilt für jeden von euch. Wenn eure Dämonen das sind, was ich als Geister bezeichne, werdet ihr meine Hilfe brauchen. Geht jetzt hinein.«
Adam lief zurück zum Wagen, sein Körper vibrierte vor Aufregung. Er blickte über die Schulter zurück zu dem glühenden Schein der untergehenden Sonne, dann wandte er sich zu Custo um.
Custo musste den aufgeregten Ausdruck in seinem Gesicht bemerkt haben. »Sie lebt«, folgerte er.
»Er hat von sich aus von Tally gesprochen.« Adam konnte kaum reden, so laut surrte es in seinen Ohren.
»Wo?«
»Priester und Santa Maria.«
»Eine Kirche?« Custo tippte schnell in das Navigationssystem des Mietwagens.
»Straßennamen, Mann.«
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Talia sah verschwommene schwarze Punkte. Wenn sie den Blick nach links richtete, glitten die Punkte nach links. Richtete sie ihn nach rechts, glitten die Punkte dorthin. Egal, wie sehr sie sich bemühte, sie schaffte es nicht, einen der Punkte zu fixieren. Ein nerviges Spiel. Wie früher bei diesem Kinderspiel, bei dem man versuchen musste, den Ball zu fangen, den sich zwei andere zuwarfen. Nur noch frustrierender, weil dieser Zeitvertreib – denn das war der einzige Sinn – das intensive Pochen hinter ihren Augen noch verstärkte. Widerlich.
Sie machte einen Augenblick Pause und konzentrierte den Blick auf das seelenverschlingende Monster am Eingang der Gasse. Talia saß am anderen Ende in einer Falle aus Betonmauern und Bürgersteig. Der riesige brutale Kerl blockierte den Weg von der Gasse mit den Mülleimern zu ihrem Wohnblock. Er wartete dort auf sie, wie bereits in Denver und dann in Las Vegas. Jedes Mal hatte er sie gefunden.
Aber dieses Mal hatte sie ihn zuerst entdeckt und war deshalb lieber in eine unbekannte Gasse abgebogen, anstatt durch das Tor zu gehen, das zu der ungepflegten Rasenfläche in der Mitte des Wohnblocks führte. Dort hatten ein paar junge Mädchen Stühle für ein Sonnenbad aufgestellt. Zu dumm, dass sie sich die Haut ruinierten und ihr dadurch den Fluchtweg versperrten. Doch sie durfte das Monster nicht zu jungen Leuten führen, die vor Lebenslust nur so strotzten. Nicht nach Melanie. Deshalb die Gasse.
Seit eineinhalb Tagen saß sie hier fest und roch schon genauso widerlich wie der Müll. Nur gut, dass ihr Schattenschild mehr als nur Licht abschirmte, sonst hätte das Monster sie gleich am ersten Tag entdeckt. Durch den dunklen Umhang war sie kaum wahrzunehmen; nicht nur ihre Gestalt, auch Geruch und Geräusche verschwanden unter seinen Falten. Bis auf ihren Puls war sie ein unsichtbarer Geist.
Talia hob ihre schwere, geschwollene Zunge an den Gaumen, um zu schlucken. Ein frustrierender Reflex, denn sie hatte nichts als klebrige, zähe Spucke zu verarbeiten, und die Bewegung brannte in den Lungen.
Eineinhalb Tage. Früher oder später musste etwas passieren.
Auf Händen und Knien kroch Talia über den heißen Asphalt zu einer schlaffen gelben Matratze, die an der Mauer der Gasse lehnte. Schon von dieser kleinen Anstrengung raste ihr Herz, und das Pochen in ihrem Kopf wurde noch heftiger. Aber das war es wert. Ihre seltsamen Schatten fielen in dem Licht der untergehenden Sonne nicht auf und gaben ihr Gelegenheit, sich an der muffigen, aber weichen Matratze etwas auszuruhen.
Kaum hatte sie den Kopf gegen das Polster gelehnt, drehte sich die Welt um sie herum und verschwamm vor ihren Augen, ihre Ohren sausten, und Bewusstlosigkeit überkam sie. Sie wehrte sich dagegen. Blinzelte heftig. Schüttelte den Kopf. Und zwang sich, sich auf die Welt zu konzentrieren. Ihr Blick zuckte zu dem Monster.
Der Mann hatte sich von der Mauer abgestoßen und sich umgedreht, damit er ganz in die Gasse hineinsehen konnte, wobei er die Nase in die Luft reckte und mit suchendem Blick Witterung aufnahm.
Talia fixierte den Mann, der sie gewittert haben musste, mit weit aufgerissenen, trockenen Augen und griff nach ihren Schatten. Sie schlang die dunklen Schleier fest um sich, damit der Schutzschild nicht noch einmal verrutschen konnte.
Nicht ausruhen. Kopf hoch.
Das Monster schritt die gesamte Gasse ab und blieb an dem Durchgang zu dem Wohnblock stehen. Es hob erneut die Nase, dann bewegte es sich weiter auf die Ecke zu. Es riss die Matratze von der Wand und schwenkte sie über Talia hin und her. Sein Hosenbein streifte ihre Wange.
Sie hielt die Luft an. Wenn sie sterben musste, brauchte sie ohnehin keinen Sauerstoff mehr. Atmen und sterben. Nicht Atmen und vielleicht sterben. Jede Entscheidung fiel wesentlich leichter, wenn man an ihr das logische Denken übte.
Die Matratze kippte um und fiel auf die Seite, während das Monster an ihr vorbei zu seinem Posten am Ende der Gasse zurückging.
Talia hielt sich mühsam aufrecht, die schwarzen Punkte vor ihren Augen wuchsen und verschleierten ihren Blick. Ihr Kopf dröhnte, und ihr wurde übel.
Okay, atmen. Ein. Aus. Noch einmal.
Sie konnte sich nicht länger auf den Beinen halten. Die Schwerkraft, die Müdigkeit und die letzten Fetzen des flamingofarbenen Sonnenuntergangs zwangen sie auf den Boden. Sie hielt die Augen geöffnet.
Nur noch ein bisschen durchhalten. Atme.
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Adam und Custo hielten an einer stark befahrenen Kreuzung. Autos mit grellen Scheinwerfern, aus deren geöffneten Fenstern Musik dröhnte, rauschten an ihnen vorbei. Langsam senkte sich die Dämmerung über die Wüste, und in die Abgase mischte sich der süße Duft nachts blühender Pflanzen. Custo hielt am Straßenrand. Adam sprang aus dem Wagen, während Custo mit konzentrierter Miene in sein Mobiltelefon lauschte und auf einen detaillierten Polizeibericht über die Gegend wartete.
Adam musterte die Anlage der Kreuzung. Energie, Angst und Anspannung, die sich den ganzen Tag über in ihm aufgestaut hatten, wichen dem sicheren Gefühl, dass sie irgendwo hier war. In seiner Brust loderte ein Feuer.
Im Norden drängten sich kleine einstöckige Häuser gegen hohe Wände aus Schlackenbeton. Die Gebäude endeten abrupt und machten etwas Platz, das wie eine Ansammlung alter Lagerräume wirkte. An der anderen Ecke stand eine verlotterte Tankstelle. Im Osten befand sich ein vier- oder fünfstöckiges Bürogebäude. Dahinter ein Wohnblock. An der Seite des Hauses prangte in großen Lettern der Schriftzug BERGHANG.
Das ist ein Wohnblock, Mann. Rastalocke war ein arroganter Mistkerl.
Adam lotste Custo mit einer Geste in Richtung Eingang. »Such du den zuständigen Wachmann.«
Custo nickte und lief im Laufschritt über den aufgesprungenen Bürgersteig auf den Haupteingang des Gebäudekomplexes zu.
Adam wählte einen hinteren Zugang, denn er wollte noch rasch das Gelände überprüfen, bevor das letzte Tageslicht verschwunden war. Es stellte sich heraus, dass das eine große Gebäude in Wahrheit aus vier einzelnen Häusern bestand. Sie waren um eine vertrocknete Rasenfläche herum angeordnet, die er mit großen Schritten passierte. Zu seiner Linken rauschte der Verkehr, die Autos rasten mit unverminderter Geschwindigkeit über die Kreuzung. Zu seiner Rechten lag hinter einem verrosteten, quietschenden Tor eine dunkle Gasse.
»Ist da jemand?« Einen Augenblick hielt er die Luft an, sein Herz hämmerte laut dröhnend in seinem Kopf. Nichts. Er musste nachsehen, aber er wünschte, er hätte eine Waffe mitgenommen. Das Gerede von den gefräßigen Dämonen machte ihn nervös.
Adam tastete sich in der Dunkelheit voran. »Hallo?«
»Leise«, zischte jemand.
Langsam gewöhnten sich Adams Augen an die Dunkelheit; sie wandelte sich in ein dichtes Grau. Eine junge, schmutzige Frau saß zusammengesunken zwischen dem Müll auf dem Boden der Gasse. Ihr weißes Gesicht schien nur aus Augen zu bestehen.
Zwei Monate hatte er nach ihr gesucht, hatte auf Bildern ihr Gesicht studiert, damit er sie sogleich erkannte, wenn er sie fand. Ihm war jede Linie ihres Gesichtes vertraut. Es gab kein Vertun. Diese schräg stehenden glasartigen Augen. Der Schwung ihres Kinns. Die gerade, schmale Nase. Das war Talia O’Brien.
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Das Monster glitt vorwärts und war mit einem Schritt bei seiner Beute, einem Mann, der die Gasse hinunterschlich, um ihr zu helfen.
Der gute Samariter würde sterben. Seit Melanies Tod hatte Talia das mehrfach miterleben müssen: diese unmenschliche Kraft, diese gemeinen Zähne, der Kuss. Dann das finstere, widerliche Ziehen, wenn das Monster dem Menschen den Lebensgeist herausriss.
Sie durfte das nicht zulassen, vor allem nicht jetzt, wo alles zu Ende ging.
In Talia regte sich etwas, aber nicht etwa ihr lethargischer Körper, sondern etwas tiefer in ihrem Inneren. Mit letzter Kraft warf sie einen rettenden Schleier aus, mit dem sie die Gestalt des Mannes verhüllte und ihn so vor dem Monster verbarg. Sie schützte ihn mit ihrem Umhang.
Ihre Schatten umfingen ihn, und sie erkannte seine Gestalt. Dunkle, kurz geschnittene Haare. Wache helle Augen in einem hageren Gesicht. Gut trainierter Körper, groß und kräftig. Flacher Bauch, lässige Hose mit Gürtel. Das Polohemd saß perfekt über dem muskulösen Brustkorb und seinen Schultern.
Außerdem konnte sie tief unter ihren Schleiern in das Innere des Mannes sehen. Er leuchtete von innen heraus. Vor Entschlossenheit und Willenskraft. Das Licht erfüllte jede Zelle seines Körpers mit pulsierendem Leben und intelligenter Kraft.
Mit Geist. In Talia erwachte Ehrfurcht und schnürte ihr die Kehle zu. Er war so schön. Zu schön, um von dem grauenhaften Wesen verschlungen zu werden.
Talia schluckte schwer und wagte einen neuen Versuch. »Bitte, seien Sie still.«
»Talia O’Brien?«
Die Verzweiflung schnürte ihr die Luft ab. Wenn er nicht mithalf, konnte sie ihn nicht retten. Ihre Schatten allein reichten nicht.
Talia konzentrierte sich auf ihren Körper. Sie legte die Hände flach auf den Asphalt und stemmte sich hoch. Ihr war schwindelig; die Welt schwankte gefährlich aus ihrer Achse. Sie stellte einen Fuß auf, holte tief Luft, schüttelte sich und stürzte sich nach vorn.
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Adam versuchte es noch einmal. »Talia?«
Er trat vor und streckte in einer universell verständlichen Friedensgeste die Arme zur Seite aus. Er wollte sie nicht ängstigen.
Talia stürzte aus der Hocke nach vorn. Noch bevor er vor Überraschung nach Luft schnappen konnte, hielt sie ihm mit ihrer heißen Hand den Mund zu.
»Sie müssen jetzt still sein.« Ihre Stimme klang rau und eindringlich, war kaum zu verstehen.
Wieder versank die Gasse in Dunkelheit. Er blinzelte heftig, aber sein Blick wurde nicht klarer. Er konnte nichts erkennen. Seine Sinneswahrnehmung schien plötzlich eingeschränkt, nur den Druck ihrer Hand auf seinem Mund spürte er deutlich.
Sie drängte sich gegen ihn, und er ließ sich von ihr zurückstoßen. Er stolperte über den Müll in der Gasse, worauf seltsam verzerrt ein metallisches Geräusch ertönte. Dann stieß er gegen eine harte Fläche, die Mauer eines Gebäudes. Er hob das Kinn, um sich vorsichtig und ohne Gewalt von ihr zu lösen. Aber sie hielt ihn weiter fest und presste die Hand auf seinen Mund.
Ganz in der Nähe hallten Schritte auf dem Asphalt. Ein oder zwei Leute kamen auf sie zu. Noch ein Schritt, schwer, mit einem Echo. Vermutlich war es doch nur eine Person. Wahrscheinlich ein Mann.
Adam legte den Arm um Talias Taille. Nur ganz leicht und sanft berührte er ihren Rücken. Sie war klein und viel zu dünn. Die Hitze ihres Körpers strahlte so intensiv durch ihre Kleidung, als würde er einen Lichtstrahl halten. Sie verströmte einen strengen, intensiven, aber weiblichen Geruch. Wahrscheinlich hatte sie seit Tagen nicht mehr geduscht.
Er zog sie nicht an sich, aber um dem anderen Mann klarzumachen, dass sie ihm gehörte, umschlang er sie deutlich besitzergreifend. Jetzt, wo er sie gefunden hatte, würde er sie auf gar keinen Fall wieder gehen lassen.
»Komm, Kitty, komm, mein Kätzchen.« Die Singsangstimme des Mannes verdoppelte sich, und seine Worte hallten bedrohlich von den Gebäuden wider.
Als Adam begriff, dass Talia versucht hatte, ihn zu warnen, krampfte sich sein Magen zusammen. Der Mann war ein Geist. Ein hungriger Jäger.
Er brauchte eine verdammte Waffe.
Kalter Hass wandelte sich in Entschlossenheit und verdrängte alle Gefühle, die ihn jetzt nur ablenkten. Es war nicht der Moment, ängstlich oder panisch zu sein. Er musste handeln.
Heftig riss er Talia an sich und legte schützend einen kräftigen Arm um ihre Taille. Mit der freien Hand suchte er ihr Handgelenk und zwang sie, sein Gesicht loszulassen.
Sie wehrte sich, aber es kostete ihn nicht viel Anstrengung, ihren Arm nach unten zu drücken.
Mit dem Mund nah an ihrem Ohr flüsterte er: »Bleiben Sie hinter mir. Wenn Sie wegrennen, kann ich Sie nicht schützen.«
Im Dunklen konnte er sie auch nicht besonders gut beschützen. Wieso griff der Geist nicht an? Die Dunkelheit hätte Jacob nicht eine Sekunde abgehalten.
»Er ist ein Monster.« Ihre Worte strichen sanft über sein Kinn.
»Ich weiß«, murmelte er. »Ich lasse nicht zu, dass er Ihnen etwas tut. Wir müssen nur irgendwie zu meinem Wagen kommen.«
Adam drehte sie so, dass er schützend vor ihr stand und sie mit seinem Körper gegen die Wand drückte. Mit Talia in seinem Rücken wandte er sich der Dunkelheit zu.
Direkt neben ihnen krachte Glas auf den Asphalt.
Langsam ging Adam in die Hocke, bis er den groben Beton unter den Fingerspitzen spürte. Er tastete sich mit der Handfläche vorsichtig nach vorn, bis er mit den Fingern auf einen Gegenstand stieß. Dann strich er mit der Hand an dem heißen Metallstück entlang und identifizierte es als vernietetes Rohr.
»Miezekatze«, rief der Geist. »Hier entkommst du mir nicht.«
Mit dem Rohr in der Hand richtete Adam sich auf. Er konnte den Geist nicht lange aufhalten. Nicht allein. Wo zum Teufel war Custo, wenn er ihn brauchte? Egal. Adam würde jetzt nicht versagen. Nicht, wenn er so kurz davorstand, an Informationen zu kommen.
»Er kann Sie nicht sehen. Nutzen Sie die Dunkelheit«, flüsterte Talia hinter ihm.
Ihr Vorschlag ergab keinen Sinn. Es sei denn, dieser Geist hatte einen Defekt. Die Sinne von Geistern waren viel schärfer als die der Menschen. Die Frau wusste nicht, womit sie es zu tun hatte.
Adam machte sich bereit. Er musste nur an dem Geist vorbei auf die Straße gelangen. Einen Angriff in der Öffentlichkeit würde der Geist nicht wagen, denn dadurch riskierte er, entdeckt zu werden. Straße und Licht. Custo und der Wagen bedeuteten Sicherheit.
Er tastete hinter sich nach Talia, ergriff ihre Hand und signalisierte ihr Bleib bei mir. Als er zur Seite trat, zog er sie mit sich, aber sie blieb an der Wand stehen.
Das war kein guter Augenblick, sich zu widersetzen. Nun gut, dann eben mit Gewalt. Adam ließ ihre Hand los und umfasste stattdessen ihre Taille. Wenn es sein musste, würde er sie mit sich schleifen.
Dann wurde die Gasse auf einmal von Licht erhellt, und ihr Körper sackte bewusstlos gegen ihn.
Der Geist stand zehn Fuß von ihnen entfernt; kräftig gebaut und aggressiv bewegte er sich übertrieben geziert. Er war blass und durchscheinend und wirkte verzückt, als würde er sich bereits auf seine Nahrung freuen.
Adam ließ Talia auf dem Boden in sich zusammensacken und holte das Rohr hervor.
Der Geist wirbelte zu ihm herum und kreischte laut und hoch wie ein altes Weib. Dann stürzte er sich nach vorn.
Adam schwang herum und versetzte ihm einen kräftigen Schlag.
Allerdings zu tief. Er erwischte den Geist mit dem Rohr am Kinn. Der Aufprall überraschte ihn zwar, setzte ihn aber nicht außer Gefecht.
Der Geist holte mit dem Arm Schwung und hämmerte gegen Adams Brust.
Adam wurde zurückgeschleudert und donnerte über Talias schlaffem Körper gegen die Wand. Als die gesamte Luft mit einem einzigen Stoß aus seinem Körper gepresst wurde, kreischten seine Lungen. Die heftigen Schmerzen sorgten dafür, dass ihm für einen Augenblick der Atem stockte. Adam fiel auf Talia, rollte zur Seite ab und sprang auf die Füße. Er umklammerte das Rohr. Holte erneut Schwung. Hämmerte das Metall krachend auf den Nasenrücken des Geistes und taumelte zurück, um Talia zu schützen.
Das zertrümmerte Gesicht des Geistes blutete, die Augen waren tief in die Höhlen gesunken, die Pupillen verdreht. Bis zur Heilung der Wunden konnte er nichts sehen.
Mach schon. Befahl Adam sich selbst. Er ließ sich auf alle viere nieder, umklammerte mit beiden Händen das Rohr und hockte sich schützend über Talia.
Der Geist holte blind aus und traf die Mauer dort, wo Adam bis gerade gestanden hatte, Putz rieselte auf seinen Rücken herab.
Adam umklammerte seine Waffe, holte mit dem ganzen Körper Schwung, fuhr herum und stieß dem Geist das Rohr in den Bauch. Das Metall bohrte sich tief in den Körper und blieb an den Rippen hängen. Es fühlte sich widerlich an.
Das Monster kreischte erneut. Es erwischte Adam an Gürtel und Kragen und hievte ihn von Talia herunter. Das Polohemd riss unter Adams Gewicht und hinterließ dabei eine brennende Spur an seinem Hals. Der Gürtel hielt. Der Geist wirbelte ihn daran durch die Luft und schleuderte ihn quer durch die Gasse, bis er mit dem Kopf zuerst gegen die Wand krachte.
Blinder Schmerz erschütterte Adams Nacken und schoss durch seinen Kiefer. Seine Ohren sausten, salziges Blut floss in seinen Mund. Aber der Haufen, auf dem er landete, war weich. Wieder lag er auf Talia.
Adam stützte sich an der Mauer ab, trat mit einem Bein nach hinten aus und brachte den Geist aus dem Gleichgewicht.
Zwei laute Schüsse hallten durch die Nacht.
Custo. Endlich.
Geister körperlich außer Gefecht setzen zu wollen, war absurd. Sie waren zu stark und erholten sich zu schnell, als dass man sie töten konnte. Das hatte Adam durch Jacob vor langer Zeit schmerzlich lernen müssen. Zumindest würden ihn die Kugeln aber einen Augenblick irritieren.
Der Geist krachte rückwärts in zwei hohe Plastikmülltonnen. Er ruderte mit den Armen, riss einen Deckel herunter und schleuderte ihn gegen die Mauer, von der er abprallte.
»Ich bringe sie zum Wagen«, rief Adam. Sein Kopf pochte. Zähe, warme Flüssigkeit tropfte in sein rechtes Auge.
Custo antwortete, indem er dem Geist zwei weitere Kugeln in den Körper jagte. Das Monster zuckte noch.
Adam hob Talia hoch auf seine Arme und bog um die Ecke des Gebäudes. Eine bunte Menschenmenge starrte in die Gasse. Mehr als einer der Schaulustigen hatte sein Telefon aufgeklappt. Um Hilfe zu rufen oder den Kampf auf Video festzuhalten?
Adam konnte jetzt nicht darüber nachdenken, was geschah, wenn die Entdeckung des Geistes eine Panikwelle auslöste. Alles, was zählte, war Talia.
Der Wagen stand hinter den Gaffern an der Straße. Mit der Schulter bahnte sich Adam einen Weg durch die Menge und humpelte auf das Fahrzeug zu. Er verlagerte Talias Gewicht auf eine Seite, um die Hintertür zu öffnen, dann legte er sie behutsam auf die Rückbank.
»Halten Sie sich von der Gasse fern«, schrie Custo den Menschen zu. Er raste durch die Menge, während Adam hinten über Talia hinwegkletterte – vorsichtig jetzt – und die Tür zuschlug.
Custo nahm auf dem Fahrersitz Platz, stieß den Schlüssel in das Zündschloss und raste von der Kreuzung.
»Wie schlecht steht es um sie?«, fragte Custo.
Mit dem Hemdsärmel wischte sich Adam das Blut von der Stirn. Die Wunde brannte, aber das war ihm egal. »Ich weiß es nicht. Der Geist hat sie nicht berührt, aber sie ist verbrannt. Sie hat mindestens einen Hitzschlag.«
»Krankenhaus?«
Adam tastete an Talias Hals nach ihrem Puls. Er betrachtete ihre blonden Haare, die jetzt in gräulich braunen Strähnen herunterhingen, und ihr schmales, verschmutztes Gesicht. Sie hatte ganz offensichtlich die Hölle durchgemacht und sich nicht den Gesetzeshütern anvertraut. Bestimmt gab es dafür Gründe. Diese Frau war ganz eindeutig vernünftig.
Zwei Monate war sie verschwunden gewesen. Wahrscheinlich hatte man sie zwei Monate lang gejagt.
Im Rückspiegel glitten die roten und blauen Lichter der Polizei über Custos Gesicht.
Es war besser, sicherer, sie zurück nach Segue zu bringen. Ein Glücksspiel, klar, aber sie hatte schon so lange überlebt, sie musste nur noch ein bisschen durchhalten.
»Zum Flughafen«, entschied Adam. »Wir werden sehen, was wir vor dem Start für sie tun können. Aber wir dürfen keine Zeit verschwenden. Dieser Geist ist sicher nicht der einzige.«